Anna Vichery: Singend die Herzen der Menschen berühren

Die Sopranistin Anna Vichery singt an Trauerfeiern, Taufen, Hochzeiten. Mit ihren Auftritten möchte sie die Herzen der Menschen berühren. Mit DeinAdieu sprach sie über Trauer, Verlust sowie das Leben und das Sterben.

Wenn Anna Vichery singt, strahlen ihre grossen, braunen Augen. Sie leuchten, bewegen sich im Takt der Musik. Die Sopranistin ist bestimmt hochkonzentriert, wirkt aber entspannt. Obwohl a capella nicht ihre bevorzugte Art ist, für Menschen zu singen. Meiner Bitte, spontan ein Lied in der Kirche zu singen, kommt sie gerne nach. Aber am liebsten musiziert sie zu zweit. «Wenn mein Konzertpianist spielt, legt er mir eine Musikwolke. Auf ihr kann meine Stimme fliegen. Playback als Begleitung findet ich schrecklich, und daher trete ich ausschliesslich im Duo auf. Für mich kann Musik nur wirklich berühren, wenn sie zwischen Menschen entsteht.»

Die beiden sind ein eingespieltes Team. Ob an Hochzeiten, Taufen oder Abdankungen, Anna Vichery findet für jeden Event die passenden Töne, die passenden Lieder. Und mit ihnen, mit ihrem Gesang und den begleitenden Klängen sorgt sie für eine ganz spezielle Atmosphäre. «Wichtig ist mir, mit der Musik Menschen zu berühren, ihre Herzen zu öffnen.»

Anna Vichery, Trauersängerin
«Es ist für mich das schönste Lob wenn ich nicht nur als Sängerin, sondern als Mensch wertgeschätzt werde.» (Foto: Paolo Foschini)

Wer die Sängerin kennenlernt, schätzt ihre Empathie

Und das gelingt ihr. Sie sagt: «Ich höre oft, wie Kundinnen und Kunden nicht nur meinen Gesang, sondern auch meine empathische Art schätzen. Sie sagen, ich habe diesen traurigen Anlass verzaubert, ihnen den nötigen Trost gegeben und sie bis tief in die Seele berührt. Es ist für mich das schönste Lob, wenn ich nicht nur als Sängerin, sondern als Mensch wertgeschätzt werde. Wenn ich an einer Trauerfeier singe, nehme ich mich zurück, bin in diesem Moment nicht mehr Solistin, sondern eine Art Musiktherapeutin.»

Die Liebe zur Musik, zum Gesang begleitet Anna Vichery seit sie auf der Welt ist. «Zahlen interessierten mich nicht, ich wollte singen, wollte Musik machen. Meine Mutter ist eine grosse Musikliebhaberin, sie unterstützte mich und meine Schwester. Wir konnten unsere Kreativität ausleben. Als Dreijährige besuchte meine Mutter mit mir eine Aufführung der Zauberflöte für Kinder von Mozart. Dieses Singen, dieses Tanzen, diese Fröhlichkeit, das weckte meine Leidenschaft. Ich wusste, das will ich ebenfalls. Ich will auf der Bühne stehen. Dort konnte ich meine so genannte Hyperaktivität in Kreativität umsetzen. Legte meine Mutter jeweils die CD von Mozarts Zauberflöte in den Player, konnte ich drei Stunden stillsitzen. Der Wunsch, zu singen, wuchs beständig, wurde grösser. Ich wollte singen und meine Mutter ermöglichte es mir. Mit acht Jahren besuchten wir ein Konzert des Mädchenchores der Musikschule in Luzern. Da wusste ich: Auf diese Bühne will ich».

 

Als 10jährige das erste Bühnensolo im KKL gesungen

Chorleiter Marc Olivier Oetterli liess die «kleine» Anna vorsingen. Sie strahlt ob der Erinnerung, sagt: «Er war begeistert, förderte mich, nahm mich unter seine Fittiche –, und ich begann sehr hart zu üben. Ich gab alles in den Stimmbildungsstunden sowie in den allwöchentlichen Chorproben.» Dieses Engagement bescherte der jungen Luzernerin mehrere Auftritte im KKL und anderen Konzertsälen. «Als Zehnjährige durfte ich als Solistin ein Solo in Brittens «Christmas Carols» im KKL singen, nur begleitet von einer Harfe. Ein unvergesslicher Auftritt.» Auf diesen folgten noch manche Kindersolis mit bekannten Dirigenten, grossen Orchestern und verschiedenen Chören.

Anna Vichery, Trauersängerin
Während der Ausbildung zur Kindergärtnerin pausierte Anna Vichery mit dem Singen – und sie vermisste es sehr. (Foto: Paolo Foschini)

«Das Singen konnte ich nicht verlernen»

Irgendwann musste sich Anna Vichery entscheiden. «Konsi oder Kindsgi-Semi», sagt die junge Frau. «Meine Mutter empfahl mir, ‹etwas Sicheres› zu lernen. Sie riet mir, ich solle das Kindergartenseminar besuchen. Tatsächlich: Es war eine lässige Ausbildung. Ich liebe Kinder, konnte meine Begeisterung weitergeben, das machte mir sehr viel Freude. Während der Ausbildung pausierte ich mit dem Singen – und vermisste es sehr. Zum Glück ist es wie mit dem Velofahren: Was man einmal richtig kann, verlernt man nicht.»

Im Juni 2003 schloss Anna Vichery ihre Ausbildung am Seminar ab und bereits wenige Wochen später, erhielt sie ihr erstes Engagement als Sopranistin und sang als Geist in der Uraufführung «Poeme ohne Held» von Regina Irman. «Das war mein Karrierestart.»

Anna Vichery begann, bei Barbara Martig-Tüller in Bern Gesang zu studieren. Und dieses Studium finanzierte sie sich mit vielen Bühnenjobs. «Eine Art Learning bei Doing on Stage.» Gefördert wurde das junge Talent u. a. wieder von ihrem ehemaligen Entdecker, dem Baritonsänger Marc Olivier Oetterli.

Anna Vichery, Trauersängerin
«Zeremonien mit meinem Gesang zu begleiten macht mir grosse Freude. Das kann etwa bei einer Taufe sein, bei einer Beerdigung oder bei einer Hochzeit.» (Foto: Paolo Foschini)

Als Eventsängerin diene ich den Menschen

Es folgten Auftritte auf den grossen und kleinen Bühnen dieser Welt. Anna Vichery genoss diese Zeit. Vor vier Jahren begann sie, an ihrem eigenen Projekt zu arbeiten. Diese Idee entwickelte sie nach der Hochzeit ihrer Schwester: «Zeremonien mit meinem Gesang zu begleiten, macht mir grosse Freude. Das kann etwa bei einer Taufe sein, bei einer Beerdigung oder bei einer Hochzeit. Hintergrundmusik mache ich nicht. Die Zuhörenden sollen meine Musik hören und wertschätzen. Als Eventsängerin nehme mich aber zurück. Stelle die Menschen, um die es geht, in den Mittelpunkt. Um mich geht es dann nicht, ich diene den Menschen und der Feier, an der ich singe.»

Anna Vichery, Trauersängerin
«Amazing Grace ist eines meiner Lieblingslieder. Es schafft eine unglaublich berührende Atmosphäre, eine überirdische Stimmung. Musik wirkt, wo Worte fehlen. Die Herzen der Menschen öffnen sich, die Trauer darf fliessen, Emotionen gefühlt werden». (Foto: Paolo Foschini)

Häufig singt Anna Vichery das «Ave Maria»

Als Trauersängerin versucht Anna Vichery natürlich herauszufinden, was dem Verstorbenen gefallen würde. Häufig wünschen sich die Hinterbliebenen das «Ave Maria» oder von Leonard Cohen das «Halleluja». Oft singt die Sopranistin das «Benedictus», ebenfalls als Lobgesang des Zacharias bekannt, sowie «Amazing Grace», eines der beliebtesten Kirchenlieder der Welt. «Amazing Grace ist eines meiner Lieblingslieder. Es schafft eine unglaublich berührende Atmosphäre, eine überirdische Stimmung. Musik wirkt, wo Worte fehlen. Die Herzen der Menschen öffnen sich, die Trauer darf fliessen, Emotionen gefühlt werden».

«Musik und Gesang kann Trauer möglich machen»

Das stimmt. Wer Anna Vichery zuhört, entwickelt starke Gefühle. Ich besonders. Ein Ton genügt, und meine Augen füllen sich mit Tränen. Sie stimmt die wohl berühmteste Arie von Händel an, «Lascia ch’io pianga» und singt einige Takte. Ich kenne diese Musik bestens; als eine Freundin sie anlässlich der Beerdigung meines Vaters anstimmte, konnte ich meine Gefühle nicht zurückhalten, ich weinte in der prallvollen Klosterkirche von Kappel. Stand am Rednerpult, wollte Geschichten aus dem Leben meines Vaters erzählen. Und heulte.

Anna Vichery lässt den Ton ausklingen. Eine Besucherin in der Kirche Thalwil klatscht leise. Die Künstlerin freuts. «Musik, Gesang, kann Trauer möglich machen. Es fliessen Tränen. Der Mensch kann in die Trauer kommen. Ich weiss, meine Musik gibt Kraft. Zuhörende sagten: ‹Sie nahmen mir die Last von der Schulter. Ihr Gesang befreite mich, heilte und stärkte mich›.»

Anna Vichery, Trauersängerin
Anna Vichery: «Musik, Gesang, kann Trauer möglich machen. Es fliessen Tränen. Der Mensch kann in die Trauer kommen.» (Foto: Paolo Foschini)

«Ich bin froh meine Familie, meinen Partner zu haben»

Ob sie selbst schon einen Schicksalsschlag zu verarbeiten hatte, möchte ich wissen. Anna Vichery schüttelt den Kopf: «Bisher nicht. Ich denke oft daran, wenn ich an einer Trauerfeier teilnehme. Ich bin froh, meine Familie zu haben, meinen Partner. Ich bin dankbar in der Schweiz, in diesem schönen, freien Land zu leben. Manchmal spüre ich, was mein grösstes Geschenk als Trauersängerin ist: Die Dankbarkeit für das Leben, für mein Leben.»

Wer an Trauerfeier singt, denkt bestimmt über den Tod nach. Fragt sich möglicherweise, das denn passiere im Augenblick des Sterbens? Fragt sich vielleicht, wo wir denn landen nach dem Stillwerden? Anna Vichery: «Ich habe die Hoffnung, dass es etwas gibt. Einen schönen Ort, wo meine Seele andere Seelen wieder trifft. Angst habe ich keine.» Sie macht eine Pause, schaut mich an. Sagt: «Seit ich mich mit diesem Thema auseinandersetze, beschäftigt mich viel mehr, was ist vorher? Was ist vor dem Tod. Was möchte ich hinterlassen? Wie soll ich meinen Liebsten in Erinnerung bleiben. Das bewirkt sehr viel in meinem täglichen Leben wie ich mit Menschen und Situationen umgehe. Es macht dankbar und demütig»

Anna Vichery, Trauersängerin und DeinAdieu-Autor Martin Schuppli
In der Katholische Kirche von Thalwil dreht sich das Gespräch von Anna Vichery mit DeinAdieu-Autor Martin Schuppli um heitere und ernste Themen. (Foto: Paolo Foschini)

Müsste ich heute Nacht sterbe, gäbe ich vorher ein Abschiedskonzert»

Wir schweigen. Betrachten das Lichtspiel hoch oben in den Kirchenfenstern. Anna Vichery und mir ist klar, irgendwann endet das Leben. Wir wissen nicht, wann, wissen nicht wo, wissen nicht auf welche Weise. Und so frage ich: Wenn du wüsstest, du würdest heute Nacht still und friedlich einschlafen und nie mehr aufwachen, was macht das mit dir? Nach einer kurzen Nachdenkpause sagt die Trauersängerin: «Dann wäre ich dankbar für mein erfülltes Leben, wäre dankbar, meine Berufung gelebt zu haben, dankbar für die Zeit mit einem so tollen Partner an meiner Seite. So könnte ich in Frieden gehen. Es ist okay, ich lebe mein Leben im Jetzt so, dass ich nichts im Unfrieden hinterlasse.» Die fröhliche Frau lacht und sagt dann mit einem Strahlen: «Und ich würde meinem Pianisten telefonieren und gäbe ein Abschiedskonzert für alle, die Zeit hätte, mir zuzuhören.»

«Zuhören», sage ich lachend. «Ich hätte jetzt Zeit».

Und so macht mir Anna Vichery eine Freude, singt die Händel-Arie «Lascia ch’io pianga»

Lascia ch’io pianga

Mia cruda sorte,

E che sospiri

La libertà.

E che sospiri

E che sospiri

La libertà.

Lascia ch’io pianga

Mia cruda sorte,

E che sospiri

La libertà.

Il duolo infranga

Queste ritorte,

De‘ miei martiri

Sol per pietà.

De‘ miei martiri

Sol per pietà.

Lascia ch’io pianga

Mia cruda sorte,

E che sospiri

La libertà.

E che sospiri

E che sospiri

La libertà.

Lascia ch’io pianga

Mia cruda sorte,

E che sospiri

La libertà.

Georg Friedrich Händel

Anna Vichery, Trauersängerin
«Manchmal spüre ich, was mein grösstes Geschenk als Trauersängerin ist: Die Dankbarkeit für das Leben, für mein Leben.» (Foto: Paolo Foschini)

Text: Martin Schuppli, Fotos: Paolo Foschini

Anna Vichery – Sopranistin
Die Sängerin mit Herz – Trauersängerin
www.sängerin.ch
Mobile: +41 76 348 81 21
Übersetzung des Händeltextes. Singfassung
Lass mich mit Tränen
mein Los beklagen,
Ketten zu tragen,
welch hart Geschick!
Ach, nur im Tode
find ich Erbarmen,
er gibt mir Armen
die Ruh zurück.