Voller Freude erfährt ein Paar, dass es Eltern wird, ein «Kind bekommt».
Die Frau erlebt in der Schwangerschaft, wie sich ihr Körper verändert. Ihr Körper umhüllt das ungeborene Kind, nährt und schützt es. Das Kind ist im Bauch seiner Mutter. Ohne menschliches Zutun haben sich Zellen geteilt, Organe entwickelt, hat sich ein Leib geformt. Über dieses Wunder bleibt uns eigentlich nur zu staunen. Die Frau ist auf dem Weg zum Muttersein, das Paar bereitet sich vor, das Kind in seine Mitte zu nehmen, vom Paar zu Eltern zu werden, mit ihrem Kind eine Familie zu sein.
Diese Worte erreichen Sie alle hier heute unterschiedlich:
Vielleicht lesen Sie mit Ihrem Vaterherz und erinnern sich, wie das war, als Sie erfahren haben, dass Ihre Frau schwanger war. Sie Ihr erstes Kind bekommen haben. Vielleicht lesen Sie als Grossmutter und erinnern sich, wie Sie gebangt gewartet haben auf das Telefon, wo es dann hiess: «Es ist geboren, es ist alles gut gegangen!» Vielleicht berühren diese Worte Ihre Sehnsucht, weil Sie gerne Mutter und Vater sein würden …
Und vielleicht wecken meine Worte die Gefühle von Enttäuschung, Schmerz und Trauer, weil Sie selber schwanger waren und in den ersten Wochen der Schwangerschaft eine Fehlgeburt erlebt haben und das kleine Wesen, das kleine Kind, nach ein paar Wochen bereits wieder gegangen ist.
Als Hebamme erlebe ich immer wieder diese grosse Freude mit, wenn ein Kind zur Welt kommt. Dieses grosse Staunen, die Überwältigung und das Berührt-Sein aller Beteiligten. Dieses Wunder des Lebens.
Schon früh habe ich jedoch erfahren, dass Hebamme sein immer heisst, an beiden Seiten des Lebens zu arbeiten – beim Zur-Welt-Kommen und Leben schenken sowie beim Gehen von dieser Welt, beim Sterben. Ich war erst ganz frisch Hebamme, als sich in der Nacht ein Paar mit Wehen gemeldet hat. Sie sind auf die Geburtsstation gekommen, und ich habe die Herztöne des Kindes gesucht. Ich erinnere mich noch heute daran, als wäre es gestern gewesen. Ich habe die Herztöne des Kindes nicht gefunden.
Aus freudiger Erwartung und grosser Hoffnung der Eltern wurde von einer Sekunde auf die andere grenzenlose Enttäuschung, Schmerz und Trauer.
Das Kind war im Bauch der Mutter gestorben. Gestorben, bevor es «richtig» gelebt hat.
Wir alle, die dabei waren, sind überfordert gewesen in dieser Nacht. Was jetzt sagen? Was könnte helfen? Wie den Eltern in ihrem Schmerz begegnen? Wie das alles aushalten?
Was bedeutet es für die Eltern, wenn das eigene Kind stirbt, im Mutterleib, bei der Geburt oder in der Zeit danach?
Wenn das Kind stirbt, bevor es «richtig» gelebt hat, dann haben die Eltern und Familienangehörigen keine gemeinsame Geschichte. Sie haben keine gemeinsamen Erfahrungen gemacht. Sie haben keine Familienfotos, sie haben nie einen Geburtstag zusammen gefeiert, keine Erinnerungen an gemeinsame Spaziergänge oder Ausflüge.
Was bleibt den «verwaisten» Eltern? Viele Eltern erzählen, dass sie sich sehr einsam fühlen. Sie sind Eltern eines verstorbenen Kindes und von aussen kommt keine Bestätigung dieses Elternwerdens. Sie werden nicht als Mutter und Vater wahrgenommen, weil da kein lebendes Kind ist. Und trotzdem sind sie Eltern geworden.
Was für Schutzräume würde es da brauchen, damit Eltern sich als Eltern erleben können? Damit sich auch die Grosseltern als Grossmutter und als Grossvater erleben können? Als Bruder und Schwester des verstorbenen Kindes?
Wenn eine Frau schwanger wird, dann ist die Spur ihres Kindes gelegt. Auch dann, wenn das Kind stirbt. Egal, in welcher Schwangerschaftswoche das passiert, egal, ob die Frau sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden hat, eine Fehlgeburt hatte oder das Kind rund um die Geburt stirbt. Es ist ihr Kind, und ihr Kind wird es immer bleiben.
So Vieles war vorgesehen für ihr Kind. Die Eltern hatten Visionen und Bilder. Sie waren bereit, ihrem Kind für den Rest ihres Lebens Eltern zu sein. Wenn ihr Kind stirbt, haben die Eltern nur ganz wenig Zeit. Häufig sehen die Eltern ihr Kind nach der Geburt nur für ein paar Stunden. Ich ermutige die Eltern, sich Zeit zu lassen für die Begrüssung und fürs Abschied-Nehmen. Eine Mutter hat mir erzählt, dass sie während der Schwangerschaft ihrem Kind im Bauch immer ein ganz bestimmtes Lied gesungen habe. So hat sie dies auch getan, als ihr Sohn tot auf die Welt kam. Sie hat ihm nach der Geburt und in den Tagen danach immer wieder dieses Lied gesungen. Das waren ihre kostbaren Momente, dies mit ihrem Sohn zu erleben, Erinnerungen zu schaffen in dieser kurzen Zeit für das ganze weitere Leben als Mutter.
Geburt und Tod – Ereignisse, die den Rahmen des Ordentlichen sprengen. Sie verlangen nach geschützten Räumen: Damals in der Nacht, als diese Eltern zur Geburt kamen und festgestellt wurde, dass ihr Kind nicht mehr lebt, bin ich bei den Eltern geblieben, im Zimmer, ohne viel zu sagen, da es nichts zu sagen gab. Der grosse Schmerz war sicht- und spürbar. Ich habe mit den Eltern ausgehalten, was eigentlich nicht auszuhalten ist. So wurde es möglich, dass diese Eltern Raum bekommen haben. Für ihren Schmerz, für all die aufkommenden Gefühle. Einen geschützten Raum, um nicht sofort in diesem Schock ins Handeln zu kommen. Einen geschützten Raum, der wieder Halt geben konnte, der Begegnung ermöglichte, zwischen den Eltern und ganz langsam auch wieder Begegnung mit dem Kind im Bauch, das nicht mehr gelebt hat.
Geburt und Tod – sie verlangen nach geschützten Räumen, auch geschützte Räume für die verstorbenen Kinder. Was passiert mit den viel zu früh verstorbenen Kindern?
Wo kommen zu früh verstorbene Kinder hin?
Noch vor zehn Jahren war es keine Selbstverständlichkeit, dass Eltern ihre früh verstorbenen Kinder bestatten konnten. Es gab praktisch nirgendwo in der Schweiz Orte für diese Kinder. In einigen Gemeinden sind in den letzten Jahren Gedenkstätten für frühverlorene Kinder entstanden. Dies aus dem Bedürfnis heraus, sichtbar zu machen, dass diese Kinder hier waren und Spuren hinterlassen haben. Dass es Zeichen gibt, die auf ihre Anwesenheit hinweisen. Diese Gedenkstätten sind ebenfalls geschützte Räume.
Auch hier in Köniz gibt es seit 2011 einen solchen geschützten Ort. Das Gemeinschaftsgrab für «Engelskinder», eine Gedenkstätte für frühverstorbene Kinder, wurde realisiert. Ich habe ein Paar begleitet, das zuerst nicht wollte, dass ihr Kind bestattet würde. Ich habe den Vater gefragt, wieso er das nicht wolle. Er hat mir erzählt, er habe grosse Angst, dass der Schmerz noch schlimmer werde, wenn er einen konkreten Ort habe, wo sein Kind begraben sei.
Ich habe ihn darauf gefragt: «Kann der Schmerz denn noch schlimmer werden?» Die Antwort kam sehr schnell: «Nein, das kann er nicht!» Diese Eltern sind jetzt ganz fest dankbar, dass sie einen Ort haben, wo sie zu ihrem Kind hingehen können.
Eine Gedenkstätte, wie diese hier in Köniz, ist so ein geschützter Raum. Hier wird ermöglicht, Abschied zu nehmen. Den Eltern von ihrem Kind. Den Geschwistern, Grosseltern, Freunden und Nachbarinnen. Diese Gedenkstätte ermöglicht Orientierung und Halt. Ein Ort, wo Begegnung mit dem Schmerz erlebbar wird. Wo wir einander zumuten, dass es nichts gibt, um das Ganze weniger schlimm zu machen. Wo wir miteinander aushalten, was nicht zu ändern ist. So, dass plötzlich auch Raum entstehen kann für ganz Zartes, Schönes, Kostbares.
Ein Vater, dessen Tochter kurz vor der Geburt gestorben ist, hat mir gesagt, dass ihn mit ihr neben Schmerz und Trauer ganz viel Schönes, Freudiges verbindet. Er hat sich während der Schwangerschaft so gefreut auf seine Tochter, hatte viele Bilder und Visionen. Er hat mir gesagt, dass er nicht möchte, dass nur traurige Bilder bleiben und alles grau ist. Seine Tochter habe so viel Leben und Freude zu ihm gebracht, er sehe auch ganz viele bunte Farben und den Frühling, wenn er an seine Tochter denke.
Das hat mich sehr berührt, und das nehme ich als Bild mit für andere Eltern, die ich begleite.
An der Fachstelle kindsverlust.ch erleben wir täglich, was es heisst, wenn Eltern keinen geschützten Raum erfahren, wenn ihr Kind stirbt. Jeden Tag sind in der Schweiz zwei Familien vom Tod ihres Kindes rund um die Geburt betroffen. Die Fachstelle schliesst eine Lücke im Gesundheitswesen und übernimmt damit eine haltgebende Rolle. Betroffene Eltern erhalten Beratung und Orientierung, Fachleute werden sensibilisiert und in Schulungen vorbereitet auf die so wichtige Begleitung der Eltern und ihrer Familien.
Sterben am Anfang des Lebens: Eltern brauchen Hilfe und Unterstützung
Der Verlust eines Kindes im Mutterleib oder rund um die Geburt ist eine Grenzerfahrung, in der die betroffenen Eltern Hilfe und Unterstützung brauchen. Die Begleitung kann wegweisend sein für das gesunde Weiterleben der Eltern.
Als Hebamme und Trauerbegleiterin erlebe ich immer wieder den Schmerz und die Verzweiflung, die grosse Not von Eltern, wenn das eigene Kind stirbt. Fast immer haben vor allem die Mütter grosse Schuldgefühle. Sie fragen sich: Was habe ich falsch gemacht? Hätte ich es verhindern können? Wieso habe ich nicht auf mein ungutes Gefühl gehört und mich ernstgenommen, wieso bin ich nicht ins Spital gegangen für eine Kontrolle? Hätte ich es nicht merken müssen, dass mein Kind in meinem Bauch gestorben ist?
Diese Fragen plagen die Mütter immer wieder. Häufig sind sie fest davon überzeugt, etwas falsch gemacht zu haben. In den ersten Jahren als Hebamme habe ich den Frauen, den Eltern immer wieder gesagt, dass sie nicht schuld seien, nichts dafür können und nichts dagegen hätten tun können. Ich habe jedoch die Erfahrung gemacht, dass das den Eltern nicht hilft. Es nützt nichts, jemandem zu sagen, er solle sich nicht schuldig fühlen, wenn er es trotzdem tut.
Mütter erleben Gefühle der Wut
Mütter, deren Kinder gestorben sind, erzählen immer wieder, dass sie es fast nicht aushalten, wenn sie eine schwangere Frau sehen oder einen Kinderwagen. Ich erlebe immer wieder, dass Mütter sich fast nicht getrauen, diese Gefühle, diese Gefühle der Wut, der Ungerechtigkeit, des Neides auszusprechen. Sie können sich ihre Gefühle selber nicht erklären und schämen sich, dass sie solche Gefühle haben.
Auch da hilft es nicht, diesen Frauen zu sagen, dass sie sich nicht schämen müssen. Es hilft nicht, zu relativieren und zu bagatellisieren.
Sie haben Gefühle, die sie vielleicht noch nie so in ihrem Leben empfunden haben – Gefühle von Neid und Scham, von Wut und grosser Trauer.
Mit der Zeit habe ich gelernt, zuzuhören. Es hat mich interessiert, zu hören, wieso sich Eltern schuldig fühlen, wieso sie sich schämen. Was für Gedanken sie sich machen. Und selber gar nichts dazu sagen müssen, nicht beschwichtigen, nicht relativieren. Sondern vielleicht zu nicken, verstehen zu geben, ich höre zu, nehme ihre Gefühle wahr und sehe.
Eltern haben mir erzählt, dass das am meisten geholfen hat. Menschen, die zuhören, die da sind, Zeit haben, die den Mut haben, sie nach ihrem verstorbenen Kind zu fragen.
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Eine Frau, die selber ihr Kind verloren hat, schrieb Folgendes:
Gesegnet die Stille
Gesegnet das Nicht-Reden
Das einfach Sein
Das so schwer ist
Gesegnet das Bei-sich-Sein
Und was noch schwerer ist
Gesegnet das Ausatmen
Das Nichts-Wollen
Wenn Eltern bei der Fachstelle kindsverlust.ch anrufen, fühlen sie sich häufig verunsichert und haben das Gefühl, dass mit ihnen etwas nicht in Ordnung ist. Vom Umfeld hören sie häufig, es müsse doch weitergehen im Leben, sie sollen nach vorne blicken. Sie sollen sich wieder am Leben freuen. Eltern sind dann sehr erleichtert, zu hören, es geht anderen Eltern gleich. Sie sind froh, zu erfahren, dass der Schmerz so gross ist, weil die Liebe zu Kind ebenfalls so gross ist.
Diese Gefühle sind normal, und es hilft nicht, diese zuzudecken. Diese Gefühle wollen gesehen werden. So kann mit der Zeit der Schmerz ein wenig sanfter und weicher werden. So können mit der Zeit diese schmerzhaften Erfahrungen in die eigene Lebensgeschichte integriert werden.
Was heisst trauern?
Eine Frau beschreibt es folgendermassen:
Trauern ist wie ein grosser Felsbrocken
Wegrollen kann man ihn nicht
Zuerst versucht man, nicht darunter zu ersticken,
dann hackt man ihn klein, Stück für Stück
Den letzten Brocken steckt man in die Hosentasche
Und trägt ihn ein Leben mit sich herum.
Was können wir alle dazu beitragen? Was können wir mithelfen, Brocken um Brocken dieses grossen Felsens abgetragen, war können wir tun, um Stück für Stück zu zerhacken?
Als Gesellschaft tragen wir Verantwortung, indem wir über dieses Thema sprechen, wie heute, hier. Wir können beitragen; indem wir Eltern als Eltern begegnen und den Mut haben, die Eltern nach ihren verstorbenen Kindern zu fragen, Grosseltern auf ihre Enkelkinder ansprechen, uns solidarisch zeigen, damit sich Eltern in dieser Solidarität als Eltern wahrnehmen und sich als Eltern erleben können. So, dass ihr verstorbenes Kind immer ihr Kind bleiben wird.
Anna Margareta Neff Seitz, Leiterin kindsverlust.ch, Hebamme & Trauerbegleiterin
hielt diesen Text in der Katholischen Kirche Region Bern, Pfarrei St. Josef Köniz
am 3. Dezember 2017 im Rahmen der Predigtreihe
Schutzräume und Schamgrenzen – Gelebte Spiritualität heute
Bearbeitung: Martin Schuppli, Fotos: Daniela Friedli
kindsverlust.ch
Fachstelle Kindsverlust während Schwangerschaft, Geburt und erster Lebenszeit
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Beratungstelefon: 031 333 33 60 | fachstelle@kindsverlust.ch | www.kindsverlust.ch
Eine Antwort auf „Das Sterben am Anfang eines Lebens“
Sooo ne wärtvolle Mönsch bisch, liebi Anna-Margareta ❤️