Leben am Meer. Auf einer Insel weit draussen im Atlantik. Dort, wo die Winde warm säuseln und die Wellen unermüdlich an schwarze Strände rollen. Diesen Traum hegte ich ein Leben lang. Mein einstiger Arbeitskollege Ruedi Rohr erfüllte ihn sich. Der Suizo lebt seit bald 30 Jahren auf El Hierro, der kleinsten Insel im kanarischen Archipel.
Die Eiserne «entdeckte» der Journalist und Fotograf während Ferien auf der Nachbarinsel La Gomera. «Eines Nachts fragte ich meine damalige Freundin, was denn das für Lichter seien dort weit draussen.» Sie klärte ihn auf. Das sei El Hierro. Zuhause erzählte er seinem Sohn vom Eiland, dessen Lichter er nachts gesehen hätte. Urs fuhr hin und brachte prächtige Bilder mit nach Hause. Sagte: «Ruedi, das wäre was für dich, diese Insel.»
Ruedi Rohr nahm den Spruch seines Sohnes ernst und fuhr, einige Jahre später, selbst hin, war begeistert. «Ich beendete die Zusammenarbeit mit Ringier, löste die zweite Säule auf und wanderte aus. Völlig unüberlegt.» 52 Jahre alt war er, als er 1991 Auto und Anhänger belud und gen Spanien fuhr. «Ohne weit zu denken, stürzte ich mich kopfvoran ins Abenteuer.»
Er habe immer vom Inselleben geträumt. Von einem Restaurant. Schliesslich wäre er der Meinung gewesen, ein guter Koch zu sein. «Und da es auf El Hierro keine Beiz gibt, wo frischer Fisch serviert wird, kaufte ich mir ein leerstehendes Bergrestaurant mit Meersicht, renovierte es und …». Er macht eine Pause, verzieht die Lippen und sagt: «Es lief komisch.» Das Lachen wirkt etwas gequält. «Die Einheimischen wollten Berge fettiger Pommes und Schwiinigs. Ich hatte andere Ziele. Kochte sogar vegetarisch.» Das Haus erlebte eine bewegte Geschichte, stand sogar zehn Jahre leer. Dann kaufte ihm eine Spanierin das Haus ab. Heute ist «Castaño» zerfallen. Statt zu kochen begann der ausgewanderte Reporter, Ananas zu pflanzen, nachdem das mit den Orangen nicht klappte. «Ananas sind gefragt. Bei den Kunden und bei denen, die Subventionen verteilen.
«Em Tüüfel vom Charre gheit»
Ruedi Rohr wuchs in Zofingen auf. Sagt, er sei der Vorkämpfer gewesen der drei Buben. Die beiden jüngeren Brüder wären schon sehr lang tot. Der eine sei 1964 nach einem Unfall auf Glatteis gestorben, der andere habe an MS gelitten und 1973 den Freitod gewählt. «Wir hatten ein tolles Zuhause. Meine Eltern hätten alles getan für mich. Wirklich. Und trotzdem entwickelten wir Jungs keine spezielle Beziehung untereinander. Überhaupt: Mir fehlte die elterliche Geborgenheit.»
Nach der Fotografenlehre in Rothrist AG verliess Ruedi das Elternhaus. «Da war ich neunzehn. Zu dritt reisten wir hinaus in die Welt. In einem 39er-Chevy, Body by Fischer. Wir durchquerten Titos Jugoslawien sowie den original Ostblock. Reisten durch Syrien, Jordanien bis in den Libanon. Ich fotografierte mit der Hasselblad 6×6.» Später seien sie mit ihrem Diavortrag durch die Region getingelt. Ein Kollege habe von der Reise erzählt und er dazu seine Bilder gezeigt.» Ruedi lacht und haut die flache Hand auf den Tisch. Sagt: «Ich wollte beweisen, dass der einstige Zofinger Stadtpräsi falsch lag, als er sagte, ich sei ‹em Tüüfel vom Charre gheit›.»
«Geklaute» Grosskamera tauchte wieder auf
Von wegen «vom Charre gheit». Das war eine totale Falscheinschätzung. Ruedi Rohr zog früh aus zu Hause, mietete ein Ladenlokal in Zofingen, klebte die Schaufenster ab und lebte dort. Schlief auf einer Matratze. «Es war bitterkalt im Winter», sagt er. 1959 zügelte der junge Mann nach Zürich. Er verkaufte Teppichschaum, zapfte Benzin an einer Tag- & Nacht-Tankstelle, betrieb ein Fotoatelier. Machte sich als Tausendsassa unentbehrlich. Sprüht vor Ideen. Es folgten Jahre bei Fotoagenturen wie Keystone oder ASL. Ebenfalls in dieser Zeit gründete er die Action Press. In der Branche war er als wilder Hund bekannt. Geliebt und gehasst. Es gäbe eine Menge Geschichten zu erzählen aus dieser Zeit.
Beispiel einer verrückten Idee: Für eine exklusive Fotostory auf dem Matterhorn liess Reporter Rohr 1986 eine sehr grosse Nikon-Kamera produzieren, montierte sie auf ein Autodach, fotografierte und dokumentierte alles. Dann versteckte er das Objekt. Meldete es als geklaut. Ruedi lacht: «Logisch tauchte die Kamera Tage später wieder auf. Und mein Projekt war in aller Munde, resp. vielen Medien.»
Später erfüllte die Kamera am Matterhorn auf gut 4000 m ü. M. ihren Dienst. Bergsteigerinnen, Bergsteiger konnten sich davorstellen und mit Selbstauslöser fotografieren. Die Schweizer Illustrierte berichtete am 25. August 1986 in einer grossen Fotostrecke darüber. Zermatt war in Aufruhr. Tragisches Detail: Einer der Fotografierten verunglückte während des Abstiegs tödlich. Mit Rohrs Megakamera hatte er das letzte Bild von sich geschossen.
Ruedi Rohr sagt zu dieser Zeit. «Möglicherweise wirkte ich damals grossgekotzt. Das war ich aber nicht. Der Eindruck, mich könne nichts mehr verblüffen, war falsch. Ich erlebte ebenso meine Ängste. Suchte verzweifelt nach Hammer-Geschichten.» Für den ehemaligen Kriegsreporter und langjährigen Ringier-Chefredaktor Peter Balsiger, 68, gehörte Ruedi Rohr zu den Besten.
Dickes Lob vom Kriegsreporter
Wer für einen wie Peter Balsiger zu den Besten gehörte, der kann noch mehr berichten. Ruedi Rohr nimmt ein Filmbüchsli vom Büchergestell. Zeigt es mir und sagt: «Sieben Mal kam ich mit dem Leben davon.» Dann erzählt er, wie er im Auftrag der SI, vor der kanadischen Küste Eisberge abgeschleppt habe. «Zusammen mit Walter Wolf, dem austro-kanadischen Unternehmer und späteren Formel-1-Rennstallbesitzer. Die Riesenmocken durften nicht in Off-Shore Bohrstationen treiben, drum schleppten wir sie mit der Sea-Wolf weg. Vor allem an die Fahrt zum Eisberg 101 erinnere ich mich noch gut.»
Er lacht in die Kamera von Bruno Torricelli, ebenfalls einer aus der damaligen Ringier-Zeit. «Ich lag in der Kajüte, im oberen Bett und sah meinen Koffer im kniehohen Wasser treiben. Es schmeckte salzig. Ich tippte auf ein Leck. Der Kapitän verharmloste alles, und der Erste Offizier bereitete unsere Evakuation vor. Ich schrieb meiner Familie und packte den Brief in eben dieses Filmdösli. Es ist der Brief eines Mannes, der glaubt, sich vom Leben und von seiner Familie verabschieden zu müssen.» Es war dann doch kein Leck in der Schiffswand, sondern in einem Ballasttank. Bei der Reparatur hatte Ruedi abermals Glück. Als eine Gasflasche in der Werft explodierte, wurde ein Arbeiter getroffen und starb.
Knapp dem Tod entrann Ruedi Rohr ebenso im November 1972 auf den Malediven. Der SI-Reporter war eingeladen auf eine Rundreise durch Indien und Nepal mit Abstecher auf die Malediven. «Wir unternahmen dort einen Ausflug zu den Einheimischen auf eine andere Insel. Ich versprach, frische Fische heimzubringen.» Er nippt an einem Glas Wasser und spricht dann weiter: «Wir verspäteten uns. Es wurde dunkel. Ich fragte den Schiffsführer, kennst du den Weg? Er nickte eifrig, erklärte, ‹wir haben einen siebten Sinn, wissen, wo es langgeht.› Später fiel sein Funkgerät ins Wasser im Boot. Der Mann fuhr trotzdem einfach los. Die Wellen wurden stärker, die Passagiere aufgeregter.» Nur einer soll cool geblieben sein: mein Freund Ruedi. Er strahlt, geniesst das Erzählen. «Das Benzin ging aus. Wir schaukelten in stockdunkler Nacht hilflos in den Wellen.»
«Hattest du Angst?», frage ich. «Schicktest du ein Stossgebet hinauf in den Himmel?» Ruedi lacht. «Schpinnsch? Sicher nicht. Ich hätte keinen Schimmer, woran ich glauben soll. Bestimmt betete ich nicht. Wäre ja noch schöner. Da geht einer nie in die Kirche, glaubt nicht an Gott und bittet ihn dann im Notfall um Hilfe.» Scheinbar wurden die Gebete der Mitreisenden erhört. Die Rettung nahte, und Ruedi Rohr konnte sein Fisch-Grillfest doch noch veranstalten.
Nach Biopsie mit einem Bein im Grab
Mit einem Bein schon fast im Grab wähnte sich Ruedi nach einer Biopsie der Prostata. Sie sei aus dem Ruder gelaufen. Ruedi Rohr erlitt eine Sepsis und wurde von Tochter Simone mit 41,8 Grad Fieber ins Triemlispital abgeliefert. Er erinnert sich. «Ich lag da und dachte, jetzt ist es soweit. Jetzt gehe ich, sterbe. Angst hatte ich keine. Ich blieb gelassen. Befand mich zwischen Leben und Tod. Akzeptierte, was geschah.» 14 Tage vorher verbrachte der Journalist Ferien in Kenia. «Darum wurde ich zuerst gegen Malaria behandelt. Meine Tochter und das Spital retteten mir das Leben.»
Der Tod hatte also bereits einige Male angeklopft, und war dann immer wieder von dannen gezogen. Im August 2018 schickte er seinen Kumpel, den «Schmerz». Er sollte Ruedi aus der Komfortzone schmeissen.
Zwei Auszüge aus dem Tagebuch:
August 2018. El Hierro. Ich steh vom WC auf, verliere während einiger Sekunden die Besinnung und stürze auf den Hinterkopf. Zwei Wochen später: Sturz vom Bürostuhl – wieder auf den Hinterkopf. Keine Verletzungen, keine Prellungen. Wenig Schmerzen.
Februar 2019. El Hierro. Auf dem Weg ins Bett verliere ich für eine Sekunde das Bewusstsein. Sturz. Kurze Erblindung. Erbrechen. Fürchterliche Schmerzen. Erneute Fahrt ins Spital.
Wollten wir nun detailliert erzählen, welche Schmerz- und Spital-Odyssee begonnen hatte, sprengte das den Rahmen dieser Geschichte.
Schmerztabletten machten süchtig
Im Inselspital von Valverde fand niemand einen «Schaden». Trotz Einsatz moderner Geräte. Der vor Schmerzen schreiende Mann musste Nächte in der Zwangsjacke durchleiden, erhielt unzählige Spritzen, schluckte stärkste Medikamente. Wurde opiatsüchtig.
19 Tage lag er im Spital von Valverde auf El Hierro, der kleinsten der sieben kanarischen Inseln. Er mochte nichts mehr essen, magerte 20 Kilo ab und verlor sich zeitweise in einem Meer von Schmerzen. Dazu gesellten sich Wut und Frust. Eine grenzenlose Ohnmacht. Der Spitalaufenthalt war für Ruedi Rohr die Hölle. Er und seine Angehörigen sehnte den Repatriierungsflug herbei. Im Rega-Jet nach Zürich. Ab in die Quarantäne-Station des Spitals Limmattal. Ruedi Rohr: «Ich fühlte mich in guten Händen – trotz Schmerzen im Kreuz.»
Es stellte sich heraus, in Ruedi Rohrs Rücken waren zwei Lendenwirbel gebrochen. Untersuchungen und Operationen fanden im Balgrist statt, und so musste der 80-Jährige unzählige Fahrten zwischen dem Balgrist-Spital am Zürichberg und dem Spital Limmattal in Schlieren ZH erleiden. «Jede einzelne Verlegung erlebte ich als fürchterliche Tortur. Als Ritt in die Hölle»
Samstag, 16. März 2019. Viereinhalbstündige Operation im Balgrist. «In meinen Lungen hatten sich 1,3 Liter Wasser angesammelt. Sohn Urs erfuhr nach der Arztvisite, also noch vor dem Eingriff, dass ich ohne Rücken-Operation und ohne Behandlung der Lungen in wenigen Tagen tot wäre.» Er drückt sich die Hände vors Gesicht. «Es folgten Tage voller Schmerzen im Spital Limmattal – mit zwölf Schrauben im Rücken. »
April 2019. Zweite Operation. Schraube umplatziert. Der Arzt entschuldigte sich später für diesen Eingriff. Beim Patienten bleibt ein ungutes Gefühl. «Ich weiss», sagt Ruedi Rohr, «Rega sei Dank. Ohne Repatriierungsflug wäre ich im Spital von Valverde gestorben. Und im Balgrist hat mir die Operation das Leben gerettet. Danke Urs & Anita, danke Simone, danke Susie.» Er schaut uns an, in seinen Augen glänzen Tränen.
Gebrochene Wirbel sorgten für Schmerzen
Vor dem Sturz am 15. Februar 2018 wog Ruedi Rohr 88 Kilo, jetzt, bei Antritt der Reha in Davos-Clavadell waren es 66 Kilo. Er sollte zunehmen. Er lacht. «Um meinen Appetit anzuregen, gabs vor dem Essen San Bitter, das rote, leicht bittere, alkoholfreie Aperitif-Getränk.» Und täglich habe er ein Physioprogramm absolviert. Die Pflegerinnen und Pfleger seien alle sehr lieb gewesen. Besorgt und hilfsbereit. «Eine andere Welt.»
Der langsam genesende Mann erlitt Hochs und Tiefs. «In Davos-Clavadell wohnte ich im vierten Stock. Anfang April rollte ich auf den grossen Balkon hinaus und überlegte, ob ich runterspringen solle. Ich hätte es nicht geschafft.» Einmal aber sei er um drei Uhr in der Früh erwacht und habe sterben wollen. Einfach nichts mehr essen und trinken. «Ich war ja bereits ziemlich abgemagert, viel fehlte nicht mehr. Es würde klappen, da war ich mir sicher. Nichts mehr essen und trinken – bis zum Tode.»
Der Nachtarzt verstand es, den Verzweifelten zu beruhigen und ihm aufzuzeigen, wie aussichts- und sinnlos sein «Verhungern» wäre. Den plötzlichen Sterbewunsch konnte sich Ruedi Rohr abermals nicht erklären. Er sagt: «Es ging aufwärts, meine Gedanken waren positiv. Wenn nur die Rückenschmerzen nicht gewesen wären.» Rückblickend, sagt Ruedi, beschleiche ihn das Gefühl, seine Sterbegedanken hätten irgendwie mit den Narkosen zusammengehangen.
Schmerzen: Das Martyrium hielt an
Am 17. Mai holte Sohn Urs seinen Vater ab im Bündnerland und quartierte ihn bei sich in Zürich ein. Ruedis Schmerzen wurden stärker. «Ich wollte aufstehen, aber mir tat jede unkontrollierte Bewegung extrem weh. Die Schmerzen nahmen täglich zu, ich sass am Tisch, zitterte, jammerte und schrie.»
Kein Zustand für Urs und Anita. Sie brachten den Geplagten in den Notfall im Balgrist. Ruedis Sohn mobilisierte den Arzt, der ihn operiert hatte. Endlich ging alles schnell. Der Chirurg verschrieb dem Patienten gegen die Schmerzen gleich zwei verschiedene Opiate. Und mit Pia fand Ruedi kurz darauf eine passende Physiotherapeutin. Sie konnte er zu Fuss, mit Rollator, aufsuchen. Eine Erleichterung. Das Schönste: Pia vollbrachte Wunder, und die Opium-Pillen sorgten für Schmerzfreiheit –sowie für Verstopfung. Also setzte der Patient auf «Übungen machen» und liess die Süchtigmacher konsequent weg.
«Ein Fehler», sagt Ruedi. «Die Entzugserscheinungen waren fürchterlich. Ich fiel in eine starke Depression, zitterte, schlotterte und vergoss immer wieder Tränen. Trotzdem: Ich hielt durch und schlucke seither keine Opiate mehr.»
Mitte Juli 2019 reiste Ehefrau Susie aus El Hierro an. «Erst als sie da war, wurde mir bewusst, wie sehr ich sie vermisst hatte.» Jetzt begann ein anderes Regime: Susie schlug vor, er soll den Stock nutzen, statt mit Rollator zu gehen. Und siehe da. «Nun kann ich mit Stock gehen. Und die Spitex brauche ich ebenso wenig.»
Rasch heim – nach El Hierro
Logisch lockt mit jedem (annähernd) schmerzfreien Tag die Rückreise auf seine Insel. «Ich möchte heim zu Susie, heim ins Haus.» Wann es soweit ist, weiss niemand. «Derzeit nehme ich Tag für Tag, schmiede keine Pläne», sagt Ruedi Rohr. Etwas Bammel macht ihm der Flug. «Wegen meiner Lunge. Als COPD-Patient brauche ich dann und wann zusätzlichen Sauerstoff. Deshalb muss ein tragbares Sauerstoffgerät mit.» «Und wann kommst du wieder nach Zürich?», frage ich. «Ich komme wohl nicht mehr», sagt er, «wenn es denn soweit ist, sterbe ich auf meiner Insel.» Er schaut mir in die Augen. Schweigt. Sagt dann: «Die Rega holt mich wohl kein zweites Mal.»
«Meinst du?», frage ich. «Macht dir das Angst?» «Nein. Wenn ich daran denke, fürchte ich mich vor den Umständen, die zum Sterben führen. Da ich COPD-Patient bin, droht mir ein Erstickungstod. Davor fürchte ich mich.» Aber das soll nicht der Schluss dieser Geschichte sein. Ruedi Rohr sagt: «Jetzt will ich leben, weiterleben, überleben. Und das Beste daran: Ich muss nichts mehr.»
Text: Martin Schuppli, Fotos: Bruno Torricelli