«Gib einem Mann einen Fisch und du ernährst ihn für einen Tag. Lehre einen Mann zu fischen und du ernährst ihn für sein Leben.»
Konfuzius, *551 v. Chr. †479 v. Chr.
Susanne Strässle, 46, zeigt auf das still dahinfliessende Wasser des Limmatkanals beim Zürcher Letten. «In diesem Gewässer wächst eines meiner Grundnahrungsmittel heran.» Sie lacht. «Der Limmat-Egli. Mein Mitbewohner steht hier oft in den frühen Morgenstunden am Ufer und fischt.. Und wenn sie beissen, bringt er frische Fische nach Hause.»
Wir lachen. Dann erzählt die Zürcher Ethnologin und Journalistin von ihrer Arbeit. Was treibt sie an? Ganz bestimmt ist es Neugier. Es ist die Faszination für Menschen und ihre Geschichten. Wie ich lebt und arbeitet sie nach dem uralten Journalisten-Motto: Menschen interessieren sich für Menschen.
«Wir bei Helvetas verteilen keine Almosen, sondern arbeiten partnerschaftlich»
Susanne Strässle ist tätig in der Kommunikation für die Entwicklungsorganisation Helvetas, mit der DeinAdieu zusammenarbeitet. Sie ist Teamleiterin Publishing sowie Redaktorin des Magazins «Partnerschaft». Klar also, dass wir über Entwicklungszusammenarbeit reden, über Nachhaltigkeit, über das sogenannte Helfersyndrom. Logisch drängt sich die Frage auf, wie Susanne Strässle mit den Ungerechtigkeiten der Welt, mit Not, Armut und Verzweiflung umgeht. Und was es mit ihr macht, wenn sie Menschen in schwierigen Situationen begegnet und dann wieder in die Heimat zurückreist.
«Natürlich geht es mir nahe, wenn ich sehe, wie manche Menschen leben müssen, wie schwer sie es haben.» Sie schweigt kurz und fügt dann bestimmt an: «Aber was das in mir auslöst, ist nicht Hilflosigkeit oder Verzweiflung. Mit mir macht das etwas anderes. Es treibt mich an, motiviert mich. Diese Menschen kämpfen für ein besseres Leben. Es bestärkt mich in der Überzeugung, dass wir sie dabei unterstützen sollten. Und zwar nicht mit Almosen, sondern indem wir partnerschaftlich mit ihnen zusammenarbeiten. Das ist für mich Solidarität.»
Susanne Strässle, Helvetas: «Die Welt wird besser – und es lohnt sich, dranzubleiben.»
Es bewegt Susanne Strässle, wenn Menschen ihr von ihrem Schicksal erzählen. Menschen, die in einem Erdbeben alles verloren haben. Mütter, deren Kind an den Folgen verschmutzten Wassers gestorben ist. Familien, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden oder Männer, die als Leibeigene leben mussten und jetzt ein neues Leben aufbauen. «Was mich dabei immer wieder tief beeindruckt: Ich sitze diesen Leuten gegenüber, schaue in ihre Augen, und sie erzählen mir die unvorstellbarsten Dinge. Doch statt zu verzweifeln, strahlen viele einen so entschlossenen Lebensmut aus. Sie geben nicht auf und wollen in die Zukunft blicken. Ich habe eine unglaubliche Hochachtung vor diesen Menschen.» Was ihr klar geworden ist: Die Welt ist voller solcher Heldinnen und Helden des Alltags. «Wir hören hier immer nur von Elend und Not, aber in den letzten 25 Jahren konnte sich eine Milliarde Menschen aus der extremen Armut befreien. Die Welt wird besser – und es lohnt sich, dranzubleiben.»
Ferienreisen in Länder von denen man wenig weiss
Das Interesse an den Menschen bestimmte Susanne Strässles Werdegang. Sie studierte in Zürich Ethnologie und Geschichte. «Im indischen Himalaya untersuchte ich, wie Ärzte und traditionelle Heiler sowie Patienten und Patientinnen mit Krankheiten und Schicksalsschlägen umgehen und welche Rolle ihre Glaubensvorstellungen dabei spielen.»
Für diese Studie lebte und arbeitete sie in Kalimpong im Darjeeling District, einer bergigen Region im Norden Indiens. «Dort lernte ich einen engagierten Anwalt kennen. Er begleitete meine Arbeit mit kritischen Fragen, wir führten viele intensive Diskussionen. Bis heute sind wir eng befreundet, diesen April habe ich ihn und seine Familie erneut besucht.»
Wenn Susanne Strässle von ihren Reisen erzählt, erfährt der Zuhörer kaum etwas von einem Badeplausch in Rimini oder Shopping in Abu Dhabi. Die Journalistin lacht. «Nein, ich bereise lieber Länder, von denen man viel zu wenig weiss. Etwa Moldawien, Armenien, Georgien, den Iran – meist mit öffentlichen Verkehrsmitteln.» Sie blickt auf den Fluss, schweigt einen Moment. Sagt dann: «In Syrien bin ich ebenfalls gereist, vor dem Krieg. Die Gastfreundschaft dort war überwältigend.»
Ihr Beruf ist eine Art Heirat der Leidenschaften
Kombiniert sie ihre Reisen mit der Berichterstattung über Helvetas-Projekte, will ich wissen. «Ab und zu bereise ich privat ein Land, in dem Helvetas tätig ist», sagt Susanne Strässle. «Dann investiere ich gern mal einen Ferientag, um Menschen in unseren Projekten kennenzulernen und bringe ihre Geschichte mit nach Hause.» Ihr Job scheint sie zu beflügeln. Er ermöglicht ihr, ihre beide Leidenschaften – für den Journalismus und für Kulturen – zu vereinen. «Als Ethnologin wie als Journalistin muss ich gut zuhören können und genau hinschauen. Ich muss erst einmal verstehen wollen.» Genau das zeichnet für sie gute Entwicklungszusammenarbeit aus. «Wir kommen nicht mit fixen Ideen, es geht darum, was Menschen wirklich wollen und brauchen, und das wissen sie am besten», sagt sie.
«Das sind aktiv handelnde Menschen, keine passiven Opfer. Sie sind viel mehr als nur ‹arm›. Ich treffe so viele fähige Frauen und Männer, die wie du und ich nur das Beste für ihre Familie wollen, aber das oft unter Voraussetzungen, die für uns unvorstellbar sind. Sie wollen und brauchen keine Wohltätigkeit, sie brauchen einfach eine faire Chance. Dafür setzt sich Helvetas ein.»
Der Wasserhahn steht nicht beim Dorfvorsteher
Anhand eines Beispiels schildert Susanne Strässle, wie beeindruckend demokratische Projektarbeit sein kann. «Ein Jahr nach dem Erdbeben war ich in Nepal dabei, als die Bewohner und Bewohnerinnen eines Dorfes zusammenkamen, um demokratisch zu planen, wie das Wasser beim Wiederaufbau fair verteilt werden soll. Das ist ein wichtiger Schritt in unseren Wasserprojekten. Jede einzelne Familie war vertreten. Mit Steinen, Sägemehl oder Zettelchen zeichnete der Lehrer auf dem Platz ein, was die Leute im Rund sagten: Wo wie viele Leute wohnen, wer in welchen Verhältnissen lebt und wo es Wasserhähne braucht.» Sie schmunzelt, sagt: «Eben nicht einfach vor dem Haus des Dorfvorstehers …» Wieder legt Susanne Strässle eine kurze Pause ein, ihre braunen Augen leuchten. «Alle unterzeichneten die Vereinbarung mit Stift oder Daumen und bekräftigten: ‹Ich bin dabei und bin bereit, beim Bau mitzuhelfen, meinen Abfall zu sammeln, eine Latrine auszuheben.› Ein feierlicher Moment.»
Später wird dann ebenfalls auf dem Dorfplatz öffentlich verlesen werden, wo und zu welchem Preis wie viele Meter Wasserleitungen, Hähne oder Tanks gekauft wurden. «Eine kluge Sache», sagt Susanne Strässle. «So haben Vetternwirtschaft und Korruption keine Chance. Bei so viel Transparenz kämen unsaubere Geschäfte schnell ans Licht, etwa wenn jemand seinem Cousin einen Auftrag verschafft oder überteuert abgerechnet hätte.»
Im Verlauf eines solchen Prozesses kommt es sogar zu regelrechten sozialen «Revolutionen». Susanne Strässle erzählt die Geschichte von einer am Dorfrand auf Staatsland lebenden Dalit-Witwe. Früher nannte man derart Ausgegrenzte «Unberührbare». «Die Dorfbewohner wollten ihr keinen Wasseranschluss gewähren», sagt sie. «In solchen Fällen werden unsere lokalen Projektmitarbeiter aktiv. Sie suchen das Gespräch mit der Bevölkerung, erklären, warum alle vom Wasser profitieren sollen. Heute hat die Frau einen Wasseranschluss und traut sich, in Versammlungen offen zu sprechen. So stossen wir Veränderungen an, die weit über Wasserfragen hinausreichen.»
Wissenstransfer statt Wohltätigkeit
Einst, es muss vor 50 Jahren gewesen sein, stand ich, Martin Schuppli am Central in Zürich hinter einem Helvetas-Stand und sammelte Geld für Tibet. Damals flüchteten Tausende aus dem Land. Zwei, Palden und Dhakpa, verschlug es in die Schweiz. Und so verkaufte ich mit den beiden Schulkameraden Glarner-Tüechli und Kerzen.
Helvetas gibt es schon lange, aber die Entwicklungszusammenarbeit hat sich verändert. Spenden werden heute zum Beispiel oft dafür eingesetzt, Menschen auszubilden. Wie in Nepal. Dort lernen sie unter anderem Hängebrücken zu bauen, die ihnen ermöglichen Schulen, Spitäler und Märkte zu erreichen. «Mit grossem Erfolg. Bis heute sind über 7000 Hängebrücken gebaut worden», sagt Susanne Strässle. Und: «Mittlerweile sind es nepalesische Ingenieure, die in unserem Brückenprojekt in Äthiopien Leute ausbilden, um Hängebrücken zu bauen. Diesen Frühling wurde dort die 100. Brücke eingeweiht.»
Wow, das ist Süd-Süd-Wissenstransfer. Um noch deutlicher zu machen, wie moderne Entwicklungszusammenarbeit funktioniert, kommt Susanne Strässle zurück aufs Fischen. Auf das altbekannte Zitat, wonach man einem Mann keinen Fisch geben, sondern ihm besser das Fischen beibringen soll: «Münzte man das auf heute um, müsste man sagen:
- Bilde Fischer und Fischerinnen aus, auch solche, die in der Lage sind, anderen das Fischen beizubringen.
- Zeige ihnen, wie sie sich in Kooperativen organisieren, um ihren Fang fair zu guten Preisen zu verkaufen.
- Sorge dafür, dass alle die Fischgründe schonen und gesund erhalten. Bringe die Behörden dazu, dass sie die Fischrechte fair vergeben.
- Achte darauf, dass Männer wie Frauen einbezogen werden und dass nicht nur die bereits (einfluss)reichen Fischer profitieren, sondern vor allem die Benachteiligten und Verletzlichsten.
So also arbeitet Helvetas. Ich bin beeindruckt.
Dank Schneiderinnenausbildung: Yezina, die Hoffnungsträgerin
«Yezina kam mit einem energischen Hinken auf mich zu. Sie erkrankte einst an Kinderlähmung, wäre fast gestorben. Dann wurde ausgerechnet die Krankheit zu ihrer Chance. Wegen ihrer Behinderung war sie unnütz als Arbeitskraft auf dem Feld. Deshalb durfte sie zur Schule und lernte Lesen und Schreiben – als einzige von neun Geschwistern.
Nun hat Yezina eine Schneiderinnenausbildung absolviert. In einem innovativen neuen Helvetas-Programm: Die Ausbildungsstätten werden erst vollständig entschädigt, wenn die Lernenden eine feste Anstellung gefunden oder eine stabile Selbstständigkeit aufgebaut haben. Heute steht Yezina auf eigenen Beinen. Ganz Geschäftsfrau flickt und stickt sie auch. Und wer bei ihr ein erstes Kleid nähen lässt, erhält einen Einführungsrabatt. Marketing funktioniert überall auf der Welt.
Obwohl alle sagten, ‹So eine wie du soll nicht heiraten›, wusste Yezina, Tadele – der ebenfalls mit einer Behinderung lebt – ist der Richtige. Heute ist die kleine Yabsira der ganze Stolz des Paares. Als ich Yesina fragte, was sie ihrem Kind einmal mitgeben will, sagte sie: Bildung, so viel wie nur möglich.»
Text: Martin Schuppli, Fotos: Paolo Foschini, Helvetas/Patrick Rohr
Helvetas war einer der ersten «Partner» von DeinAdieu.
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Helvetas
Weinbergstrasse 22a, 8021 Zürich
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