Erneut erzähle ich eine Geschichte, die mit einem E-Mail begann. Da schrieb mir eine Petra Schuseil, sie möchte mich porträtieren in ihrem Totenhemd-Blog.
Mein Gwunder war geweckt. Zu diesem einen Mail gesellten sich dutzende weitere Nachrichten.
Und dann, einige Wochen waren vergangen, holte ich «di Dütsche» ab am Bahnhof Walenstadt. Ein strahlend schöner Tag wars. Petra Schuseil entpuppte sich als fröhliche Frau. Eine, die gut reden kann. Eine, die es versteht, zuzuhören.
Wir merkten schnell, da treffen sich Gleichgesinnte. Petra wuchs in Bad Kreuznach auf zusammen mit drei Schwestern. «Die Eltern arbeiteten selbstständig, es war die Wirtschaftswunderzeit. Zuerst in der Brauerei-Gaststätte Grosser Felsenkeller. Als Jugendliche halfen wir tüchtig mit im Hotel-Restaurant Salinental. Überall, nur nicht im Service.»
Das Dienen muss in ihren Genen verwurzelt sein. Petra absolvierte die Hotelfachschule und sammelte im Saaner Steigenberger Hotel Sonnenhalde erste berufliche Erfahrungen. «Als ich die Berge sah, das liebliche Tal mit den schmucken Dörfern und mittendrin das tolle Hotel, glaubte ich, hier oben einen Lebensabschnitt zu verbringen.»
Gstaad-Saanen sollte nicht Heimat werden
Die Schickimicki-Atmosphäre des Nobelkurorts war dann doch nicht Petra Schuseils Welt. «Ich lernte viel und habe nun das Dienstleistungsblut intus. Ich kann mich einfühlen in Menschen und weiss, was sie benötigen. Und zwar, bevor sie es wissen. Ich hab’ das Gschpür.» Die junge Frau reiste weiter. Hinauf in den Norden, an die Ostseeküste. Petra: «Irgendwie spülte es mich in die Chefetagen, wo ich als Assistentin eines CEOs brillierte. Ich liebte diese Arbeit, konnte mich einfühlen, konnte dienen. Ich wurde erstklassig. Reiste von Job zu Job.»
Mit 35 machte sich Petra Schuseil selbstständig. «Ich hatte eine Marktlücke entdeckt. Fiel die Assistentin eines CEOs aus, sprang ich ein. Einige Jobs dauerten nur wenige Tage, einige gar drei Jahre. Ich war gefragt, weil ich frei war. Die Grenzen setzte ich.»
Weiterbildung blieb ständig ein Thema
Petra Schuseil liess sich bei Janus-Team-Entwicklung zur Coach ausbilden . «Eine meiner wichtigsten Ausbildungen. Sie war sehr persönlichkeitsorientiert. Ich musste mit mir selbst klarkommen, bevor ich andere anleiten konnte, sich zu entwickeln. Selbst-Bewusstheit, Selbst-Akzeptanz und Verhaltensvaribilität waren wichtige Ausbildungs-Stichworte. Mein Thema für die Abschlussarbeit: ‹Burnout vermeiden, Energie managen›.»
Als Petra die Abschlussprüfung hinter sich hatte, lernte sie ihren Mann kennen und lieben: Heute wohnt sie mit Volker am Zürichsee. Betreibt zusammen mit Freundin Annegret den Totenhemd-Blog, textet, organisiert das Zürcher Death-Café (s. Box) zusammen mit Brigitte Becker, Pfarrerin Johanneskirche Zürich.
In der Metropole die Stille finden
Drei Jahre lebten Petra und Volker in Hongkong. Die 60-Jährige schwärmt von der Weltstadt im südöstlichen China. «Mich begeistern die Gegensätze. Vielleicht weil ich selber gegensätzlich bin. Ich liebe es schlicht, einfach, karg – und ich bin gerne die Fivestar-Lady. Ich liebe es schön, chic und toll. Ich fühle mich einerseits wohl unter Menschen, bin andererseits ebenso gerne alleine unterwegs. Ich liebe die Stille. Ja. Ich kann sie hören. Ich liebe die Einsamkeit.»
Petra Schuseil setzt sich gerne in Kirchen, singt mit im Kirchenchor und spaziert regelmässig durch den Wald. «Wenn ich mich der Stille aussetze, dann atme ich tief durch, fühle mich verbunden mit der Erde, mit dem Himmel. Dann durchströmt mich ein tiefes Glücksgefühl, manchmal spreche ich in solchen Momenten mit Gott, bedanke mich.» Sie schweigt.
«Von Gott mache ich mir kein Bild»
Ich frage, hast du eine Vorstellung von diesem Gott? Petra denkt mit geschlossenen Augen nach, schüttelt den Kopf. «Nein, ein Bild von ihm mach ich mir nicht.» Sie lacht glucksend, sagt dann: «Er findet mich cool, und er ist einer, der mich unterstützt, der an mich glaubt, der mich gut findet.»
Fallenlassen können dank Gottvertrauen
Zwiegespräche würden Sinn machen, sagt Petra und erklärt mir ihr «Gottesbild». «Ich glaube, Gott ist eine Grösse. Das hören wir immer wieder bei Sterbenden. Deshalb fühlen sie sich nicht allein. Gottes Präsenz tröstet.» Sie schweigt, schaut mich mit ihren grossen braunen Augen an. «Mit dem Sterben wirds ganz still. Wer dann vertrauen kann, lässt sich darauf ein, lässt das Leben los, lässt sich fallen. Wissend, Gott wird mich auffangen.»
Den ersten Trauerfall erlebte Petra als der Organist und Kantor des Kirchenchors von Bergen-Enkheim bei Frankfurt am Main starb. Das müsse 2012 oder 2013 gewesen sein. «Bastians Tod hat mich aus den Latschen gekippt. Wir wussten, er hat Krebs und der Tod wird kommen. Die Musik, das Singen, die Chor-Weekends, die Konzerte haben uns zusammengeschweisst. Wir wurden Freunde. Und dann war er tot. Bastian war der erste aus meinem Freundeskreis, der uns für immer verliess.»
Petra Schuseil: «Gottes Präsenz tröstet»
Im September 2014 starb Petras Vater. «Ich übte im Toggenburg an einem Workshop das Naturjodeln, als ich von seinem Tod hörte. Mein Mann hätte mich nicht sofort informiert. Meine Schwester schon. Sie sagte, Vater sei innert weniger Minuten gestorben. In den Armen seiner zweiten Frau.»
Petras Vater hatte Zungenkrebs. Woran er starb, wisse sie nicht. Er sei ein sehr starker Raucher gewesen. Sie liess also das Jodeln sein. Fuhr nach Deutschland. Wollte ihren toten Vater sehen.
Zwiegespräch mit aufgebahrtem Vater
«Vater wurde aufgebahrt, schön hergerichtet», sagt Petra. «Ich durfte alleine sein mit ihm. Hielt Totenwache eine ganze Weile. Er war der erste tote Mensch, den ich gesehen hatte.» Für die Tochter war es der zweite Abschied vom Vater. Als Jugendliche kam sie eines Tages nach Hause, und er war gegangen. Als erwachsene Tochter war sie ebenfalls weg, als er ging.
Wie ihr die Ärztin geraten hatte, nutzte Petra Schuseil die Zeit der Totenwache für ein Zwiegespräch. «Nun konnte ich ihm alles sagen. Das dauerte eine Weile.» Sie legt eine Pause ein. Unterstreicht das Gesagte mit Gesten. «Mir war das sehr wichtig, ihn noch einmal zu sehen. Reden zu können.» Jetzt empfinde sie Frieden und Ruhe. «Ich schrieb was für ihn und gab es ihm mit. Ich schrieb ihm, was ich gut an ihm fand. Er war ein Macher und Schaffer.»
Nach Vaters Tod gings der erwachsenen Tochter schlecht. Vieles hatte sie verdrängt, vieles war lange Zeit verborgen und drängte nun an die Oberfläche. «Ich erlebte Gefühle und Emotionen, die nicht erklärbar sind.»
Totenhemd zu Lebzeiten in den Schrank hängen
Vaters Tod zeigte Wirkung. Petra Schuseil begann sich mit dem Thema Leben und Sterben auseinanderzusetzen. Dabei spielt das Buch «Wir sehen uns» von Claudia Cardinal eine Rolle. Der deutschen Heilpraktikerin ist es ein Anliegen, durch lebensbejahende und lösungsorientierte Ansätze Sterbende und Trauernde von ihrer Sprachlosigkeit und Ohnmacht zu erlösen. «Das beeindruckte mich. Und ich informierte mich bei ihr in Hamburg über die zweijährige Ausbildung zur Sterbeamme.» Die Idee, das Internetprojekt «Totenhemd-Blog» zu nennen, entspringt ebenfalls dem erwähnten Buch. Claudia Cardinal empfiehlt dort, man solle sein Totenhemd zu Lebzeiten in den Schrank hängen.
«Hast du das gemacht?», will ich wissen. Petra Schuseil nickt. Sie wolle im Brautkleid die letzte Reise antreten. Ebenso hat sie sich eine Sterbedecke schneidern lassen. «Und zwar aus den Resten alter Klamotten.»
Eine wichtige Rolle in der Gestaltung der letzten selbstbestimmten Lebensphase spielt Petras blaues Buch. «Da schreib ich alles rein, was dereinst wichtig sein wird. Abschiedsbriefe beispielsweise. Da steht, wer was kriegt. Etwa diesen Ring. Oder es ist die Bitte notiert: ‹Nimm meine Asche und verstreue sie auf dem Peak›.» Patientenverfügung, Vorsorgeauftrag oder Testament, kann das blaue Buch aber nicht ersetzen, sage ich. «Stimmt. Diese Papiere haben wir ebenso ausgefüllt. Sie sind abgelegt im Ordner daneben.» Sagt Petra Schuseil und lacht.
Bei Maja Signer Bärtschi in Bronschofen-Wil belegte die Suchende eine Ausbildung zur Sterbe- und Trauerbegleiterin. «Ich lernte viel für mein Leben. Mir ist klar: Ich bin die Königin meines Lebens. Muss ich einmal auf dem Sterbebett Rechenschaft ablegen, dann mache ich das vor mir selbst.»
Aggressiven Freitod kaum zu akzeptieren
Ihre Endlichkeit sei ihr in der Weiterbildung ganz klar geworden. «Vorher sprach ich oft darüber. Die Konsequenz dieser Endlichkeit kann ich aber erst jetzt begreifen. Mir gehts darum», sagt Petra, «lebe dein Leben jetzt, heute.» Sie schweigt kurz. Lacht. Sagt: «Wenn nicht jetzt, wann dann?»
Und wenn jemand das Gefühl hat, es sei nun genug? Was löst das Stichwort Freitod aus bei Petra Schuseil? Sie sagt, den aggressiven Tod könne sie schlecht akzeptieren. Es mache sie wütend, wenn die halbe Schweiz stillstehe, wegen eines «Personenunfalls» auf den Gleisen. Andererseits findet sie es gut, «haben wir Sterbehilfeorganisationen.»
Petra Schuseil hat keine Kinder: «Ich glaube an das selbstbestimmte Sterben. Und das nehm’ ich vielleicht in Anspruch, wenn es ein prognostiziertes Ende wegen einer tödlichen Krankheit gibt.»
Loslassen müssen löst Panik aus
Und wenn das Leben vorbei ist? Hast du Angst vor dem Sterben, vor dem Tod, Petra? Die Angesprochene denkt nach. Sagt. «Wenn er mich jetzt begrüssen würde, ja, dann hätte ich Angst. Wenn ich 90 Jahre alt bin, soll er kommen.» Sie legt nochmals eine Pause ein. Sagt dann: «Das Loslassen-Müssen löst Panik aus.» Ich frage: Was müsstest du denn loslassen? Petra Schuseil sagt: «Das Leben. Es ist so schön, ich wills nicht hergeben.»
Wenn du heute Nacht sterben müsstest, wenn du still, schmerzfrei einschlafen könntest, was macht der Gedanke mit dir. «Nö, ich will nicht», sagt die Totenhemd-Bloggerin. «Und wenns denn sein soll, organisierte ich ein grosses Fest im Garten. Mit Konzert. Dann sagte ich allen «Tschüss». Ich hatte bis heute eine wunderbare Zeit. Ich lebe privilegiert und dankbar am Zürichsee. Ich habe keine offenen Rechnungen, muss mit niemandem etwas klären. Ich bin gesund. Habe viele Menschen kennengelernt, eine Menge Länder bereist. Ich fühle mich geliebt. Liebe. Und so werde ich mit meinem Mann bis zu meinem Tod schmusen und küssen.»
Es wird Ruhe einkehren. Stille. Dann kann der Tod kommen.
Zentrum Jemanja
Schule für Sterbe- und Trauerbegleitung
Maja Signer Bärtschi, Ifangstrasse 3, Maugwil
9552 Bronschhofen
Telefon: 071 911 03 67
www.jemanja.ch | info@jemanja.ch
Claudia Cardinal, Autorin «Wir sehen uns»
http://www.claudia-cardinal.de/
DeathCafé Zürich
Im sogenannten «Death Café» treffen sich Menschen in ungezwungenem Rahmen, sprechen über den Tod und berichten über Ängste und Hoffnungen… Link