Herr Dr. Brülhart, Sie erforschen als Wirtschaftsprofessor Themen wie die Besteuerung, den Fiskalföderalismus und geografische Ökonomie – wie passt da das Erben rein?
Ich kam von der Steuerseite zum Thema Erbschaften. Als die kantonalen Erbschaftssteuern in den Neunziger- und Nullerjahren nach und nach grösstenteils abgeschafft wurden, stellte sich die wissenschaftliche Frage, ob Erblasser diese Steuern wirklich in dem Ausmass zu umgehen versuchen, wie es die Erbschaftssteuergegner jeweils behaupteten. Deshalb habe ich angefangen, mich mit Daten über Erbschaften zu befassen.
Seit wann vererben Menschen Vermögenswerte?
Seit es Menschen gibt mit langlebigen Besitztümern – Geräte, Schmuckstücke, Nutztiere, etc. Seit wir sesshaft sind, ist Landeigentum zum wichtigsten Erbschaftsbestandteil geworden.
Welche Funktion hatte das Erben früher? Seit wann gehört das Erben als soziale Absicherung zu unserer Gesellschaft?
In Zeiten des Feudalismus diente das Erben der Zementierung dynastischer Macht. Es wurden ja nicht nur materielle Besitztümer vererbt sondern auch Adelstitel. Im Ancien Régime waren Erbschaft und Heirat von wenigen Ausnahmen abgesehen der einzige Weg zu Reichtum und Status.
In der Schweiz wurden dieses Jahr (2020) gemäss Ihrer Schätzung ungefähr CHF 95 Mia. vererbt – so viel wie noch nie?
Zumindest seit 1910 ist das ein Höchststand. Weiter zurück reichen unsere Daten nicht.
Damit wächst die Erbmasse stärker als das Volkseinkommen – wie ist dies zu interpretieren?
Das liegt in erster Linie daran, dass Privatvermögen insgesamt schneller wachsen als Arbeitseinkommen. Zudem verzehren die meisten Menschen dank der guten Altersrenten ihr Vermögen gegen Lebensende immer weniger.
Dieses Volumen nimmt noch weiter zu. Bis wann?
Ich habe keine Kristallkugel. Aber die Tendenz, dass Kapitalwerte stärker ansteigen als Lohneinkommen, dürfte durch die Digitalisierung eher noch befeuert werden.
Gehen Sie davon aus, dass die heutigen 50-jährigen zum Zeitpunkt ihres Todes durchschnittlich weniger Vermögen haben werden im Vergleich zu den jetzt 85-jährigen?
Nein, im Gegenteil. Es sei denn, es würde in den nächsten Jahren und Jahrzehnten viel geläufiger, dass man sein Vermögen schon zu Lebzeiten verschenkt.
Das Erben hat in der Schweiz aufgrund der vorhandenen Sozialversicherungswerken nicht mehr die gleiche Funktion wie früher – würden Sie dem zustimmen?
Zum Teil. Erbschaften kommen für viele zu spät, damit sie den Einstieg ins Berufsleben wesentlich beeinflussen. Und die grossen wirtschaftlichen Risiken im Lebenszyklus sind von den Sozialversicherungen abgedeckt. Aber für den Zugang zu Wohneigentum nehmen Erbschaften und Schenkungen möglicherweise an Bedeutung zu.
Gemäss Ihren Berechnungen kommen bloss 5 Prozent der Erbschaften noch Personen unter 40 Jahren zugute. An wen wird heute vererbt?
Das Durchschnittsalter der Erben liegt heute zwischen 60 und 65 Jahren, Tendenz steigend. Das ist eigentlich eine sehr erfreuliche Entwicklung, denn sie widerspiegelt die steigende Lebenserwartung.
Heute sterben rund 2/3 der Menschen ohne Testament. Wäre es aus ökonomischer Sicht wünschenswert, die Leute würden mehr Testamente erstellen und damit ihre Vermögenswerte proaktiver allozieren?
In der Ökonomie geht man davon aus, dass Menschen rational handeln. Wenn sie kein Testament erstellen, bedeutet das aus dieser Sicht, dass sie mit der gesetzlich vorgesehenen Erbteilen zufrieden sind. Das bedingt jedoch, dass die Menschen gut informiert sind und ihr Verhalten bewusst lenken. Die Menschen über die rechtlichen Bestimmungen und über ihre individuellen Gestaltungsmöglichkeiten zu orientieren, ist somit auch aus der ökonomischen Betrachtung eine wertvolle Tätigkeit.
Die freie Quote wird mit der neuen Erbrechtsrevision grösser – wieviel Geld steht damit neu jährlich zusätzlich zur freien Verfügung?
Das kann ich nicht beziffern. Dazu bräuchte man detaillierte Daten zur Verteilung der Nachlässe unter verschiedenen Kategorien von Erben. Solche Daten liegen in der Schweiz nicht vor.
Was erwarten Sie hinsichtlich der Verteilung der neu freiwerdenden Erbmassen?
Wahrscheinlich wird der Anteil der Ehepartner und direkten Nachkommen an der gesamten Erbmasse leicht zurückgehen. Das ist ja die Idee der Revision: Man will den Erblassern die Möglichkeit geben, Menschen und Organisationen ausserhalb ihrer Kernfamilie stärker zu berücksichtigen.
Was sollte Ihrer Meinung nach mit diesem Geld geschehen?
Das obliegt jedem Erblasser. Ich würde jedoch für eine möglichst starke Senkung des Pflichtteils für direkte Nachkommen plädieren. Die laufende Revision geht dabei in die richtige Richtung. Kinder reicher Eltern profitieren ja bereits zu Lebzeiten, und somit könnte man im Moment des Erbgangs das Netz der Begünstigten ruhig etwas weiter spannen dürfen.
In der Schweiz wird noch relativ wenig Geld an NGOs vererbt (die ZEWO geht von 3 Promillen aus) – in anderen Ländern ist dies nicht so (GB: 6%) – auf was führen Sie das zurück?
In erster Linie auf Steuern. Wenn die Erbschaftssteuern hoch sind, dann werden steuerbefreite Übertragungen an wohltätige Zwecke attraktiver. Zudem lassen hohe Pflichtteile weniger Spielraum für Legate an NGOs und andere ausserfamiliäre Empfänger.
Was müsste getan werden, damit dieser Anteil zugunsten der NGOs zukünftig steigt?
Legate an wohltätige Organisation würden zunehmen, wenn die Erbschaftssteuern angehoben und/oder die Pflichtteile gesenkt würden.
Was halten Sie von den Bestrebungen von DeinAdieu.ch, den Hilfswerken zu mehr Einnahmen aus Erbschaften und Legaten zu verhelfen?
Ich finde diese Bestrebungen sehr unterstützenswert.
Ganz herzlichen Dank für dieses spannende Gespräch Herr Dr. Brülhart.
Dr. Marius Brülhart
Dr. Brülhart ist Professor an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der HEC Lausanne, Universität Lausanne.
Vor seinem Start im Jahr 2002 war er Assistenzprofessor an der HEC Lausanne, Lehrbeauftragter an der Universität Manchester (UK) und vorübergehend Dozent am Trinity College Dublin.
Dr. Brülhart hat am Trinity College Dublin (1996) in Wirtschaftswissenschaften promoviert und an der Universität Freiburg (1991) einen Bachelor-Abschluss in Wirtschaftswissenschaften erworben.
Er hat eine Reihe von politischen Entscheidungsträgern beraten, darunter die Weltbank, die Europäische Kommission, die OECD und verschiedene Schweizer Regierungsstellen (Bund und Kantone). In den Jahren 1991-1992 arbeitete Dr. Brülhart als Ökonom bei der UBS in Zürich.
Zum Profil von Herrn Dr. Brülhart an der Universität Lausanne.