Der junge Mann empfängt mich in seinem neuen Zuhause in Küttigen AG. Er trägt beige Leinenhosen und hält eine Tasse Kaffee in der Hand. Lächelnd hüpft er von einem Fuss auf den anderen. «Es ist einfach noch zu kalt, um im T-Shirt nach draussen zu gehen», sagt er schmunzelnd und öffnet die Türe. Voller stolz zeigt er seine neue Wohnung, in der er mit seiner Freundin lebt. Er fühlt sich sichtlich wohl in seinem liebevoll, etwas chaotisch eingerichteten Zuhause. Viele Dinge habe er von dem Haus mitgenommen, indem er mit seinem Vater lebte: «Früher dachte ich bei anderen Hinterbliebenen immer: Entsorgt doch mal die Gegenstände dieser verstorbenen Person. Jetzt weiss ich, es ist schön, solche Erinnerungen anzusehen und keineswegs eine Belastung.» Er setzt sich an seinen runden Holztisch und wartet überraschend gelassen die Fragen ab: «Ich spreche gerne über meinen Vater. Es tut mir gut.»
Die letzte Unterhaltung
Obwohl Matteo nach eigenen Angaben eher ein vergesslicher Mensch ist, erinnert er sich gut an das letzte Beisammensein mit seinem Vater. «Mit etwas Zeit dazwischen betrachtet, war es eindeutig ein geplantes Abschiedsgespräch. Dazumal merkte ich das allerdings nicht. Vielleicht wollte ich es nicht merken», erzählt der 27-Jährige. Im Schlafzimmer des Vaters sprach er mit ihm und seinem Bruder über alte Zeiten. Ihr Vater fragte die beiden, ob sie noch Fragen an ihn hätten oder sie etwas wissen wollten. Über was die Familie genau gesprochen hat, soll unter den dreien bleiben. Am Schluss der schönen Konversation gab der Vater seinen Söhnen zu verstehen: «Hauptsache ist, dass ihr in eurem Leben zufrieden seid.»
Der Tag, an dem alles anders wurde
Zwei Tage nach diesem Gespräch war Matteo an einem Kurs seiner Weiterbildung. Er hatte eine Pflichtlektion. Ansonsten wäre er daheim geblieben, um sich um seinen Vater zu kümmern, der schon lange an der Lungenkrankheit COPD litt. Er informierte seine Lehrerin im Vorhinein über die gesundheitliche Situation seines Vaters, damit er Notfalls gehen könne. Mitten im Unterricht bekam er den Anruf seines Bruders. Das Telefonat verlief kurz. Matteos Bruder informierte ihn über den Tod seines Vaters. Während der 27-Jährige sich an dieses Telefongespräch erinnert, verlieren wir den Augenkontakt. Er blickt traurig in die Leere. Nach ein paar Sekunden hat er sich wieder gefangen und erzählt: «Mein Vater wollte nicht vor den Augen seiner Söhne sterben. Ich bin mir sicher, dass er gewartet hat, bis wir beide ausser Haus waren.»
Das letzte Mal den Vater sehen
Weil an diesem Tag niemand von der Familie bei ihm sein konnte, besuchte ihn eine Spitex-Mitarbeiterin, die seinen schlechten Zustand sofort erkannte. Sie rief die Ambulanz. Im Krankenhaus angekommen, verstarb der 57-Jährige. «Am Telefon konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht gross auf die traurige Botschaft reagieren. Ich stand unter Schock», erinnert sich der junge Mann. Er ging zurück ins Schulzimmer, packte seine Sachen zusammen und machte sich auf den Weg ins Spital. Dort angekommen, sassen seine Mutter, die Ex-Frau seines Vaters, und sein Bruder weinend am Bett. Darin lag er, sein Vater, tot. «Ich fand es komisch, ihn leblos zu sehen», erinnert sich Matteo. Trotzdem sei er froh, ihn so gesehen zu haben. Es half ihm, die traurige Realität zu verstehen.
Pflichten, die der Tod mit sich bringt
Eine der ersten und für Matteo mit die schwierigste Aufgabe war es, die Beerdigung vorzubereiten. Schwer war dies in erster Linie, weil er und seine Familie nicht wussten, ob dies überhaupt vom Vater erwünscht war. «Sein ganzes Leben lang wollte er nicht beerdigt werden. Ein paar Wochen vor seinem Tod redete er plötzlich davon, auf dem Friedhof in Bünzen AG, wo noch andere Familienmitglieder beerdigt sind, seine Ruhe zu finden», erzählt der junge Mann. Schliesslich einigten sich die nächsten Angehörigen, ihn in engstem Kreise auf diesem Friedhof zu bestatten.
Der Hausverkauf hinterliess anfänglich ein bedrückendes Gefühl
Neben all den bürokratischen Angelegenheiten – Steuern bezahlen, Konten auflösen etc. – gab es noch eine weitere Verpflichtung, die Matteo unruhige Nächte bescherte. Das Haus, in dem die Familie aufgewachsen ist, mussten die Brüder verkaufen. «Die Kosten für den Unterhalt sind einfach zu gross, da ich noch in Ausbildung bin», erklärt der 27-Jährige. «Am Anfang war die Vorstellung einer neuen Familie in dem Haus extrem bedrückend. Mein Vater hat das Haus eigenständig renoviert und wir verbrachten glückliche Zeiten darin.» Noch heute überkommt Matteo ein mulmiges Gefühl bei dieser Vorstellung. Letztens sei er an dem Haus vorbeigelaufen und hat eine Mulde davor gesehen. «Was macht die Mulde dort? Was werfen die aus dem Haus weg? Wir haben es ja schon leergeräumt.» Das komische Gefühl würde immerhin immer besser.
In seiner neuen Wohnung ist er glücklich, und der Start in seinen neuen Lebensabschnitt tat ihm gut. Ausserdem lösten die zusätzlichen Verpflichtungen eine alte ab. «Ehrlich gesagt brachte der Tod meines Vaters neben dem Schmerz ebenso etwas Erleichterung mit sich. Die tägliche Pflege und die Angst, etwas könnte passieren, lasteten ständig auf mir», erinnert sich Matteo.
Die persönliche Art zu trauern
Auf die Frage, ob er mittweilereile über den Verlust hinweg ist, erwidert er: «Ich habe es akzeptiert. Damit abschliessen werde ich nie. Jeder hat ja nur einen Vater.» Matteo glaubt fest daran, ihn irgendwann wieder zu treffen. An diesem schönen Ort, wo sein Papa sich jetzt befindet. Bis dahin brauche er keinen Friedhof, um an ihn zu denken oder bei ihm zu sein. Nur ein Ritual hat sich seit dem Tod in sein Leben geschlichen: «Wenn ich eine Kerze anzünde, denke ich an meinen Papa.» Er tue dies vor allem deshalb, weil sein Vater selbst Kerzen für verstorbene Personen angezündet hat.
Matteos persönlicher Bezug zum Sterben hat sich in den letzten zwei Jahren verändert. Er ist sich nicht sicher, ob es mit der Krankheit seines Vaters oder mit dem Älterwerden zu tun hat: «Ich habe zwar keine Angst zu sterben, aber ich bin eindeutig vernünftiger geworden. Die Vergänglichkeit ist mir bewusster geworden, und ich habe einen gewissen Respekt davor entwickelt.»
Nachdem ich all meine Fragen gestellt und den Laptop zugeklappt hatte, plaudern wir noch einige Zeit weiter. Matteo erzählt mir etliche lustige Geschichten von seinem Vater. Ich merke, wie stark die Liebe zu seinem Vater ist und den Schmerz in den Schatten stellt.
Text: Michelle Céline Christen, Fotos: Peter Lauth
Eine Antwort auf „«Mit Vaters Tod schliesse ich nie ab»“
Vielen Dank für die offenen Worte. Sehe traurig so ein Schicksalsschlag. Eine Freundin sagt, dass an schlechten Tagen auch Notfallübungen helfen können um mit dem Erlebten besser klar zu kommen.