«Aus eigener Erfahrung und nach Erlebnissen während meiner Tätigkeit bei Hospiz Zug weiss ich, wie wichtig es ist, dass neben Angst, Trauer, Anspannung auch das Lachen seinen Platz haben muss», sagt Ulrike Exl. «Als mein Vater zu Hause verstarb und ich zutiefst betroffen war, kam meine Cousine. Gemeinsam begannen wir, meinen Vater zu waschen. Plötzlich hält meine Cousine inne und sagt: ‹Wenn dein Vater noch lebte, wie sehr würde er es geniessen, von zwei jungen Frauen gepflegt zu werden.› Beide sahen wir ihn mit seinem verschmitzten Lächeln vor uns, und wir begannen, herzlich zu lachen. Was für ein wunderbarer Augenblick, welche Erleichterung. Plötzlich hatte ich wieder Boden unter den Füssen, und der Schock seines Todes hatte sich aufgelöst. Durch das Lachen hatte das Sterben seinen Schrecken verloren.»
Lachen kann das Warten erträglich machen
Heilsam war für Ulrike Exl auch ein anderes Erlebnis: «Ich begleitete einen schwer kranken Mann. Zwei Wochen nach meinem letzten Einsatz bei ihm läutete ich an der Tür des Hauses. Seine Frau öffnete und sagte: ‹Frau Exl, Sie glauben es nicht, mein Mann lebt noch immer!› Wir sahen uns an und mussten so lachen, Tränen rannen uns übers Gesicht. Ich weiss mittlerweile: Oft braucht es ein Ventil, um das Warten auf den Tod erträglicher zu machen. In einer so angespannten Situation lachen zu dürfen, finde ich sehr heilsam.»
Die meisten Menschen wünschen sich, zu Hause sterben zu dürfen. Das ergaben umfangreiche Studien. Viele Menschen wissen nicht, dass das überhaupt möglich ist. Tauchen in diesem Zusammenhang Fragen auf, ist Ulrike Exl froh, wenn sie sowohl ihr Wissen wie auch ihre Erfahrungen weitergeben darf. «Ich mache Angehörigen von Schwerkranken oder die Betroffenen selbst darauf aufmerksam, dass es die Spitex gibt mit ihren Palliative Care Teams. Oder ich weise auf die Dienste von Freiwilligen hin, die mit Nachtwachen Angehörige entlasten am Bett eines sterbenden Menschen.»
Die liebevolle Aufopferung hat Grenzen
«Wollen Angehörige einem Schwerkranken die bestmögliche Unterstützung geben, müssen sie sich aber auch Zeit für sich selbst nehmen», sagt Ulrike Exl. «Ich beriet einmal eine ganz junge Frau, die monatelang aufopfernd einen Familienangehörigen pflegte. Sie war einem Zusammenbruch nahe. Das hörte ich in ihrer Stimme. Deshalb sagte ich ihr bestimmt: ‹Sie müssen sich nun von Freitag bis Montag eine Auszeit nehmen. Ich will sie nicht am Krankenbett sehen.›»
Eine Schrecksekunde war es still am Telefon. Die Frau erbat sich eine kurze Bedenkzeit, dann rief die junge Frau zurück und teilte Ulrike Exl mit, dass ein anderes Familienmitglied die Betreuung am Wochenende übernehmen würde. «Am Montag rief sie mich wieder an. Erzählte, dass sie mit Freunden im Ausgang war, ein wunderbares Wochenende erlebt und drei Nächte tief und fest geschlafen habe.» Ulrike Exl lächelt: «Als Lebensbegleiterin muss ich manchmal ein bisschen streng sein.»
Klar kommunizieren ist wichtig
Ulrike Exl begleitete über 100 Patientinnen und Patienten: «Das Durchschnittsalter betrug 78 Jahre, der Jüngste war knapp 27 Jahre alt. Und jede Situation war anders.» Die Lebensbegleiterin hört aufmerksam zu, schaut genau hin, um zu erkennen, was der Patient, die Patientin, was die Angehörigen brauchen. Oft ist es ungeteilte Aufmerksamkeit. «Sei es durch Zuwendung, sei es im Da-Sein. Andere Male sind es Angehörige, die dankbar sind, wenn sie einer ‹unbekannten› Frau ihre Ängste anvertrauen können. Sie finden es vielleicht auch tröstlich, wenn ich ihre Hand halte. Sie sind dankbar, wenn ich ihnen Mut zuspreche. Wenn sie mir ihre Lebensgeschichte erzählen, höre ich zu. Ich bin da, wenn sie mir schildern, was sie bedauerlicherweise mit dem Sterbenden nicht gemacht, nicht besprochen hätten.» Ulrike Exl hält inne. Schweigt. Dann fährt sie fort: «Solche Momente sind sehr intim, gehen mir jeweils nahe und manchmal ‹zwingen› sie mich, über mein Leben nachdenken.»
Beim letzten Atemzug nicht unbedingt dabei sein
Irgendwann gibt es ganz Konkretes zu besprechen. «Nicht alle Angehörigen wollen beim letzten Atemzug eines sterbenden Menschen dabei sein», sagt Ulrike Exl. «Oft bin ich alleine in einem Haus. Manchmal schlafen die Patienten. Dann meditiere ich, achte auf ihre Körpersprache, versuche zu spüren, was ihre Bedürfnisse sind. Wichtig ist mir immer, Leichtigkeit in die Situation zu bringen.» Wenn jemand nicht mehr ansprechbar ist, stelle sie den Stuhl im Zimmer zuerst etwas weiter weg, sage vielleicht, «Ich bleibe bei Ihnen». Berührt werden wollen nicht alle. «Aber alle sind sie froh, dass ich da bin. Eine Art Sicherheit verströme. Wenns sein muss, kann ich reagieren, kann Hilfe holen, eine Pflegerin rufen, Angehörige verständigen.»
Manche wollen nackt von dieser Welt gehen
Vier Tage bevor Ulrike Exls Vater starb, versuchte er, seine Bettdecke abzustrampeln und das Nachthemd auszuziehen. Und das, obwohl er sehr starke Schmerzmittel bekam und nicht ansprechbar war. «Dieses Loswerden von allem Einengenden konnte ich auch bei anderen Menschen beobachten.» Sie kann so einen Wunsch verstehen: «Wir kommen nackt zur Welt, warum also nicht auch nackt von dieser Welt gehen? Befreit von allem Materiellen. Von restlos allem.»
Sich abgrenzen ist ein wichtiges Thema
Manchmal ist das Gehen für einen Menschen heftig. Etwa, wenn jemand Schmerzen verspürte, unruhig war. Das kann einen tagelang beschäftigen. Dann geht Ulrike Exl viel spazieren, taucht in den nahen Wald ein.
«Wichtig ist mir immer, einen irgendwie runden Abschied zu gestalten.» Die Lebensbegleiterin erinnert sich an eine Situation, wo sie einen Sohn ablöste am Sterbebett seines Vaters. «Kaum war er weg, bekam der alte Mann Atemnot. Drei Stunden später konnte er sterben. Dann erst verständigte ich die Familie. Und sie kamen alle, sangen Psalme. Es war eine wunderschöne friedliche Stimmung. Ich sagte den Angehörigen nicht, dass der Mann noch an Atemnot gelitten hatte. Wollte den Frieden im Zimmer des Verstorbenen nicht stören.»
«Ist jemand gestorben, öffne ich das Fenster»
Die Atemnot sei bei sterbenden Menschen anders als bei uns, lehrt Palliativmediziner Roland Kunz. Sterbende Menschen würden das ganz anders empfinden. Ulrike Exl: «Obwohl der Mann an Atemnot litt, konnte ich in seinem Gesicht erkennen, dass er keine Angst hatte.»
Ist jemand verstorben, führt Ulrike Exl immer dasselbe Ritual durch. «Wenn noch keine Kerze brennt, zünde ich eine an. Öffne ein Fenster, verständige die Angehörigen, braue ihnen einen Tee, und dann warten wir gemeinsam, meistens schweigend, bis der Arzt kommt. Die Angehörige würde ich nie alleine lassen.»
Was kommt nachher?
Wollen sterbende Menschen wissen, was nachher kommt? Ulrike Exl denkt nach. «Was soll ich denn sagen? Ich weiss es ja auch nicht. Deshalb kann ich nur erzählen, was ich selbst glaube. Was ich bei einer Meditation selbst gesehen habe. Es war dieses Licht. Dieses wunderbare Licht am Ende des Tunnels.»
So ist es. Das Gehen, wie das Kommen. Der Mensch betritt diese Welt durch den Geburtskanal, also durch eine Art Tunnel, und dann geht er wieder. Vielleicht ebenfalls durch eine Art Tunnel.
Nachdenken über das gelebte Leben
Oft bleibt Zeit für stille Gebete. Ulrike Exl: «Immer wieder staune ich über das Wunder des Lebens und des Sterbens. Ich empfinde es nie als Zufall, dass gerade ich an diesem Bett sitzen, diesen Menschen begleiten darf. Im Gegenteil. In solchen Momenten fühle ich mich einfach am richtigen Platz. Dann bin ich dankbar und demütig.»
Ein entspannte Stille breitet sich aus. Der Autor bedankt sich für dieses vertrauensvolle Gespräch.
Text: Martin Schuppli
Freiwilligen Organisationen für Sterbebegleitung*.
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VBK Vereinigung Begleitung Kranker Winterthur Andelfingen
Postfach 2489. 8401 Winterthur
Tel: 079 776 17 12
www.begleitung-kranker.ch
Vereinigung zur Begleitung Schwerkranker Schaffhausen und Umgebung
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ZVBS Zürcher Vereinigung zur Begleitung Schwerkranker
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wabe Limmattal
Verein Wachen und Begleiten
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Hospiz Aargau
Fröhlichstrasse 7, 5200 Brugg
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Tel. 041 675 02 20 (Stellenleitung)
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Luzerner Kantonsspital – ehrenamtliche Sitzwachgruppe
Tel. 041 205 11 11, 041 205 19 40 (Kontaktnummer)
doris.villiger@luks.ch
Kranken- und Sterbebegleitung Spitex Region Entlebuch
Hauptstrasse 22, 6170 Schüpfheim
Tel. 041 484 28 00 (Kontaktnummer)
info@spitex-region-entlebuch.ch
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2 Antworten auf „«Lachen und Weinen gehören zusammen wie das Leben und der Tod»“
Danke Ulrike für dein Vertrauen und die geschenkte Zeit.
Liebe Ulrike
Ich habe sehr gerne über deine Arbeit gelesen.
Bis blad
Rebekka