Herr Schmieder, finden Sie Demenz beängstigend?
Michael Schmieder: Warum soll es beängstigend sein? Ein Demenzkranker nimmt sich mit 80 Jahren als 30-Jähriger war. Dies ist der Anspruch von ewig jung, ohne irgendwelche Operationen durchführen zu müssen. Ich glaube, vor was wir Angst haben, ist der Kontrollverlust des eigenen Körpers. Wir haben Angst davor, Dinge zu tun, für die wir uns schämen müssten.
Wie geht man mit Demenzkranken in angespannten Situationen um?
Wir hatten eine Situation, in der ein Mann alles durch die Gegend geworfen hat. Er suchte nach seiner Frau und seinen Kindern. Das wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Also setzte mich neben ihn aufs Sofa und habe gewartet.
Und dann?
Dann sagte ich: «Ein schöner Scheiss, nicht wahr!» Er schaute mich an und fragte, woher ich es wisse. Ich antwortete, ich weiss nichts, aber ich spüre es. Danach hat er angefangen zu erzählen. Ich bestätige nur das Gefühl, ich urteile nicht und frage nie nach dem Warum. Diesen Ansatz nennt man Validation.
Inwiefern hilft das den Patienten?
Dadurch weiss der Patient, dass jemand da ist, der ihn versteht. Das gibt ihm Sicherheit. Das Bedürfnis von Demenzkranken und Nicht-Demenzkranken ist immer gleich. Man will in einer Beziehung mit einer Person stehen und als Person wahrgenommen werden.
Es klingt, als ob man für Demenzerkrankte viel Geduld braucht.
Für Patienten ist immer nur Hier und Jetzt. Alle Bedürfnisse müssen sofort befriedigt werden. Es gibt Bewohner, denen servieren wir vier Mahlzeiten pro Tag. Diese Geduld müssen sich Pflegende noch leisten können innerhalb der Langsamkeit der Patienten. Aber es gilt der Grundsatz: Der Patient hat immer recht.
Und womit beschäftigt man Patienten?
Alle Tätigkeiten sind gut, bei denen das Defizit nicht im Vordergrund steht. Es geht darum, ein positives Erlebnis zu erschaffen. Ein Wunsch einer Patientin war zum Beispiel Ballonfahren. Sie hat den Moment in der Luft genossen. Am nächsten Tag wusste sie davon nichts mehr.
Lohnt sich die Mühe, wenn Patienten alles wieder vergessen?
Das Vergessen der Patienten ist nie ein Argument, etwas nicht zu tun.
Einmal erkennen die Patienten ihre Angehörigen und ein andermal nicht. Woran liegt das?
Ich erkläre mir diese lichten Momente mit Schubladen. Das Hirn ist vielleicht an einem Tag besser durchblutet, dann geht im Kopf die Schublade mit Erinnerungen aus dem Jahr 2017 auf. Oder es ist ein Reiz, der etwas auslöst, wenn ein Geruch einen an die Kindheit erinnert. Solche Dinge können Orientierung geben. Aber mit Bestimmtheit weiss ich es nicht.
Lügen können tröstlich sein. Ist es nicht besser, einen Demenzkranken in seinem Glauben zu lassen, dass etwas noch immer so ist, wie es einmal war?
Lügen ist kein Argument. Nur weil das Gegenüber nicht merkt, dass ich ihn anlüge, rechtfertigt es dies noch lange nicht. Wir müssen den Menschen auf Augenhöhe begegnen.
Das heisst: Die Patienten müssen Vertrauen fassen können …
Genau. Und wir müssen alles dafür tun, dass dieses Vertrauen gerechtfertigt ist. Ob jemand spürt, dass er angelogen wird oder nicht, hat keine Relevanz, sonst würden wir Lügen grundsätzlich befürworten, solange der andere das nicht als Lüge erkennt. Das haben wir ja mit der ganzen Fake-News-Geschichte zu Genüge.
Wie viel bekommen demente Menschen von ihrer Umwelt noch mit?
Ich glaube, bewusst bekommen sie immer weniger mit. Aber das Unbewusste ist das Entscheidende. Ein Mensch mit Demenz kann nicht lügen und sich nicht verstellen, dazu braucht es kognitive Fähigkeiten, die der Patient nicht mehr hat.
Wie muss ich mir das vorstellen?
Wenn mich jetzt Frau Schlatter umarmt, dann umarmt sie nicht mich als Michael Schmieder, sondern als Person. Sie spürt unbewusst, ob meinerseits Wohlwollen da ist oder nicht. Ein anderer Aspekt, der Einfluss nimmt, ist die Umgebung.
Können Sie das ausführen?
Wir arbeiten bewusst mit hochästhetischen Räumen. Wir gehen davon aus, dass je schöner etwas eingerichtet ist und je wertvoller – nicht bezogen auf Geld –, desto mehr überträgt sich das auf die Person. Das ist einer der Hauptgründe, wieso wir hier im Sonnweid eine derart ruhige Atmosphäre haben.
Sind Demenzkranke sonst nicht ruhig?
In der Literatur liest man oft, dass Menschen mit Demenz alles kaputt machen und aggressiv sind. Bei unserer Dekoration zerstört nie irgendjemand etwas. Der Respekt vor dem Schönen ist etwas Unbewusstes. Das ist das Faszinierende.
Interview: Caroline Beck, Fotos: Véronique Hoegger Photography, Zürich, Hitz&Beck
Diese Reportage entstand in Zusammenarbeit mit Journalismusstudenten der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW).
Gemäss Experte für Demenzerkrankungen Michael Schmieder durchläuft ein demenzkranker Mensch vier Stadien. Im Audiobeitrag erklärt er die verschiedenen Phasen und Symptome der unheilbaren Krankheit.
Audiobeitrag von Caroline Beck
Demenz: 144 000 Betroffene in der Schweiz
Momentan leben in der Schweiz 144 000 Menschen mit der Diagnose Demenz. Die häufigste Form dabei ist Alzheimer. Sie tritt vor allem bei älteren Menschen auf. Junge Menschen können ebenso an Demenz erkranken. Nicht nur für die Betroffenen bedeutet das immense Einschränkungen, sondern auch für deren Familien. Für diese Kurz-Serie führten die Autoren Caroline Beck und Daniel Hitz Gesprächen mit Betroffenen, Angehörigen und Experten. Damit machen sie auf die verschiedenen Facetten der Hirn-Krankheit aufmerksam und zeigen, warum die Anzahl der Erkrankten in Zukunft steigen wird.
Warum befassen sich zwei junge Leute im Rahmen des Journalismus-Studiums mit Demenz? «Diese Krankheit, dieses Leiden interessiert mich schon sehr lange», sagt Daniel Hitz. «Irgendwie ist es eine Art Faszination, die mich anzieht. Ich fragte mich schon öfter, was ist, wenn man selbst Demenz hat. Wenn alles Wissen verloren geht.» Caroline Becks Interesse begann, als ihr Grosi starb. Sie war dement.
Die Geschichten für DeinAdieu zu recherchieren, fanden beide sehr hart. «Die Begegnung mit Gianluca De Febis und seiner Frau Nathalie entpuppte sich als sehr emotional für uns», sagt Caroline Beck. «Ich habe nahe am Wasser gebaut und war deshalb den Tränen nahe.»
Angaben zur Sonnweid
Die Sonnweid ist das Heim für Menschen mit Demenz in Wetzikon ZH.
Facts&Figures
Wohn- und Lebensraum für 167 Menschen
280 Mitarbeitende (vorwiegend Teilzeit)
14 Wohnformen und -gruppen
(Interne und externe Wohngruppen; Betreute Kleingruppen; Pflegeoasen für Menschen mit schwerer Demenz)
Tag/Nacht-Station
(Kurz- und Entlastungsaufenthalte; 10 Betten)
Inhaber: René Boucard, Luzern
Heimleitung: Petra Knechtli
Sonnweid – das Heim
Sonnweid AG, Bachtelstrasse 68
8620 Wetzikon ZH
T 044 931 59 31 | info@sonnweid.ch | www.sonnweid.ch
5 Antworten auf „Demenz: «Alle Bedürfnisse müssen sofort befriedigt werden»“
Für die Nächsten ist es schwer zu erkennen was die Folgen der
Demenz sind oder ob der Kranke es ausnützt bedüdelt zu werden
Ein spannender Aspekt liebe Rosmarie Schaertle. Mein Vater setzte jeweils die Hörgeräte nicht ein, wenn er nicht mitbekommen wollte, das Mutter abwäscht oder sonst Hilfe im Haushalt gebraucht hätte. Auch eine Art ein Handicap auszunutzen. Ihnen alles Gute. Martrin Martin Schuppli
Was, wenn die schwer demente Person sich nie in dieser Situation hätte sehen wollen und deshalb den Tod herbei gewünscht hätte? Was nützen Verfügungen, wenn man schliesslich nicht mehr den letzten Schritt selber tun kann? Was, wenn im Gegenteil alles für eine gute körperliche Gesundheit getan wird?
Nun, liebe Ruth Ehrenbold-Etzweiler, für so einen Fall ist es meiner Meinung nach extrem wichtig, wenn jemand eine Vertrauensperson beauftragt hat, im Fall einer Urteilsunfähigkeit die nötigen Entscheide zu fällen. Martin Schuppli, Autor DeinAdieu.
DeinAdieu Selbst wenn man zu „hellen“ Zeiten bestimmt hat, so nicht leben zu wollen, wird sich niemand bereit erklären, z.B. kein Essen und Trinken mehr einzugeben (Sterbefasten). Das ist vielleicht allenfalls zu Hause möglich. Verzicht auf Antibiotika im Falle eines Infektes wäre auch denkbar.
Aber was konkret müsste und dürfte ein Angehöriger von den Pflegenden denn verlangen? Essen und Trinken in Reichweite stellen aber nicht helfen bei der Einnahme? Würde das befolgt? Auch schwerst Demente können ja noch nicht bettlägerig sein. Sie sitzen einfach völlig teilnahms- und sprachlos da den ganzen Tag.
Ein Sturz mit Oberschenkelhalsbruch wird operiert, dabei könnte man doch einfach starke Schmerzmittel geben. Meine Angehörigen wissen, was ich will. Aber ob Pflegende dazu bereit wären, wage ich zu bezweifeln. Die Sonnweid ist ganz toll, das sehe ich, wenn ich meine Schwester besuche. Aber nein, ich möchte das um alles in der Welt nicht für mich, selbst wenn ich in diesem Zustand ja eh nichts davon mitbekommen würde (vielleicht!!!)