Der Körper wie ein Greis, im Kopf wie ein Kind. Der Orientierungssinn ist weg, das Zeitgefühl fehlt. Wer an Demenz leidet, fühlt sich in der Zeit zurückversetzt, erkennt die Seinen nicht mehr und Alltägliches wird zur unüberwindbaren Hürde. Angehörige verzweifeln, selbst begreift man nichts. Das ist Demenz: ein Leben in einer anderen Welt.
Caroline Beck/Daniel Hitz
Gianluca De Febis steht am Imbissstand mit einer Frühlingsrolle in der Hand kurz vor seinem eigenen Geburtstagsessen mit der Familie. «Aha, ertappt, her mit diesem Ding», ruft Nathalie De Febis von weitem ihrem Ehemann zu und zieht ihn zum Auto. Im Restaurant angekommen, sitzt Gianluca ungeduldig auf dem Stuhl. Seinen Menüwunsch kennt er bereits: Pizza Diavolo. Seine Frau drückt ihm 20 Franken in die Hand. «Hier, dein Taschengeld, bevor ich es vergesse», sagt sie. Gianluca verschwindet auf die Toilette.
Wo denn sein Vater bleibe, fragt Gianmarco. Da kommt der 46-Jährige zurück, auf seinem Pulli sind überall Brotkrümel. Er konnte nicht mehr warten und hat sich bereits woanders verpflegt. Aktionen wie diese sind für Gianluca seit rund zwei Jahren gang und gäbe, erzählt Nathalie De Febis. «Als mein Mann noch zu Hause wohnte, musste ich gar die Küchentüre abschliessen», sagt sie, ansonsten machte er sich über den Kühlschrank her. Der gebürtige Italiener isst, was ihm passt und wann es ihm passt. Ein Sättigungsgefühl kennt er nicht mehr. Auslöser dafür ist seine Frontotemporale Demenz. Vor einem Jahr bekam er die Diagnose. Ein bis drei Jahre gaben ihm die Ärzte damals noch zu leben. Diese Demenzform endet wie Alzheimer tödlich (vgl. Infobox).
Frontotemporale Demenz: Das Heim war die einzige Lösung
Nathalie De Febis sitzt am Küchentisch und wartet auf ihren Mann und ihre Schwägerin, Gisella De Febis, die Gianluca aus dem Invalidenheim abholt. Zu Hause ging es nicht mehr, den täglichen Pflegedienst sperrte er regelmässig aus. «Für uns als Familie war es ein psychischer Akt», sagt seine Frau, weshalb sie diesen Frühling eine Unterbringung in einem Heim habe veranlassen müssen. Sie erinnert sich an den Moment, als die Sanität Gianluca mitgenommen hat. Ihre Augen werden glasig. «Ich musste für mich und meine Jungs handeln, ansonsten wären wir mit untergegangen.»
Die Eingangstür öffnet sich. Ein Mann mit ungekämmtem, grauschwarzem Haar, starkem Übergewicht und ausgeleiertem Pullover tritt in die Hochhauswohnung im obersten Stock in Bern Bethlehem. «Ich habe Rahmschnitzel gekocht, ist das okay?», fragt Nathalie De Febis ihren Mann, der sofort nach Betreten der Familienwohnung die Nase in die Kochtöpfe steckt. «Ja!», antwortet dieser und schlurft ins Badezimmer. Meist esse Gianluca nur kurz etwas und gehe dann wieder ins Bett, sagt sie. Tätigkeiten kann er nur noch ein paar Minuten nachgehen, trotz motivationsfördernden Medikamenten. «Tisch decken geht gerade noch», sagt die 45-Jährige, ihr beim kochen zu helfen, sei bereits zu viel.
Einsilbige Antworten, perverse Nachrichten
«Er war ein hübscher, junger und gepflegter Mann, den ich damals hatte», sagt die zweifache Mutter mit Nostalgie in der Stimme und nimmt ein gerahmtes Foto aus jüngeren Jahren in die Hand: schlank, frisierte Haare, elegant mit Hemd gekleidet. Seit 28 Jahren sind die De Febis ein Gespann. Gianluca schlurft zum Küchentisch, wo seine Frau und seine Schwester auf ihn warten. «Kann ich Wasser haben?», fragt er, sein Wasserglas ist noch immer randvoll. Er setzt sich. Wortlos sitzt Gianluca am Tisch, bis er angesprochen wird. Seine Antworten bestehen aus wenigen Worten: «Informatiker» …, «seit 20 Jahren». Seine Frau motiviert ihn, zu erzählen, weshalb er, ein gelernter Coiffeur, sich zum Informatiker umschulen musste. Gianlucas Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: «Hatte Allergie.» Und wie es dazu gekommen sei, fragt sie weiter: «Ja, Umschulung.» Sie spricht mit ihm wie mit einem Kind: «Genau, du bekamst eine Allergie an den Händen.» Gianluca sitzt unruhig auf seinem Stuhl. «Willst du dich hinlegen vor dem Abendessen?», fragt sie weiter. «Ich gehe liegen», murmelt er und schlurft davon.
Viel komplexere Gespräche gibt es nicht mehr. «Ich glaube, ihm fehlt langsam der Wortschatz», sagt Gisella De Febis. Gianlucas Langzeitgedächtnis ist von der Krankheit nicht betroffen – nicht wie bei anderen Demenzformen. Sein Kurzzeitgedächtnis jedoch leidet mittlerweile stark. Dass er am Nachmittag Besuch im Heim bekommen hat, wisse er am Abend beispielsweise nicht mehr, sagt Nathalie De Febis. Früher hat Gianluca wahnsinnig gerne Filme geschaut. Jetzt sitzt er nur noch selten vor dem Fernseher, da er die Informationen nicht mehr aufnehmen kann. Gianluca hatte auch eine Phase, in der er perverse Nachrichten an Familienmitglieder verschickte, erzählt seine Schwester schockiert.
Körperhygiene ist kein Thema mehr
Dass er krank ist, realisiert Gianluca nicht. «Er ist heute nicht mehr dieselbe Person», sagt Nathalie De Febis. Wert auf sein Äusseres legt er seit der Krankheit keinen mehr, geschweige denn auf Körperhygiene und regelmässiges Kleiderwechseln. «Man muss ihm immer sagen, dass er duschen soll, zähneputzen oder sich die Haare waschen», sagt Nathalie De Febis. Zu aufwändig sei es ihm. «Wäre er nur zehn Minuten klar im Kopf, würde er traurig, wenn er merkte, was aus ihm geworden ist», sagt seine Schwester. «Ich bin froh, dass er es nicht mehr begreift», sagt die Ehefrau zustimmend. Da taucht Gianluca auf, schlurft Richtung Küche. «Vor dem Essen wird zuerst gebadet und die Kleider werden gewechselt.», sagt sie, «Wo Seife und Shampoo stehen, weisst du?» «Ja», antwortet er und schlurft wieder davon.
«Bis es zur Diagnose kam, gingen wir fast die Wände hoch», sagt sie, beschreibt die damalige Situation. Es sei ein Schock gewesen, aber wenigstens hatte die Familie nun einen Namen für sein Verhalten. «Mein Bruder hatte Pech im Leben.», sagt Gisella De Febis und wischt sich eine Träne aus dem Gesicht, «Mit sieben Jahren hatte er Leukämie.» Die Frontotemporale Demenz könnte eine Spätfolge sein. «Wir müssen es positiv sehen», sagt Nathalie De Febis und sucht nach tröstenden Worten: «Gianluca hatte wunderschöne 35 Jahre und konnte eine Familie gründen, er hätte bereits als Kind sterben können.»
Text: Caroline Beck. Fotos: Daniela Friedli, Hitz/Beck
Diese Reportage entstand in Zusammenarbeit mit Journalismusstudenten der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW).
Demenz: 144 000 Betroffene in der Schweiz
Momentan leben in der Schweiz 144 000 Menschen mit der Diagnose Demenz. Die häufigste Form dabei ist Alzheimer. Sie tritt vor allem bei älteren Menschen auf. Junge Menschen können ebenso an Demenz erkranken. Nicht nur für die Betroffenen bedeutet das immense Einschränkungen, sondern auch für deren Familien. Für diese Kurz-Serie führten die Autoren Caroline Beck und Daniel Hitz Gesprächen mit Betroffenen, Angehörigen und Experten. Damit machen sie auf die verschiedenen Facetten der Hirn-Krankheit aufmerksam und zeigen, warum die Anzahl der Erkrankten in Zukunft steigen wird.
Warum befassen sich zwei junge Leute im Rahmen des Journalismus-Studiums mit Demenz? «Diese Krankheit, dieses Leiden interessiert mich schon sehr lange», sagt Daniel Hitz. «Irgendwie ist es eine Art Faszination, die mich anzieht. Ich fragte mich schon öfter, was ist, wenn man selbst Demenz hat. Wenn alles Wissen verloren geht.» Caroline Becks Interesse begann, als ihr Grosi starb. Sie war dement.
Die Geschichten für DeinAdieu zu recherchieren, fanden beide sehr hart. «Die Begegnung mit Gianluca De Febis und seiner Frau Nathalie entpuppte sich als sehr emotional für uns», sagt Caroline Beck. «Ich habe nahe am Wasser gebaut und war deshalb den Tränen nahe.»
Das ist Frontotemporalen Demenz
Die Frontotemporale Demenz (FTD) gehört zu den seltenen Demenzformen. Die Ursache der Krankheit ist noch unbekannt. Sie tritt meist zwischen dem 45. und dem 60. Lebensjahr auf. Menschen mit FTD halten sich in der Regel für gesund. Ihr Verhalten und ihre Persönlichkeit verändern sich jedoch stark. Sie werden antriebslos, apathisch und verstummen mit der Zeit. Das Kurzzeitgedächtnis und das räumliche Orientierungsvermögen bleiben im Vergleich zur Demenzform Alzheimer im Anfangsstadium besser erhalten. Im Verlauf der Krankheit werden die Erkrankten immer hilfsbedürftiger. Inkontinenz, Bewegungs- und Schluckstörungen tauchen im fortgeschrittenen Stadium auf. Die körperlichen Beschwerden häufen sich, bis schlussendlich der Tod eintritt. Die Todesursache bleibt oftmals unklar. In der Regel beträgt die Krankheitsdauer fünf bis zehn Jahre.
Alzheimer: Wichtige Adressen
Alzheimer Schweiz (Schweizerische Alzheimervereinigung)
Die gemeinnützige Organisation setzt sich für Gleichberechtigung in der Gesellschaft ein und ergreift Partei für Menschen mit Demenz. Die Alzheimervereinigung bietet Beratung und liefert Informationen zum Thema Demenz.
Tel. 058 058 80 00
Das Alzheimer-Telefon beantwortet Fragen, gibt Auskunft und zeigt auf, wo es Hilfe gibt. Montag bis Freitag, jeweils von 8-12 und 14-17 Uhr. Die Beraterinnen sprechen Deutsch, Französisch und Italienisch.
Gurtengasse 3, 3011 Bern
Tel. 058 058 80 20
Pro Senectute
Für ältere Menschen und ihre Angehörigen hat Pro Senectute in der ganzen Schweiz Anlaufstellen für Altersfragen. Ältere Menschen werden als wertgeschätzte und mitgestaltende Mitglieder der Gemeinschaft angesehen. Pro Senectute bietet Dienstleistungen an, welche den Alltag von älteren Menschen gestalten und ihre Angehörigen unterstützen.
Lavaterstrasse 60, 8027 Zürich
Tel. 044 283 89 89 | Fax 044 283 89 80
info@prosenectute.ch | www.prosenectute.ch
Swiss Memory Clinics
Die Schweizer Memory Clinics sind die ersten Anlaufstellen bei Verdacht auf Demenz. Hier werden Betroffene untersucht und – gemeinsam mit den Angehörigen – beraten. Die Kliniken sind Kompetenzzentren für die Diagnostik, Behandlung und Beratung. Ihre vier Kerndisziplinen sind Geriatrie, Neurologie, (Neuro-) Psychologie und Alterspsychologie. Die Diagnosestellung erfolgt interdisziplinär.
Verein Selbstbestimmung.ch
Die Webseite sammelt Artikel zum Thema Barrierefreiheit, soziale Sicherheit und Selbstbestimmung aus dem Netz. Der Verein setzt sich für Personen ein, welche aufgrund chronischer Krankheiten, einer Behinderung oder ihres Alters in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt sind.
Grüzenstrasse 12 | 8600 Dübendorf ZH
Tel. 077 447 11 23
info@selbstbestimmung.ch (Sekretariat | redaktion@selbstbestimmung.ch (Redaktion Newsseite)
Demenzsprache
Um alltagsorientierte Aktivitäten bei Menschen mit einer Demenz im Gang zu halten ist es sinnvoll, die Kommunikation auf einem angepassten Niveau anzuwenden. Auf dieser Webseite gibt es Hinweise zu Logopädinnen und Logopäden mit Spezialisierung im Bereich Demenz.
Hochschule für Heilpädagogik Zürich
Schaffhauserstrasse 239, Postfach 5850
CH-8050 Zürich
Tel. +41 44 317 11 | Fax +41 44 317 11 10
info@hfh.ch | www.demenzsprache-hfh.ch
2 Antworten auf „Demenz: Wenn der Ehemann zum Kind wird“
Kompliment ans Autoren Team der vierteiligen Serie. Danke Caroline Beck und Dani Hitz. Merci an Helga Kessler von der ZHAW für die Vermittlung dieser engagierten Studenten.
Danke Michael Schmieder für den Hinweis. Korrektur ist gemacht. http://www.alzheimer.ch verankert.