Vergangene Woche war Suizid das Thema unseres Blogbeitrages. Dr. med. Tim Klose, Psychiater und Physiotherapeut am Spital Affoltern, fragte sich: «Wie soll ich jemanden davon abhalten, sich zu töten?» Das wühlte Hans Fröhlich auf. Die Worte seiner Mutter, «ich stehe jeden Tag verärgert auf, weil ich nicht gestorben bin», hallten nach, und so schrieb er ihr einen berührenden Brief.
Ich vermisse Dich. Sehr. Täglich denke ich an Dich. Und oft sind sie wieder da – die Vorwürfe. Warum bin ich nicht bei Dir, jetzt, wo Du mich brauchst? Wieso bin ich über 700 km von Dir entfernt? Warum musste ich hier, in Zürich, mein Glück versuchen? Ist es rücksichtslos, Dich so allein zu lassen? Was kann ich nur tun? Sicher, wir telefonieren ein- bis zweimal pro Woche, und so erfahre ich doch ein bisschen von Dir.
Aber ich weiss, dass Du Dich gut verstellen kannst am Telefon, weil du mir keine Sorgen machen willst. Doch weiss ich ebenso, wie Du täglich Deine Probleme mit dem Alleinsein meistern musst – und das doch gar nicht willst. Seit Paps nicht mehr da ist, fehlt Dir der Sinn im Leben. Fehlen Dir seine Umarmungen, seine Liebe zu ihm, fehlt Dir das Für-ihn-Dasein. Du hast viele Jahre damit verbracht, ihn zu «bemutteln». Hast alles für ihn gemacht.
Später, als seine Demenz, Typ Alzheimer, schlimmer wurde, sagtest Du uns das nicht. Du warst immer die starke und selbstbewusste Frau. Du hast ihn geduscht, hast ihm die Nägel geschnitten, ihn vor den Fernseher bugsiert und ihm sein Glas Wein eingeschenkt – gegen das ärztliche Diktat. Er hat bis fast zum Schluss sein «normales» Leben gehabt, dank Dir. Ja, dank Dir. Mamutschka, ich danke Dir.
Dann kam der Unfall. Zum wiederholten Male fiel Paps daheim im Flur um. Du, winzige, kleine Person, brauchtest lange, um unter ihm hervorzukrabbeln und die Feuerwehr zu rufen. Diese brachten Deinen Mann dann ins Sana-Klinikum von Berlin-Lichtenberg. Dort konnte er soweit wie möglich versorgt werden, mit seiner angebrochenen Wirbelsäule.
Heimnehmen konntest Du ihn nicht mehr. Ein Pflegeplatz musste her. Es war jetzt unzumutbar, dass Du ihn weiterhin betreust, umsorgst, pflegst. Spontan fanden wir einen Platz in einer völlig neuen Einrichtung. Ein Zufall? Sonst sind die Wartezeiten lang, teils sehr lang, dauern viele Monate. Euer Wohnzimmer, die Schrankwand mit Büchern und dem Fernseher sowie einen elektrisch verstellbaren Sessel wuchteten wir in einer «Hau-Ruck-Aktion» ins Pflegeheim. Uns blieb nur eine Woche Zeit, da ich zurück nach Zürich musste. Der Papierkram, das Regeln der Finanzen auf der Sparkasse und ein Noro-Virus machten die Woche nicht einfach für uns.
Weisst Du noch? Im Pflegeheim haben sie Dich gefragt, ob Du dort einziehen würdest – so schlecht und mitgenommen sahst Du aus. Aber Du kämpftest weiter. Bis Paps zwei Monate danach einschlief. Stillgeworden ist.
Die Beisetzung war eindrücklich. Die Bilder begleiten mich noch heute. Das Öl-Selbstbildnis hat Paps so vortrefflich gestaltet, dass wir es ans Grab stellten. Seine Malerei und Fotografie bewegen mich immer. Das Blumenbild bei mir im Zimmer ist noch heute ein tägliches Erlebnis.
Überhaupt waren die Jahre davor heftig. Wir verloren erst Kathrin*, meine Schwester, dann Magda, Deine Mutti, später Wilhelm, meinen Schwiegervater und erst im letzten Jahr starb Gertrud, meine Schwiegermutter. Mit ihr pflegtest Du am Ende ein erstaunlich gutes Verhältnis. Du hast gesagt, wir müssten an den «Schwarzen Wiedersehen» arbeiten. Wir müssten uns auch mal so verabreden.
In der Woche von Paps Einweisung ins Pflegheim zerschlug sich meine Ehe, sie dauerte 28 Jahre. Ein heftiger Streit liess das Kartenhaus endgültig zusammenfallen. Ich stand vor einem Trümmerhaufen. Ziemlich genau ein Jahr zuvor erkrankte ich an suizidaler Depression und versuchte, irgendwie einen Ausweg zu finden. Die «lustigen Spassmachertabletten» halfen nur bedingt. So stellte ich den Beruf auf den Kopf, was ich eigentlich mein ganzes Leben tat. Doch erst als ich mich dann von meiner Frau trennte, konnte ich die Medikamente absetzen.
Du weisst, sie war immer eine tolle Frau für mich und eine gute Mutter zu unseren Kindern, doch irgendwie war die Luft raus.
Ich fand zurück ins Leben. Vor allem dank meiner jetzigen Lebensgefährtin und Ehefrau, meiner einstigen Jugendliebe. Sie verlor ein halbes Jahr vor Paps Ableben ihre Mutti, sie konnte mich also gut verstehen. Vom ersten Sehen bis jetzt war alles ganz einfach, ehrlich und echt. Nun leben wir verliebt zusammen. Für mich eine erstaunliche Entwicklung. In mir macht sich das Gefühl breit, endlich mein Leben gefunden zu haben.
Und wie Du weisst, habe ich jetzt dank Patchwork-Familie fünf erwachsene «Kinder», bald sind vier Enkel dabei … Das Leben bauscht sich grad zu einem erstaunlich schönen Blumenstrauss auf. Es kommt mir vor, als wolle es sich bei mir entschuldigen.
Übung als Pflegerin hattest Du schon vor Paps Erkrankung. Meine grosse Schwester kämpfte viele Jahre gegen ihre MS und verlor schlussendlich. Du hast viel mitgeholfen, sie zu versorgen. Sicher waren meine Neffen immer für ihre Mutter da. Sie haben sie gepflegt, betreut, umsorgt. Wir fragten uns, wie pubertierende junge Kerle das nur konnten. Viel zu früh wurden sie erwachsen. Tolle Jungs. Wir pflegen derweil einen engen Kontakt zu ihnen.
Meine «Schwelle» vermisse ich oft. Ihre zynische und hochintellektuelle Art bewahrte sie davor, sich ihrem, wie sie oft sagte «kaputten Torso» zu ergeben. Als sie starb, war ich dabei. Oft rede ich in Gedanken mit ihr, und dann geht es mir wieder gut.
Was war Molly für eine tolle, stolze Dame. Ich werde nie vergessen, wie sie uns mit ihrem grünen Hütchen, den grünen Handschuhen und der gelb-blauen Kuchenschachtel besuchte. Viele Ferien verbrachte ich bei ihr, und die schönsten Kindheitserinnerungen verknüpfe ich an die Zeit bei ihr. Weisst Du noch, wie Paps sagte: «Oh, sie behält beim Kaffee den Hut auf. Sie bleibt länger.» Ha, was war er doch für ein Schelm zu seiner Schwiegermutter. Er zog sie gern etwas auf, und dann taten beide so, als würden sie streiten. Und lachten dann doch. Du hast sie nach Berlin geholt, als sie über 82 Jahre alt war, um sie zu pflegen. Sie wohnte noch viele Jahre eine Etage über Euch. Du hast sie versorgt und gepflegt. Sie wurde 93 Jahre alt.
Bei ihr lernte ich den Tod aus der Nähe kennen. Ich machte die letzte Nachtwache und schlief neben ihr leicht ein. Ich streichelte sie, strich ihr die dünnen silbernen Haare aus der Stirn, betupfte die Lippen mit einem feuchten Lappen und sagte ihr viel Liebes. Und ich las an ihrem Bett die Bibel. Nicht, dass ich etwas verstand. Auch regte es mich nicht zum Nachdenken an. Nein, es machte mich engelsgleich stark. Diese letzten Stunden werden für immer in meinem Gedächtnis haften bleiben. Es war eine schöne Nacht. So friedlich und voller Dankbarkeit.
Du bist eine grossartige Fotografin und hast das Handwerk von Deinem Vater gelernt. Er, der auf wundersame Weise nicht in den Krieg musste, dank der Forschungsarbeit für die Film- und Fotoindustrie. Du verbrachtest deswegen eine fast normale Kindheit – mindestens in den Anfängen. Bis dann der Krieg Deutschland erreichte. Dann fielen die Bomben auf Merseburg. Das Kreischen der Sirenen lässt Dich noch heute ängstlich zusammenzucken. Ebenfalls schrecklich war die Geschichte, wo du als junges Mädchen zusammen mit Deiner Mutter auf dem Fahrrad unterwegs warst. Damals beschoss euch ein alliierter Tiefflieger, ihr weintet stundenlang im Graben.
Später hast Du Fotografie studiert. Während Jahrzehnten arbeitetest du dann als Dozentin für Fotografie an der Kunstschule in Berlin-Weissensee. Etliche Studenten, also Bildhauer, Architekten, Maler und Modedesigner bestanden ihre Diplome dank Deiner Schulung in Fotografie. Die «vorsintflutliche» Fototechnik in der DDR, der stete Mangel an Materialien und die politischen Versuche, Dich in «die Partei» zu zwingen – alldem hast Du widerstanden, hast stark und selbstbewusst weitergemacht. Viele Ausstellungen zeigen Deine Erfolge auf. Doch nun hast Du die letzten Jahre als Vollzeit-Pflegerin gearbeitet, in der Familie. Bei Deinem Mann.
Ich weiss, dass Du keine Kraft mehr hast. Erst ging das eine Knie kaputt. Dann stürztest Du, erlittest einen Trümmerbruch in der Schulter und im Kiefer, jetzt ging das andere Knie kaputt. Du wirst kommende Woche Deinen 80. Geburtstag im Operationssaal verbringen. Ha. Das hast Du mit Absicht gemacht, ich kenn Dich: Du magst keine Geburtstagsfeiern. Dir widerstrebt der Rummel um Dich. Dabei war unser Wohnzimmer früher häufiger Treffpunkt von Künstlern und Studenten, Euer Freundeskreis war gewaltig. Naja, das Leben ändert sich wohl auch hier. Die wenigen verbliebenen Freunde im Leben sind dafür um so wertvoller.
Du hast mir am Telefon gesagt, dass Du Dich jeden Morgen ärgerst, wenn Du wach wirst. Und jeder deiner Tage fängt mit diesem Ärger an. Eigentlich magst Du schon lange nicht mehr. Hast dich nicht mehr lieb. Du isst kaum noch und wenn Dein Bruder, was würde ich ohne meinen Onkel machen, nicht regelmässig nach Dir schauen würde, dann … ich weiss nicht. Bald sind wir endlich wieder bei Dir, für eine winzige Woche, und können so nach Deiner Operation ein wenig Deinen 80. nachfeiern. Mit Erdbeer-Eis, mit viiielen Erdbeeren, die Du so gern magst.
Vor zwei Jahren waren wir zu dritt in Lissabon in den Ferien. Die ersten gemeinsamen Ferien seit meiner Kindheit. Mit Dir und meiner Frau bei lieben Freunden. Dort, an der Küste zum Atlantik, schauten wir lange dem Sonnenuntergang zu. Dieses Bild wird mir immer bleiben und Dein Satz: «Jetzt ist der richtige Zeitpunkt zum Sterben.»
Gibt es ihn denn jemals, den richtigen Moment? Gern möchte ich Dir jetzt zurufen: «Gib nicht auf!» Doch steht das mir überhaupt zu? Steht das irgendjemandem zu? Klar möchte ich eine unsterbliche Mama – und ja, ich gäbe was drum, Dich zu mir, zu uns zu holen. Klar möchte ich mehr für Dich da sein. Es nagt sehr an meinem Stolz, an dieser falschen Eitelkeit, nicht die finanziellen Mittel dafür zu haben. In meinem Alter ist eine Anstellung schon ein kleiner Glücksfall. Ich weiss nicht, wie es weitergeht. Aber will oder muss unsereins das wissen? Das Leben hat noch keiner überlebt. Nutzen wir unsere Zeit für und miteinander.
Ich glaube fest an einen Gott voller Liebe und an die Unsterblichkeit, unter anderem in Geschichten und Erzählungen. Weisst Du noch, Onkel Ernst? Wie oft hast Du von ihm erzählt. Unvergessen die Geschichte, wo er die allwöchentlich aufgetischten Klösse an die Tür nagelte. Mit viel zu grossen Nägeln. Es waren keine anderen zur Hand.
Ich denke grad so nach und meine, dass der Glaube mir bisher gut geholfen hat, meinen für mich richtigen Weg zu finden. Andere machen es anders und das ist ebenfalls gut so. Du seist da weniger gläubig, sagst Du. Ich weiss aber, dass Du eine ganz eigene Beziehung zur Kirche hast. Wie gern schaust Du Dir Kirchen an. Bewunderst deren Architektur, deren Kunst und Geschichte.
«You’ll never walk alone», höre ich Jonny Cash singen. Und ja, auch wenn ich jetzt nicht bei Dir bin, ich denke an Dich und in Gedanken küsse ich Dich zärtlich auf die Stirn. Für immer.