Kerstin Rödiger: «Rund um Geburt und Tod geschieht Heiliges»

Ob der letzte Weg ins Licht führt, weiss die Theologin und Spitalseelsorgerin Kerstin Rödiger nicht. «Das weiss niemand. Den letzten Sprung, den Gang ins Unbekannte macht jeder, macht jede allein.»

Wir treffen die Spitalseelsorgerin Kerstin Rödiger im Universitätsspital Basel. Und zwar noch in der Corona-Zeit. Die 44-jährige Mutter von zwei Kindern begleitet Menschen in verschiedenen Abteilungen. Etwa in der Frauenklinik, auf der Intensivstation sowie in der Schwangerenabteilung. «Es sind tragische Momente», sagt Kerstin Rödiger, «wenn ein Leben bei der Geburt endet. Wenn das Kind stirbt. Oder seine Mutter. Oder gar beide. Das ist so eigentlich nicht vorgesehen.» Ein Tod im vermeintlich schönsten Moment belastet neben den Angehörigen die Mitarbeitenden. «Für sie bin ich ebenfalls da.»

Mit der Geburt beginnt das Leben, und es endet mit dem Tod. Dieses Gesetz ist allgegenwärtig, unumstösslich. Und obwohl es uns allen bekannt sein sollte, spürt Kerstin Rödiger bei der Arbeit, wie wenig Platz wir den Gesprächen über Leben und Sterben einräumen. «Wenn ich in einer Runde sage, ich arbeitete im USB in der Seelsorge, herrscht meist ein Moment Schweigen, dann folgt ein Themenwechsel. Ich verstehe das. Wir leben auf einer Insel der Glückseligkeit. Uns gehts gut, zumindest tobt bei uns kein Krieg. Wir sind versichert, sind privilegiert. Da ist Krankheit, der Tod, das Sterben scheinbar weit weg. Wir haben so vieles unter Kontrolle, vom Busfahrplan bis zu den Versicherungen gegen alles Mögliche und Unmögliche. Menschen in Brasilien erleben den Alltag da ganz anders. Ein Bus kommt vielleicht irgendwann. Das ist ein anderes Grundlebensgefühl. Flexibilität ist immer gefragt.»

Und weiter sagt Spitalseelsorgerin Kerstin Rödiger: «Rund um die Geburt, und ebenso beim Sterben, geschieht Heiliges.» In diesen Momenten sei Gott spürbar oder zumindest ein Raum für etwas Grösseres. «Das Heilige ist das ‹momentum faszinosum›.» Sie schweigt. Lässt ihre Worte wirken. Sagt: «Diese Momente, Geburt und Tod, erschüttern, gehen bis ins Mark, ziehen einen an und faszinieren.» Kerstin Rödiger legt die Finger aneinander. Sagt: «Sie lassen uns erschauern, erzittern und bringen uns an unsere Grenzen und an die Grenzen dieser Welt – und manchmal darüber hinaus.»

Spitalseelsorgerin Kerstin Rödiger
«Geburt und Tod erschüttern, ziehen einen an.» Sagt Kerstin Rödiger. «Sie lassen uns erschauern, erzittern.» (Foto: Ueli Hiltpold)

Mit dem Tod endet, was lange verbunden war

Eine Geburt abwarten, kann der Grund sein, das Sterben etwas hinausschieben zu wollen. Die Spitalseelsorgerin erzählt uns eine Geschichte, die ihr eine Angehörige in einem Gespräch über Suizid und Sterben anvertraut hat: Die Grossmutter hatte Unterleibskrebs: «Sie wollte aber unbedingt noch das Enkelkind sehen. Sie betete, schaffte es allein mit ein paar Aspirin und dem eigenen Willen, singend und betend zu warten, bis das Kind zur Welt kam. Zwei Tage danach starb die Kranke.»

Sterben ist in vielen Fällen ein einsamer Moment. Etwa beim Vater des Autors: Er starb am frühen Abend, als er für einen Moment allein war. Kerstin Rödiger sagt dazu: «Sterben ist ein Weg, den jeder, den jede allein gehen muss. Und wenn die Verbindung zu den Zurückbleibenden noch so gross war.» Sie schweigt kurz, nimmt einen Schluck Café. «Ich erinnere mich an einen Ehemann, der nach einer Reanimation nicht mehr aufwachte. Seine Frau würde sein Sterben begleiten und hatte mich gebeten, in diesem Moment da zu bleiben. Es kam völlig überraschend, doch hier und jetzt würde ihr gemeinsamer Weg enden. Ich spürte ihre grosse Verbundenheit. Sie hielt seine Hand, und ich wartete für mich betend und aufmerksam im Hintergrund. Als sie schliesslich die Hand ihres Mannes losliess und sich von ihm löste, sagte sie: ‹Ich habe gesehen, wie er ins Licht ging. Ich habe ihn das letzte Stück allein gehen lassen müssen›.»

Ehefrau «sah», wie ihr Mann ins Licht ging

Diese schwierigen Momente von Tod und Abschied sind gekennzeichnet durch einen Kontrollverlust, und dann kann die Seelsorgerin begleitend helfen. «Oft besteht meine Arbeit darin, der Wahrheit ins Auge blicken zu können. Loslassen und Neuanfangen sind vielleicht gerade deshalb Schwerstarbeit, weil wir so viel unter Kontrolle haben. Doch irgendwann geht es nicht mehr weiter wie bisher. Irgendwann muss die Einsicht kommen: ‹Jetzt trennen sich unsere Wege›. Im Spital konnte ich mit den Angehörigen dafür meist nur die ersten Schritte gehen, dann müssen die Menschen allein, bzw. mit Ihrem Umfeld klarkommen. Und viele können es sehr gut. Menschen sind unglaublich lernfähig.

Spitalseelsorgerin Kerstin Rödiger
«Geburt und Tod erschüttern, ziehen einen an.» Sagt Kerstin Rödiger. «Sie lassen uns erschauern, erzittern.» (Foto: Ueli Hiltpold)

Wahrhaftigkeit als Wundermittel

Kerstin Rödiger leistet mit dem ökumenischen Seelsorgeteam ebenfalls Notfalldienst. Dieses Nottelefon ist immer besetzt. «Habe ich Pikett, muss ich rasch vor Ort sein. In einem Moment schleck ich noch ein Eis am Rhein, im nächsten muss ich schnell los und mit allen Sinnen präsent sein, gefasst auf das Schlimmste.» Sie erinnert sich an die Situation, als ein Vater unverhofft im Sterben lag. Mutter und Kind wurden ins Spital geholt, damit das Kind die Chance habe, sich von ihm zu verabschieden. «Die Angehörigen wussten erst seit Kurzem, wie schlimm es um ihn stand», sagt sie.

Eine schwierige Situation. Kerstin Rödiger: «Da fragte ich mich, welche Rolle nehme ich ein? Zunächst muss ich abklären: Wo erfährt das Kind was? Wer muss es ihm sagen? Wer gibt dem Kind Sicherheit?» Sie schaut uns fragend an. Sagt dann: «Das Kind war sehr stark mit seinem Vater verbunden. Oft ist es gut, wenn jemand von aussen diese Situation begleiten kann.» Das Kind sei sehr klar gewesen im Kopf und hätte sich ein Gespräch mit der Ärztin gewünscht. Es habe die Fakten wissen wollen, und zwar ganz genau, ohne Umschweife. «Es fragte sie ebenfalls: ‹Gibts ein Wunder?›. Die Ärztin hielt diesen Moment aus und blieb ehrlich. Sagte: Ich habe noch niemanden wiederaufstehen sehen mit diesen Symptomen.»

Solche Aussagen fallen allen sehr, sehr schwer. Es braucht Mut, um wahrhaftig zu sein. Die Ärztin schaffte es und ermöglichte so, diesen Weg als Abschied zu gehen. Hätte sie irgendwie von einem Wunder gesprochen oder wäre dem ausgewichen, hätte sich das Kind wahrscheinlich daran festgehalten und sich nicht verabschieden können. Auch ich hätte dann den Abschied nicht begleiten können.»

Mut gefunden, Abschied zu nehmen

Kerstin Rödiger ging mit dem Kind und der Mutter zum Vater. Die beiden setzten sich ans Bett des Sterbenden. «Nach einer Weile mit viel klagen und weinen machte sich eine gewisse Erschöpfung breit. Also riet ich, mal rauszugehen, zu reden, durchzuatmen.» Beim zweiten Mal habe das Kind das Zimmer anders betreten. Es habe nun den Mut gehabt, Abschied zu nehmen. Etwas später habe es wieder einen Moment gegeben, an dem Kerstin Rödiger gefragt habe, «wollen wir nochmals nach draussen gehen». Das Kind sei aufgestanden und habe sein Taschentuch unter das Kopfkissen des Vaters geschoben.

«Dann gingen wir sogar ganz raus, verliessen das Spital. Wir spazierten zum Brunnen am Petersplatz und blieben stehen, redeten wenig, aber lauschten und liessen die Bilder nachwirken. Ich erinnere mich gut an einen zwitschernden Vogel. Auf dem Rückweg, entschied das Kind, nicht mehr zum Vater zurückzukehren. Sie fuhr nach Hause. Am nächsten Morgen starb er.»

Spitalseelsorgerin Kerstin Rödiger
«Jeder hat seine Aufgabe, jeder bekommt Talente», sagt Kerstin Rödiger. «Und daraus gilt es sein Leben zu gestalten.» (Foto: Ueli Hiltpold)

Der Gedanke an den Himmel kann Mut machen

Und wie stirbt der Mensch, möchte ich von der Seelsorgerin wissen. Sie sagt: «Der Mensch stirbt so, wie er gelebt hat. In diesem allerletzten Moment können weder Freunde herbeigezaubert noch verpasste Versöhnungen aufgeholt werden. Auf dem Weg zum Sterben schon, darin liegt die grosse Chance, diesen letzten Weg als ‹Zielgerade› anzuerkennen. Aber der Schluss ist der Schluss. Oft können Menschen gut loslassen und wirklich in Frieden sterben, wenn sie darauf vorbereitet sind und loslassen schon im Leben eingeübt haben.»

Was antwortet Kerstin Rödiger auf die Frage, ob es eine Pflicht gibt zu leben? Zuerst lächelt sie uns an, sagt dann: «Jeder hat seine Aufgabe, jeder bekommt Talente. Und daraus gilt es, sein Leben zu gestalten.» Nichts sei schlimmer, als am Ende sagen zu müssen: «Ich habe doch gar nicht richtig gelebt!» Daher sei es eine ihrer Aufgaben, immer wieder danach zu fragen, was die Person will, was sie kann und was sie noch braucht, um genau das zu können und zu wollen. Oft braucht es jemanden, der von ganzem Herzen zuhört und nachfragt. Aber jeder, jede bleibt Expertin, Experte ihres, resp. seines Lebens, das kann uns niemand abnehmen. Vielleicht ist das so etwas wie eine Pflicht: Ich muss mein Leben leben. Niemand anders kann mein Leben leben.»

Kerstin Rödiger hält inne, unterstreicht ihre Worte mit starken Gesten: «Nochmals, ich glaube das Leben ist kein Paradies – trotz vermeintlicher Sicherheiten. Doch Menschen sind unglaublich, voller Kraft und Intelligenz, voller Mitgefühl und Weisheit – aber jede, jeder ist andererseits aus Staub gemacht und kehrt dazu zurück. In dieser Spannung entfalten wir unser Leben mit unseren Talenten und angesichts unserer Herausforderungen. Das kann mir niemand abnehmen. Aber ich hoffe, wir helfen uns gegenseitig, die Talente zu finden und die Herausforderungen auszuhalten.»

Spitalseelsorgerin Kerstin Rödiger
Der Gedanke an den Himmel könne Menschen Mut machen, den Weg wahrhaftig und achtsam zu gehen, sagt Kerstin Rödiger. (Foto: Ueli Hiltpold)

Gott sieht man nicht, er ist wie der Wind

Und dann frage ich Kerstin nach den Gottesbildern. Nach dem lieben Gott. Dem strafenden Gott. Dem Gott, der lenkt und denkt. Sie nickt, sagt: «Es gibt diese Gottesbilder. Das Bild vom grossen Richter. Und wir seien die Marionetten. Das Schicksal bestimme, Gott bestimme.» Sie lacht. «Gott ist wie der Wind, man sieht ihn nicht. Gott ist Geisteskraft. Im Hebräischen heisst es die ‹Ruach›. Sie ist eine Kraft, sie weht zwischen uns. Diese Präsenz spüre ich in vielen Begegnungen.»

Wir schauen uns an. Kerstin Rödiger sagt: «Meine Aufgabe ist es, den Menschen zu begegnen. Dazu gehört sicher nicht, sie vor Strafe zu warnen. Ich möchte präsent sein. Möchte suchen und herausfinden, was hilft, was überhaupt aushaltbar ist.» In solchen Momenten könne der ‹Himmel› eine Hilfe sein, sagt Kerstin Rödiger. Der Gedanke an den Himmel könne Menschen Mut machen, den Weg wahrhaftig und achtsam zu gehen. «Wichtig ist, jemand kann das Loslassen gestalten, kann eigene Bilder des Trostes suchen.»

Hier gilt ebenso: Betroffene müssen Trauer aushalten, müssen einen Weg finden, dem Schmerz zu begegnen, die Tränen fliessen zu lassen. Und in diesem Moment brauchen viele einen Trost-Anker. Das kann beispielsweise die Vorstellung des Himmels sein.

Und wie begegne ich jemandem, der in Trauer ist? Kerstin Rödiger: «Bleib wahrhaftig. Sag es, wenn du nicht weisst, was du sagen sollst. Frag, ob du helfen könnest. Sag, es tue dir leid.» Auf keinen Fall sollte jemand davon ausgehen, wer in Trauer sei, wolle nicht darüber reden. «Klar, es gibt Menschen, die lehnen ein Gespräch ab. Aber genauso gibt es Menschen, die froh sind, wenn sie über das Erlebte reden können. Wenn jemand Fragen stellt.»

Spitalseelsorgerin Kerstin Rödiger
Die katholische Spitalseelsorgerin Kerstin Rödiger und DeinAdieu-Autor Martin Schuppli in der Empfangshalle des Universitätsspitals in Basel. (Foto: Ueli Hiltpold)

«Ich bin überzeugt, ich werde erwartet»

«Hast du vor dem Sterben Angst?», frag ich. Kerstin Rödiger schüttelt den Kopf. «Nein, nein. Ich möchte die Kinder nicht verlassen, das würde mir Mühe bereiten.» Sie schweigt, sucht nach Worten. «Die Frage nach dem Wiederkommen kann ich nicht beantworten. Ich glaube eher nicht.» Ich erzähle ihr vom verstorbenen Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch. Der gab zur Antwort, als ihn ein Journalist fragte, ob er an die Wiedergeburt glaube: «Ich bin überzeugt, ich werde erwartet.» Das könnte Kerstin Rödiger sofort unterschreiben. Sie sagt: «Mehr sogar, das ist eine überzeugende Kurzfassung meines Glaubens.»

Text: Martin Schuppli, Fotos Ueli Hiltpold

Wie Kerstin Rödiger die Corona-Zeit erlebte lesen Sie hier

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