So lebten die «Turnachkinder», denk ich mir, als Paolo Foschini seinen Wagen auf den Parkplatz hinter einem grossen schlichten Haus steuert. Unser Interviewpartner ist 93-jährig, lebt – betreut von Ursula, seiner «guten Fee» – in einem wunderschönen Anwesen direkt am Zürichsee. Schilf wiegt im Wind. Die dürren Halme geben den Blick frei auf vertäute Schiffe, die in Ufernähe auf kabbeligem Wasser schaukeln. Die Pfnüselküste vis-à-vis versinkt im Hudelwetter.
Mir fallen kürzlich ausgeführte Schreinerarbeiten auf: Es gibt keine Treppen und Absätze. Hier lebt jemand barrierefrei. Hugo Bohny ist seit einem Schlaganfall vor zwei Jahren auf den Rollator angewiesen.
Ursula öffnet die Türe, begrüsst uns, bittet uns herein. Wir betreten ein grosses Haus, gehen über eine «Rollator-Rampe» ins Entrée und sehen durch offene Türen auf den winterlich dampfenden See. Sehen wunderschöne Blumenbilder, prächtige Tische, bequeme Stühle, Gestelle – gefüllt mit Büchern und Erinnerungsstücken. Sie bergen bestimmt spannende Geschichten. Dann, in der grossen Stube, treffen wir einen lächelnden Mann. Schalk blitzt aus seinen Augen. Das heitere Gemüt wirkt empathisch. Hugo Bohny sitzt am grossen Fenster in der linken Ecke des hellen Sofas unter einem Blumenbild seiner Frau. «Nein, stehen Sie nicht auf», sage ich. «Wir dürfen keine Hände schütteln, halten Abstand.» Hugo Bohny lächelt. Er ist zweimal geimpft, ich voller Antikörper, und Fotograf Paolo schützt sich mit Maske.
Dank älterer Schwester ein guter Schüler geworden
Hugo Bohny spürt meine Begeisterung fürs Haus, für die Lage direkt am See. «Als wir es vor fünfzig Jahren kauften, konnten wirs uns eigentlich nicht leisten. Rückblickend gesehen, war es die beste Entscheidung.» Die ersten fünf Jahre wuchs Hugo Bohny in Zürich im Quartier Wollishofen auf mit einer drei Jahre älteren Schwester. «Ich lernte jeweils mit ihr und konnte schon beim Eintritt in die Primarschule lesen und rechnen, wurde ein sehr guter Schüler.»
Als Höngg 1934 in der Stadt eingemeindet wurde, zügelte die Familie in den neuen Kreis 10. Vater Bohny wurde Mitglied der Zunft und Hugo trat später in seine Fussstapfen. «Heute bin ich der Zweitälteste Höngger-Zöifter.»
Nach der Matura sagte Vater Bohny zu Sohn Hugo: Geh’ arbeiten. «Er meinte, mit der Matur B sei ich kein Siebesiech. Ich wurde demütiger. Musste in der Bank unten anfangen. Musste Coupons verarbeiten. Ich lernte Bescheidenheit. Das Bankgeschäft Ende der vierziger Jahre faszinierte mich. Ich wusste schnell, das kann man optimieren.»
Und das tat er Jahre später bei der Guyerzeller Bank. 1968 schaffte er die ersten Computer an. Dann dauerte es sechs Jahre, bis die Technik rundum funktionierte und alle Mitarbeitenden geschult waren. 1974 erhielt jeder einen Terminal und alles war im Bildschirm abrufbar, einsehbar und einfach zu bearbeiten. Das war eine Pionierleistung.
Vom Prokuristen zum VR-Präsidenten
«Ich begann 1962 als Prokurist und ging 1998 als VR-Präsident.» Sein Abgang wurde im damaligen Geschäftsbericht folgendermassen gewürdigt: «… In den über 35 Jahren seines Wirkens prägte er die Bank mit seiner Persönlichkeit und machte aus ihr eine Institution mit unverwechselbarem Charakter. … Hugo Bohny wird eine grosse Lücke hinterlassen. Sein prägender Einfluss auf das Denken mehrere Generationen von Mitarbeitern der Bank wird noch lange fühlbar bleiben.»
Hugo Bohny lächelt still. Er lebte, studierte und arbeitete in Bristol, in Paris und in New York, wo er bei der City-Bank das Bankgeschäft lernte. «Ich war zeitlebens viel unterwegs. Das prägt. Etwa die drei Studenten-Jahre in Paris, wo ich am Institut für politische Studien immatrikuliert war und 1952 mit dem Diplom abschloss. ‹Sciences Po› gehört noch immer zu den Eliteschulen in Frankreich.»
Diese Ausbildung, diese Verbindungen halfen viel, als ich VR-Präsident der Guyerzeller Bank wurde. Es öffnete meinen Blick auf die Welt. Noch heute meinen viele», sagt Hugo Bohny, «wir seien der Mittelpunkt der Welt.» Er schüttelt den Kopf. Sagt: «Das sind wir nicht. Wir sollten demütiger sein.»
Vater wollte keine Katholikin in der Familie
Hugo Bohnys verstorbene Frau flüchtete 1956 aus Ungarn in die Schweiz. Der Ungarnaufstand habe ihn stark berührt, sagt er. «Ich, damals 31-jährig, traf Veronika zufällig in Genf. Wir sassen zusammen auf einem Kanapee, lernten uns vage kennen.» Die junge Frau erzählte Hugo Bohny, sie wolle in die USA auswandern und warte in Genf aufs Visum.
Kurz nach diesem ersten Treffen, verbrachten die beiden Ferien in Melide und Veronika wurde schwanger. Vergiss Amerika, habe er gesagt. Jetzt wird geheiratet. Hugo Bohny lacht: «Meine Eltern reagierten entsetzt. Veronika war katholisch. Für Vater ein Schock. Er wollte keine Katholikin in der Familie – und ich wollte das Kind.» Ihm sei egal gewesen, was die Leute redeten. Und Reden, das taten sie im Jahr 1960.
Veronika Bohny-Nagygyörgy war eine talentierte Malerin, ihre Blumenbilder viel beachtet, Hugo ein erfolgreicher Privatbankier. Gemeinsam zogen sie zwei Töchter gross, lebten ein erfülltes Familienleben. «Wir ergänzten uns. Meine Frau war eine begnadete Gastgeberin, das half mir im Geschäftsleben. Auf Reisen konnte sie an meinem Beruf teilhaben. Ab und zu nahmen wir sogar die Töchter mit nach Amerika. Und wir segelten viel. Seis auf dem Zürisee oder auf dem Meer. Etwa von Hongkong in die Philippinen.» Er lacht und zeigt aufs Tablet. «Ich schaue jeden Tag die Vendée-Globe. Verrückt, was diese Weltumsegler leisten. Ich erinnere mich gern daran, wie wir durchs Meer pflügten, sechs Meter hohe Wellen abritten. Und das während vier Tagen und vier Nächten.»
Mit der Stiftung Nachhaltiges geschaffen
Solche Erlebnisse prägen. Ebenso prägend war der Vater. Seine Devise: «Ein schlechter Vergleich ist besser als ein guter Prozess.» Hugo Bohny schweigt. Sagt: «Das deckt sich mit dem, was es im Lukas-Evangelium Kapitel 12, Vers 58 heisst: … ‹Wenn du mit deinem Gegner vor Gericht gehst, bemüh dich noch auf dem Weg, dich mit ihm zu einigen … ›».
Verbinden, verhandeln, agieren. Ideen entwickeln, den Menschen mit Empathie begegnen. Das war, das ist, Hugo Bohnys Welt. «Ich führte gerne Teams. Als es darum ging, das Restaurant Pfannenstiel in Meilen zu retten, fanden sich Gleichgesinnte an der Gemeindeversammlung zusammen, wollten das alte Gasthaus erhalten.» Er lacht. «Ich wurde in Abwesenheit zum Präsidenten gewählt. Wir gewannen die Abstimmung. Das Projekt gedieh zum Erfolg.» Später gings darum, auf Initiative von Dr. Jörg Wille, dem Enkel des Generals, das Gasthaus Löwen zu retten. «Das war eine Nummer grösser», sagt Hugo Bohny. «Wir gründeten einen Verein, später eine AG, taten uns mit der Meilemer Mittwochsgesellschaft zusammen und sammelten sechs bis sieben Millionen Franken.»
Hugo Bohny blickt auf ein erfülltes, ein erfolgreiches Leben zurück. Er wollte zusammen mit seiner Frau etwas Nachhaltiges schaffen. Im Jahr seines 80. Geburtstag gründeten die beiden die «Veronika und Hugo Bohny-Stiftung». Zweck ist unter anderem «die Förderung der Entwicklung und des Fortkommens bedürftiger Kinder und Familien in der Schweiz und im Ausland, und zwar im Sinne der ‹Hilfe zur Selbsthilfe› oder durch Leistung von Unterstützungsbeiträgen ‹zur Linderung von Not›. Und wir prämieren jährlich drei beste Bachelorarbeiten von Fachhochschulen». Präsidiert wird die Stiftung von FDP-Nationalrat und -Fraktionschef Beat Walti. «Er ist einer meiner engen Freunde», sagt Hugo Bohny.
Veronika und ich bereisten die Welt
Veronika und Hugo Bohny unternahmen ausgedehnte Reisen. Besuchten den Iran, sahen Teheran und Isfahan, bereisten den Oman, besuchten die antike Felsenstadt Petra sowie Jordaniens Hauptstadt Amman. «Mehrmals reisten wir nach China, besuchten unter anderem Shanghai und Wuhan.» Dann, nach 51 Ehejahren, habe sich bei Veronika eine Demenz bemerkbar gemacht, sagt Hugo Bohny. «Sie starb 2012.»
Leben und Sterben waren immer ein Thema bei den Eheleuten. «Wir sprachen bereits um die Jahrtausendwende darüber. Die Töchter wussten von den Patientenverfügungen. Gut informiert ist ebenfalls mein Hausarzt.»
Um seine kranke Frau zu pflegen, holte sich Hugo Bohny Hilfe. War es Fügung, Schicksal oder einfach ein besonderes Glück, als der betagte Mann Ursula, seine gute Fee kennen lernte? Die gelernte Arztgehilfin kannte sich aus mit der Pflege von Menschen, die an Demenz erkrankt waren. Sie war es, die das Leben für Hugo Bohny organisierte, als er vor zwei Jahren, nach einem Schlaganfall, über einen Monat zur Reha musste und seither auf den Rollator angewiesen ist, keinen Fahrausweis mehr hat. «Ursula hat geschaut, dass das Haus barrierefrei wird und organisiert die ‹Nachtwachen›».
Das letzte Büro längst gemacht
Ursula erzählte Hugo Bohny von ihrem Glauben und von Jesus. «Da begann ich, in der Bibel zu lesen. Zeitlebens war ich kopflastig, war ich ein Suchender. Ein Suchender bin ich geblieben. Aber Ursula hat mich gelehrt, in der Bibel zu lesen. Ihr Glaube prägt mich stark. Die ‹Kirche im Prisma› eröffnete mir eine neue Bewusstseinsebene. Ich kann gelassen leben, mache Frieden mit allen.»
Die Gespräche mit Ursula tun Hugo Bohny gut. «Wir diskutieren viel, haben auch Meinungsverschiedenheiten und können diese immer wieder klären, lassen dem anderen genug Freiraum. «Wir reden über Gott und die Welt. Über Politik und Kultur. Wir hören einander zu, versuchen den anderen zu verstehen.» Hugo Bohny schweigt, sagt dann: «Ursula und ich sind Freunde geworden.»
Eine grosse Erkenntnis sei der Alpha-Kurs in der Prisma-Kirche gewesen. «Mir wurde Folgendes bewusst», sagte Hugo Bohny, «es ist egal, ob jemand im Heuhaufen zur Welt kam oder mit einem goldenen Löffel im Mund. Wir alle brauchen Zuwendungen, wenn es nötig ist.»
Er habe ein gutes Leben gehabt und könne in Frieden gehen. «Ich schrieb Abschiedsbriefe, verfasste das Testament, bestimmte einen Willensvollstrecker», sagt Hugo Bohny. «Es ist vieles oder praktisch alles geregelt, was ich regeln kann.» Und wenn er wüsste, er würde heute Nacht friedlich einschlafen und nicht mehr erwachen – was macht das mit Ihnen, möchte ich wissen. «Das wäre ein Traum.» Sagts und lächelt.
Was auf der «anderen Seite» ist, weiss auch Hugo Bohny nicht. Er sagt: «Ich verlasse eine Welt, als es mir gut ging und gehe davon aus, es ist auf der anderen Seite ebenfalls gut. Und überhaupt: Du solltest dir von Gott kein Bildnis machen, heisst es.»
Hugo Bohny: «Ich kann in Frieden gehen»
Zum Schluss reden wir über Corona und was es mit Hugo Bohny macht. Er lächelt: «Ich bin zweimal geimpft und kenne meinen Schutzengel. Vor über 60 Jahren verunfallte ich mit Vaters Peugeot. Dieser Wagen hatte Gurten. Ich trug sie und blieb unverletzt. Der Wagen war Schrott.» Der Mann lächelt. «So oder so. Sollte ich schwer krank werden, möchte ich, dass keine lebensverlängernden Massnahmen ergriffen werden. Ich kann in Frieden gehen, möchte nicht ersticken. Schade wäre es, weil ich vieles nicht mehr machen kann, was ich gerne tat.» Er legt eine Pause ein. Wir schweigen. Dann sagt Hugo Bohny. «Es ist mir im Leben gut gegangen, und es wird mir im Jenseits ebenfalls gut gehen.»
Das Schlusswort? Nein. Hugo Bohny fügt noch an: «Wir freuen uns alle, dass Trump nicht mehr da ist.» Und als überzeugter Europäer fügt er an: «Ich möchte der Schweizer Welt sagen, wir sollten das Rahmenabkommen abschliessen.»
Wir lachen, die Stimmung ist fröhlich. Das garstige Wetter macht Pause. Im See tummeln sich Enten und Vögel. Wir schauen übers Wasser, da sagt Hugo Bohny, er hätte mit dem Pfarrer die Beerdigung besprochen und die Beisetzung im Familiengrab. Er lacht: «Aber jetzt will ich noch leben und meinen neuen Garten geniessen.»
Text: Martin Schuppli, Fotos: Paolo Foschini
Infobox
Veronika und Hugo Bohny Stiftung
Eine Antwort auf „Hugo Bohny: «Wir sollten demütiger sein»“
Ein feinfühliges Portrait eines feinfühligen Menschen. Hugos blinzeln in den Augen widerspiegelt das funkeln in seinem Kopf und Herz! Alles Gute, Hugo, und besten Dank für das Interview, Martin.