Corona-Zeit: Die Leere fasziniert und bedrückt

Bald dauert die Corona-Zeit drei Wochen. Wir halten uns alle an die Regeln, nehmen Rücksicht und zeigen Solidarität. Die Leere der Welt bedrückt und fasziniert. DeinAdieu-Autor Martin Schuppli berichtet aus seiner Mikrowelt.

Corona-Zeit. Mittwoch, 1. April 2020, Tag 15 der Sondermassnahmen. Was machts mit mir, was machts mit uns? Was geschieht hier bei mir im Sarganserland, was bei Alois in Luzern, bei Ueli in Belp, bei Freunden im Rheintal? Hier ein Bericht aus den Mikrowelten in meinem Netzwerk.

Erstens sei gesagt, ich respektiere die Massnahmen des Bundes. Ich gehe nur selten posten. Halte mich von den Menschen fern. Wasche meine Hände, nutze Desinfektionsmittel. Bilbo und ich waggeln alleine. Andere Hündeler grüsse ich winkend. Über den Bach «Schils» rufen wir uns aufmunternde Parolen zu. «Blib gsund!» Die Zauberworte seit 15 Tagen.

Es ist eine kleine Welt, die mir da zu Füssen liegt. Das Haus, der erwachende Naturgarten mit seinem Teich, das stille Städtchen. Ich blick auf den See und in die Berge. Seit 15 Tagen war ich nicht mehr im Pizolpark Mels. Ich, der ich leidenschaftlich gerne in grossen Migros-Zentren einkaufe. Was machen wohl alle Bekannten, die dort arbeiten? Die Blumenfrauen etwa. Bei ihnen kann Bilbo jeweils auf den Chef warten. Die kurzen Gespräche im Laden fehlen mir. Etwa der Schwatz mit dem freundlichen Verkäufer an der Frischfisch-Theke. Oder die aufmunternden Grussworte kommunikativer Zeitgenossen. Etwa von Frau Brunner. Sie und ihr Team kümmern sich bei TeliO Line um die Reinigung meiner Hemden. Im Homeoffice-Modus kann sie die nun weder waschen noch bügeln. Deshalb trage ich T-Shirts. Wer weiss, wann die Hemdenzeit wieder anbricht. Und weil mir Anita von «Stylehair» die Haare nicht schneiden darf, lasse ich mir gleich einen Bart stehen. Aber ehrlich, seit 14 Tagen stören mich die Haare im Gesicht.

Corona-Zeit Martin Schuppli mit Notebook
Archivbild: DeinAdieu-Autor Martin Schuppli mit Notebook im Garten. (Foto: Ueli Hiltpold)

Erstaunlich, wie wir die Solidarität leben

Überhaupt. Mein Leben ist stiller geworden. Wenn ich nicht im Schwatzgeschäft schweige und schreibe, gucke ich zu Hause oft in den Gartenteich. Dort legte eine Grasfröschin ihren Laich ab. Mittlerweile zappeln erste Kaulquappen in den Eiblasen. Die Stärksten haben bereits die durchsichtigen Hüllen durchbrochen und beginnen, kräftig schwänzelnd den Teich zu entdecken. Dicke Wasserläufer sind da bereits länger am Werk.

Zum täglichen Morgenritual gehört die Cafépause draussen an der Sonne. Wir konsumieren Online-News, blättern im Tagi sowie im BLICK, lesen den Sarganserländer. Ich erzähle, was ich in Podcast-Sendungen gehört habe. Meine Partnerin deckt mich mit neuesten Zahlen ein. Beide sind wir erstaunt, wie «einfach» es ist, Solidarität zu leben. Rücksicht zu nehmen. Die ver-rückte Stille dieser Corona-Zeit auszuhalten.

Corona-Zeit: Leerer Garten
Corona-Zeit im Garten. Eine Bernerin geniesst ihren Sitzplatz in der Berner Matte. (Foto: Ueli Hiltpold)

Noch ist der Worst Case nicht eingetreten

Aber ehrlich. Ich kenne niemanden, der an Covid-19 erkrankt ist. Eine Bekannte erzählt mir, die Familie ihrer Schwägerin lebe in Quarantäne. Sie seien alle drei mit dem Corona-Virus infiziert. Aber ihnen gehe es gut. Und sonst? Hausärzte hätten Personal nach Hause geschickt und Kurzarbeit angemeldet, sehe ich im TV. Spitäler seien halb leer, heissts. Alle warten wir auf die Explosion der schweren Krankheitsfälle. Auf den Worst Case, der bisher nicht eingetreten ist. Zum Glück.

Bereits werden erste Stimmen laut, die von Lockerung der Massnahmen reden. Ich bin ratlos. Vielleicht, weil ich Politikern, Politikerinnen aus dieser Ecke selten mein Gehör schenke.

Trotzdem bleibt die Frage: Macht der Bundesrat auf Panik, haben die Behörden unserer Nachbarländer überreagiert? Sind die Dänen die Coolsten oder was oder wie? In einigen Tagen werden wir anhand neuer Zahlen mehr wissen.

Corona-Zeit.Alois Birbaumer auf Münsterterrasse
Archivbild. Alois Birbaumer auf der mittlerweile geschlossenen Münsterterrasse in Bern. Im Hintergrund die Kornhausbrücke. (Foto: Daniela Friedli)

In Luzern den Mikrokosmos erleben – dank COVID-19

Mein Freund Alois Birbaumer schrieb mir am 1. April:

Meine Wohnung war bis anhin eine Art «Intermezzo», da habe ich viel gelesen und ging regelmässig ins naheliegende Arlecchino, um meinen Espresso zu trinken. Ich hörte Musik, habe Freundinnen, Freunde eingeladen und nutzte die Küche vor allem zum Kochen für Gäste aller Art. Logisch benutze ich meine Wohnung ebenfalls zum Schlafen. Und jetzt? Jetzt ist sie mein «Leben», meine «Welt». Ab Montag, 16. März 2020, wird sie zu meiner kleinen Welt, zu meinem Mikrokosmos. Ausser dem Schlafen ist alles anders: lesen ohne Espresso. Kochen ohne Freunde, Freundinnen. Essen im Alleingang. Der Balkon gibt mir etwas Luft, das Gefühl der weiten Welt. Die Freunde erlebe ich nur noch virtuell, den Akku des Handys muss ich nun zwei- bis dreimal täglich aufladen, früher reichte es jeden zweiten Tag.

Die Kommunikation läuft offenbar je nach Kultur verschieden. Mit einer Freundin in Leipzig schloss ich ein ganz besonderes Agreement. Wir senden uns täglich ein Foto mit entsprechendem Kommentar. Mit meinen Amici in Italien führe ich vorwiegend lange, ausgiebige Telefongespräche. Mit den Schweizer Freundinnen, Freunden – wie könnte es anders sein – kommuniziere ich per Telefon, mit SMS, WhatsApp oder mit Mails und Video-Telefonie, also Skype. Mein Auto benutze ich nicht mehr für Fahrten ins geliebte Leipzig. Ebenso ist eine Fahrt in die Toscana, meine langjährige Heimat, unmöglich. Nicht mal zum Golf spielen fahre ich. Wenn, dann bringt mich mein Auto jetzt an einen einsamen Ort. Einen Ort, der möglichst menschenleer ist und wo ich mich in der Natur bewegen kann.

Die Natur erlebe ich nun anders, im Alleingang. Eine neue Art, das Plappern des Baches zu interpretieren, das Gezwitscher der Vögel zu verstehen, die Kraft der Blumenfarben zu inhalieren. Einmal einfach still sein. Nicht schwatzen, nur denken. Was mich bei diesen Wanderungen erstaunt, mir kommen drei Stunden wie dreissig Minuten vor. Und was ich dabei alles entdecke, erlebe, erfahre, ist ein Mehrfaches als vor der Corona-Krise.

Corona-Zeit: Paar überquert leeren Berner Bahnhofoplatz
Späte Heimkehr in die leere Stadt. Szene in der Corona-Zeit vor dem Bahnhof in Bern. (Foto: Ueli Hiltpold)

Corona-Zeit: Musse für ein Glas Prosecco

Das Essen bringt mir mein Sohn, resp. seine Freundin. Er/sie steht beim Lift, ich vor der Haustüre, Distanz über zwei Meter. So kann ich anstelle eines virtuellen Schwatzes wenigstens kurz einen direkten Kontakt pflegen.

Nach einem längeren Telefongespräch mit Martin wächst der Wunsch, wieder einmal bei ihm vor dem Atelierhaus hoch über dem Walensee zu sitzen. Etwas zu trinken und eine kubanische Zigarre zu schmauchen. Das lässt sich vorläufig nicht realisieren. Stattdessen setze ich mich auf meinen Balkon, wo am späteren Nachmittag die Sonne die letzten Strahlen hinsendet. Und die landen mitten im Gesicht der Skulptur mit dem sinnigen Namen «Der Einsame». Versehen ist sie mit einem Text aus dem Gedicht Friedrich Nietzsches «In holder Irrnis grüblerisch hockend». Da sitz ich nun, giesse mir einen Piccolo-Prosecco ins Glas und lese den eben erhaltenen Jahresbericht der Schweizerischen Totentanz-Gesellschaft. Beim Lesen denke ich «Totentanz», da sind wir ja mittendrin.

Ein Beispiel? Der unmittelbare Grund des Basler Totentanzes aus dem Jahr 1440 war eine Pestepidemie. Jetzt, 580 Jahre später, leben wir in der COVID-19-Epidemie, bei der wir eine um den Faktor 7 höhere Rate an Toten zu beklagen haben als bei der gewöhnlichen Grippe. Eine Hoffnung bleibt: Die Menschheit wird sich nach dieser Pandemie ihrer Endlichkeit bewusst. Wenigstens der Eine oder die Andere lässt Bilder des Totentanzes vor dem geistigen Auge ablaufen und kommt zur Einsicht: Ewig leben werde auch ich nicht.

Das Leben im Mikrokosmos gibt mir nicht das Gefühl eines Lebens im Gefängnis. Das ist anders. Im Gefängnis landet man selbstverschuldet wegen einer Missetat. Im Mikrokosmos lebe ich als Vernunftentscheid, nicht weil es mir vorgeschrieben wird. Diese andere Art des Lebens zeigt mir Verschiedenes auf. Dinge, die ich bis anhin nur nebenbei wahrnahm, kann ich jetzt auskosten. Trotzdem, ich freue mich auf die Zeit danach. Ich freue mich auf die Zeit, meine Freunde, Freundinnen zu umarmen, mit ihnen zusammenzusitzen, zu plaudern. Mit ihnen im Restaurant zu tafeln, und vor allem freue ich mich auf Leipzig sowie auf mein kleines mittelalterliches Städtchen in der Toscana, und ich freue mich aufs Golfspiel mit meinen Kollegen.

Wie die Ente den Tod kennenlernt

Einige weitere Gedanken möchte ich hier aufnehmen. Ina Bujard schickte sie mir. Die Ärztin wohnt mit Tochter und Sohn in Chur. Eigentlich wollten wir in diesen Tagen einen Blog-Beitrag realisieren. Ina Bujard arbeitet als Oberärztin für Palliativmedizin im Spital Walenstadt. Mit ihr plante ich zu reden über Leben und Sterben. Über Krebs und Palliativmedizin. Über Optimismus und Realität.

Nun, es kam anders. Das Shooting sagten wir ab, Fotograf Eddy Risch aus Schaan FL habe ich auf den Sommer vertröstet. Den geplanten Blog-Beitrag veröffentlichen wir später.

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Ina Bujard, 45, Oberärztin Innere Medizin am Spital Walenstadt. Das Bild im Hintergrund sei von Miro, schreibt sie, und kein Werk ihrer Kinder. (Foto: zVg)

Gegen das Virus bleibt uns vorerst nur die Angst

Ina Bujard schrieb mir am 24. März 2020:

Fragt die Ente den Tod: «Wer bist Du, und was schleichst Du hinter mir her?».
«Schön, dass Du mich endlich bemerkst», sagt der Tod. «Ich bin der Tod. … Ich bin schon in Deiner Nähe, solange Du lebst – nur für den Fall». (aus «Ente, Tod und Tulpe» von Wolf Erlbruch)

Herr Schuppli, Sie fragten mich, was Covid-19 mit mir mache? Nun, ich sorge mich um meine Eltern. Vielleicht habe ich sie zu Weihnachten letztmals gesehen. Wer weiss, was passiert. Seit 20 Jahren geht das nun schon so. Damals kamen sie mir bereits betagt vor – alles ist relativ.

Wir wohnen weit voneinander entfernt und sehen uns nicht so häufig. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie die Welt ohne sie aussieht. Wie es sein wird, wenn ich sie nicht mal kurz anrufen, mit ihnen lachen kann und den nächsten Besuch bei ihnen planen.

Gleichwohl ist ihnen wie mir bewusst, dieser Tag wird unausweichlich kommen, sofern nicht andersherum mich ein schweres Schicksal ereilt. Covid-19 ändert für mich wenig an dieser Angst, an diesem Bewusstsein. Eine schwere Grippe mit Lungenentzündung steht schon lange auf der Liste meiner diesbezüglichen Sorgen, neben Herzinfarkt, Schlaganfall oder Krebs.

Eine Gestalt wird der Tod eines Tages annehmen. Mir persönlich ist die Angst davor bewusst. Seis mein eigener Tod oder der eines geliebten Menschen. Mein Beruf bringt dies unweigerlich mit sich. Das ist Fluch und Segen zugleich.

Meiner Erfahrung nach geht es vielen Menschen anders. Ebenso wie der Ente in dem oben zitierten Buch, ist ihnen die Anwesenheit des Todes nicht täglich bewusst, und sie möchten das auch gar nicht.

Vielleicht ängstigt Covid-19 die Menschen deshalb so sehr. Plötzlich steht der Tod quasi vor unserer Tür. Wir beobachten, wie er näherkommt. Täglich werden wir bombardiert mit Landkarten, auf denen wir seinen Weg zu uns verfolgen können. Beinahe stündlich können wir beobachten, wie die Zahlen der Infizierten steigen – in der Schweiz und weltweit. Wir sehen Bilder von überfüllten Intensivstationen und Militär-Konvois, die Särge abtransportieren. Der Bundesrat beschäftigt sich in Krisensitzungen mit dem Thema, und die Massnahmen, die ergriffen werden, sind drastischer als alles, was die meisten von uns je erfahren haben – also muss es ernst sein.

Im Moment wird die Angst vor dem Tod, die die meisten von uns sonst erfolgreich verdrängen, spürbar. Und diese Angst ist ebenso ansteckend. Sie «geht viral», wie man passend auf Neudeutsch sagt, befeuert durch eine unüberschaubare und in weiten Teilen qualitativ wie ethisch fragwürdige Informationsflut.

Wir haben nichts in der Hand gegen das Virus und wir haben Angst – es gibt keine Medikamente, keine Impfung, keinen Schutz. Die Angst beinhaltet das Gefühl des Kontroll-Verlustes. So haben wir andersherum das Bedürfnis, die Kontrolle zurück zu gewinnen. So auferlegen wir uns das Einhalten eigentlich nicht sehr revolutionärer Hygiene-Vorschriften.

Wir schliessen Schulen, Restaurants, Geschäfte. Wir verhängen Ausgangssperren. Erhalten Kontaktregeln. Den Menschen rät der Bundesrat allen Ernstes, der Gesundheit zuliebe nicht an die frische Luft zu gehen. Wir sollen nicht mehr in Gruppen von mehr als fünf beisammen sein. Warum ausgerechnet fünf? In Deutschland sinds zwei. Worauf diese Zahlen basieren, weiss ich nicht. Wir kreieren seitens der Spitäler immer neue Katastrophen-Pläne, bauen die Kapazitäten aus, bereiten uns vor.

Corona-Zeit: junger Mann fährt mit dem Velo Lebenmittel durch die Stadt Bern
Begegnung in der Corona-Zeit vor dem Berner Bahnhof. Ein junger Mann fährt Einkäufe durch die Stadt. (Foto: Ueli Hiltpold)

«Der Tod wird in unserer Nähe bleiben»

Natürlich sollen wir die vom Bundesrat angeordneten Massnahmen einhalten. Natürlich ist es sinnvoll und wichtig, die Schwachen in unserer Gesellschaft zu schützen und mit ihnen solidarisch zu sein. Letzteres gilt übrigens unabhängig von Covid-19. Und natürlich ist es gut, bereiten sich unsere Spitäler sowie die ambulanten Dienste, etwa die Spitex, auf den Anfall grösserer Zahlen Schwerkranker vor. Vielleicht gelingt es dadurch, die Infektionsrate zu verlangsamen und die befürchtete Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Und vielleicht wird uns dies alles bei der Bewältigung der aktuellen Krise zugutekommen.

In erster Linie aber gibt es uns das, leider trügerische, Gefühl, wir hätten Kontrolle über die Situation. Dies beruhigt und hilft, mit der Angst umzugehen. Die Angst vor dem Tod haben wir damit vielleicht einmal mehr besiegt, und wir können uns, hoffentlich, bald wieder unserem «normalen» Leben zuwenden. Der Tod wird dennoch in unserer Nähe bleiben – nur für den Fall.

In der Geschichte freundet sich die Ente übrigens mit dem Tod an. Sie erleben einige schöne Tage und Momente der Nähe miteinander, bevor die Ente immer stiller wird und eines Tages nicht mehr atmet. Der Tod ist darüber «fast ein wenig betrübt. Aber so ist das Leben.»

Lange nachdem die unmittelbare Frage nach Leben und Tod gemeinsam mit dem Corona-Virus wieder aus dem öffentlichen Fokus verschwunden sein wird, werden uns die Folgen dieser Krise beschäftigen. Ich stelle mir vor, dass diese schwerwiegender sein werden als die Krise selbst, auch wenn das momentan kaum jemand zu sagen wagt.

Weltweit sind bisher über 53 000 Menschen an den Folgen des Corona-Virus gestorben (Stand 3.4.20, 7 Uhr gemäss worldometers.info/) Das tönt nach einer grossen Zahl – 53 000 Menschen, 53 000 Einzelschicksale, 53 000 betroffene Familien, die trauern und die unseren Respekt verdienen.

Corona-Zeit BLS-Wagen
Warten auf die Gäste nach der Corona-Zeit. Einstiegbereites Berner Tram. (Foto: Ueli Hiltpold)

Nach der Corona-Zeit sind wir alle klüger

Demgegenüber stehen die Menschen, deren Existenz durch die drohende weltweite Rezession bedroht sind. Es steht zu befürchten, dass es mehr sein werden. Die multinationalen Lockdowns führen bereits jetzt dazu, dass Menschen ihre Miete nicht mehr bezahlen können. Auch wenn in der Schweiz die wirtschaftliche Hilfe für Betroffene scheinbar rasch und effizient anläuft – wie wird es sich langfristig entwickeln? Und was ist mit dem Rest der Welt, mit Staaten, die weniger effizient und liquide sind, also so ziemlich allen anderen?

Die wirtschaftlichen Folgen sind noch nicht abschätzbar, werden die Welt aber vermutlich noch lange beschäftigen. Ich kann mir vorstellen, dass wir an einen Punkt gelangen, an dem wir rückblickend die Verhältnismässigkeit der aktuellen Massnahmen infrage stellen werden, an dem wir uns retrospektiv wünschen, mehr Besonnenheit gehabt zu haben.

Andererseits ist man nachher immer klüger, und zum jetzigen Zeitpunkt kann wohl niemand von einer verantwortlichen und verantwortungsvollen Regierung erwarten, die Situation «laufen zu lassen». Das Dilemma der Entscheidungsträger ist gross, der Vorwurf, die Bevölkerung fahrlässig zu gefährden – und das «zu Gunsten der Wirtschaft» – würde zu schwer wiegen. Verständlich also, will sich das niemand aufbürden.

Corona-Zeit: leere Shopping-Hall im Bahnhof Bern
Die Corona-Zeit präsentiert die leere Shopping-Hall im Berner Bahnhof. Fragt sich, wo der Hans ist, der hier im Glück lebt. (Foto: Ueli Hiltpold)Lockdown in Bern am 28. März 2020 während der Corona Pandemie.

Führt Abgrenzung zu Ausgrenzung zu Hass und Gewalt?

Die Corona-Krise trifft auf eine Welt, in der Entzweiung, Zerwürfnis und Misstrauen bereits seit Jahren auf dem Vormarsch sind. Die Unabhängigkeit Kataloniens, der Brexit, die Handelskriege, überfüllte Flüchtlingslager – you name it. Das Wort Abgrenzung wird als Allheilmittel gegen Stress jeglicher Art sogar in Meditationskursen und Yogaseminaren gepredigt. Die Rede ist hier nicht von der physischen Abgrenzung zur Vermeidung von Infektionen, sondern von einer inneren Haltung der Distanz zum Gegenüber. Diese Haltung der Abgrenzung zusammen mit (existentieller) Angst hat das Potential, aus Abgrenzung Ausgrenzung, aus Ausgrenzung Hass, aus Hass Gewalt entstehen lassen.

Regierungen schliessen Grenzen. Menschen schotten sich ab, werden notfalls mit Polizeigewalt dazu gezwungen. Vermeintlich Schuldige werden ausgemacht. Donald Trump spricht bereits offiziell vom «Chinese Virus» und heizt damit eine bereits schwelende rassistische Stimmung in seinem Land weiter an. In der Sunday Times veröffentlicht der Historiker Niall Ferguson einen Artikel, in dem er dem Virus «Altersdiskriminierung», den europäischen Staaten «Senizid», also Mord an der betagten Bevölkerung vorwirft, weil sie sich nicht rechtzeitig und richtig auf die Situation vorbereitet hätten (Artikel in deutscher Übersetzung bei NZZ Online am 22.3. 2020).

Schuldzuweisungen werden keine Menschenleben retten, sondern weitere kosten, weil sie zu weiterer Entzweiung aus Ausgrenzung führen. Aus Spanien und Italien wird von Polizeigewalt gegen Zivilisten berichtet, die spazieren gingen. In anderen Ländern übernimmt das Militär das Zepter, hat das Sagen. In Bangladesch gab es erste Aufstände unter Arbeitern der Textilindustrie, weil diesen die Aufträge fehlen. Bleibt zu hoffen, es kommt nicht zu grossen internationalen Unruhen.

Corona-Zeit: Social-Distancing
Corona-Zeit: Social-Distancing funktioniert. Szene aus Gerechtigkeitsgasse in Bern. (Foto: Ueli Hiltpold)

Corona-Zeit: Was bleibt nach der Krise?

Ina Bujards Worte machen nachdenklich. Was wird zurückbleiben, wenn wir alle, scheibchenweise, wieder ins «normale» Leben zurückkehren? Möglicherweise werden sich die Delfine nicht mehr lange in Venedigs Lagune tummeln. Die Feinstoffbelastung wird wohl alte Grenzen erreichen oder gar übertreffen. Kondensstreifen werden die Himmel überziehen wie eh und je. Vor den Radio-Nachrichten gibts wieder Staumeldungen zu hören und danach meldet sich die Sportredaktion mit News.

Die Digitalisierung unserer Gesellschaft wird vorangetrieben. Homeoffice avanciert zur tauglichen Arbeitsweise, Videokonferenzen werden die Regel. Online-Shopping ist nicht mehr wegzudenken. Neu erschaffene Dienstleistungen halten sich. Zu guter Letzt kosten viele dieser Veränderungen Arbeitsplätze und schaffen gleichzeitig Jobs.

Aus dem Rheintal mit Australien chatten

Eine kleine Geschichte zu den coolen Möglichkeiten der Digitalisierung: Ein 13-jähriger Bub aus dem Rheintal chattete diese Woche mit 57 Schulkolleginnen und -kollegen mit einem Lehrer im australischen Outback. Englischunterricht war angesagt. Der Aussie-Teacher erzählte den St. Galler Kindern aus seinem Schulalltag und wie er seine täglichen Videochats abhält. Downunder ist diese Art von Schulunterricht die Regel.

Und unsere sozialen Kontakte? Werden sie intensiver, weniger oberflächlich? Bleiben wir rücksichtsvoll? Leben wir in Zukunft diese Solidarität weiter? Erhält die Nachbarschaft einen neuen Wert? Steigt das Ansehen von Pflegerinnen und Pflegern? Von Ärztinnen und Ärzten? Wir wissen es nicht. Und was ist mit dem Tod? Erhält der Sensemann einen neuen Stellenwert. Raus aus der Tabuzone, rein ins pralle Leben? Ich finde, da gehört er hin. Freund Hein, wie er ebenfalls genannt wird, ist der stille Begleiter eines jeden Lebewesens.

Corona-Zeit: Ivana D’Addario schöpft Rosenzucker
Archivbild. Ivana D’Addario braucht für ihre Einmacherei auch vom selbstgemachten Rosenzucker. (Foto: Paolo Foschini)

Tee für wohltuende Entspannung und gute Gesundheit

Zum Schluss eine leckere Nachricht aus der Hexenküche. Meine liebe Freundin Ivana D’Addario, sie erzählte mir von der lebensbedrohlichen Geburt ihrer Tochter, suchte in ihrem Wicca-Archiv nach alten Glücksrezepten und stiess auf einen wahren Zaubertrank. Den «Tropen-Nacht-Wanderer». Wer ihn brauen will, benötigt 10 Datteln, 1 Ingwerknolle, 1 Zimtstange, 1 Zitronengras-Stängel sowie ein bis zwei Esslöffel Honig. Rezept

Ivana packt in ihrer «Einmacherei» in Hedingen ZH die Natur ins Glas. Sie kocht, sterilisiert, dörrt und entsaftet Früchte, Gemüse und Kräuter aus Bio- resp. Naturgärten. Auf ihrer Webseite schreibt Ivana: … Auf Zusätze wie künstliche Aromen, Konzentrate oder Konservierungsmittel verzichte ich aus Liebe zur Natur, aus Leidenschaft und Überzeugung. Die Konfitüren und Sirupe enthalten Bio-Zucker. Meine Küche schmeckt stets so, wie die Natur sich das gesamte Jahr hindurch präsentiert. Je nachdem wie das Wetter war also eher fruchtig-süss, säuerlich oder alles gleichzeitig: fruchtig-süss-säuerlich.»

Zum «Tropen-Nacht-Wanderer» schreibt die fröhliche Familienfrau und Marketing-Spezialistin: «Das Rezept fand ich in einem alten Hexenbuch meiner Kollegin aus dem Fernen Osten. Das Gebräu soll einen stark machen, gelassen und geduldig. Die wohltuende Wärme sorgt für einen positiven Gefühlsschub. Und den können wir auch in dieser Corona-Zeit bestimmt gebrauchen.»

Text: Martin Schuppli, Alois Birbaumer, Ina Bujard.
Fotos: Ueli Hiltpold, Daniela Friedli, Paolo Foschini

Und zu Schluss ein Lacher aus der Corona-Zeit.

Da wird eine Frau gefragt, sie hätte zwei Möglichkeiten zur Wahl. A: Mit Mann und Kindern weitere zwei Wochen unter einem Dach zu verbringen. Oder B: …
Die Frau unterbricht den Mann mit sich überschlagender Stimme. Sagt: «Ich wähle B. B. B. B.»

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