Es sind einige Zeilen aus der NZZ, die mir am 15. März 2021 entgegenspringen und in mir unfassbar traurige Bilder auslösen. Belastende Emotionen. Unter dem Titel «Die Revolution in Blut ertränkt» lese ich folgendes Abstract: «Zehn Jahre nach dem Beginn des Aufstands gegen Bashar al-Assad hat sich die Hoffnung auf einen demokratischen Wandel in Syrien zerschlagen. Oppositionelle und Aktivisten blicken mit Schmerz und Bitterkeit zurück.»
Hussein Darwish schaut ebenfalls mit Schmerz und Bitterkeit zurück auf diese schreckliche Zeit. Der Syrer lebt mit Ehefrau Awasef und fünf Kindern in Belp BE. Er betreibt an der Dorfstrasse 6 einen Coiffeursalon. Seine Flucht aus Aleppo liegt zehn Jahre zurück. Im Sommer 2011 eskalierten die Proteste gegen die Machtelite. Polizisten und Soldaten verhafteten willkürlich Menschen, verprügelten sie, steckten sie in Gefängnisse und setzten sie brutalster Folter aus. Machthaber Assad griff zu allen Mitteln, um seine Position zu verteidigen.
Hussein Darwish war damals 25 Jahre alt, Inhaber eines Coiffeursalons und einer Parfümerie in Aleppo. Er gehört einer bekannten syrischen Familie an. Zu ihr zählen rund 3000 Menschen, erklärt er und sagt, sein Vater sei ein angesehener Richter gewesen.
Husseins Vater starb im Gefängnis
Während einer der Demonstrationen gegen das menschenverachtende Regime geriet Hussein in die Fänge der Polizei und landete im Gefängnis, wo er verhört und geschlagen wurde. Nach der Freilassung sagte der Vater dem Sohn, er solle flüchten. Es werde gefährlich. Er hatte recht. Der unliebsame Richter wurde verhaftet, eingesperrt und starb im Gefängnis. Das erfuhr Hussein Monate später.
Der junge Familienvater tat, wie ihm geheissen, packte Frau und Kinder, sowie Geld und Dokumente ein und verliess Aleppo gegen Ende 2011. 13 Menschen quetschten sich in einen sandfarbenen Toyota und flüchteten in den Libanon. «Wir trugen nur unsere Kleider am Leib», sagt Hussein Darwish. «Es war eine gefährliche Fahrt, alle drei Kilometer mussten wir Kontrollpunkte passieren.»
Ziel der Verzweifelten war die Stadt Chtoura in der Bekaa-Ebene unweit der syrischen Grenze. Weit über eine Million Menschen leben in diesem Zentrum für Banken, Transport und Handel, wo militärische Anlagen und Maschendrahtzäune zum alltäglichen Bild gehören. Dort hatte Familie Darwish eine Wohnung gemietet. «Die Preise waren mit Beginn der Massenflucht um 400 Prozent gestiegen», sagt Hussein und fügt an, im Libanon seien sie als Flüchtlinge nur am Anfang willkommen gewesen.
Hussein an der Grenze verhaftet
«Wir erlebten eine schlechte Zeit» sagt Hussein Darwish. «Anfänglich dachten wir, es seien eine Art Ferien, und wir könnten bald wieder heimkehren.» Ein Trugschluss: Ein Jahr lang konnten die Kinder keine Schule besuchen. Eine Rückkehr war unmöglich. Die Flüchtlinge sahen sich gezwungen, ein Leben in der Fremde aufzubauen.
Das eröffnete Coiffeurgeschäft lief mies, die Kunden blieben aus, und Hussein musste den Salon schliessen. Er hatte keine Arbeit mehr, der Schwager musste ins Spital, die Schwester wurde ebenfalls krank. «Uns fehlte das Geld. Wir assen nur noch Brot.»
Die Situation besserte sich, als Hussein in einem anderen Quartier einen Laden eröffnete. Hier setzte er 50 bis 70 Franken um pro Tag. Das meiste Geld habe er in Medikamente investiert, sagt er.
Zwanzig Tage im Folter-Gefängnis
2014 erliess die libanesische Regierung ein neues Gesetz. Die Flüchtlinge mussten ihre Papier ennet der Grenze erneuern lassen. Und weil Hussein einer aus der Darwish-Familie ist, verhafteten ihn Assads Schergen und warfen ihn ins Gefängnis. «Zwanzig Tage lang wusste ich nicht, was ich falsch gemacht hatte. Ich wurde oft geschlagen. Sie verbanden mir die Augen und fesselten meine Hände auf dem Rücken. Ständig wurde ich auf meinen Vater angesprochen. Ich musste lügen, sagte, ich kenne ihn nicht.»
54 Männer waren sie, zusammengepfercht in einer fünf mal fünf Meter grossen Zelle. «Sie war Schlaf- und Aufenthaltsraum sowie unsere Toilette. Ich trug keine Schuhe, keine Unterhose, und schlafen konnten wir nur schichtweise. Gestank und Lärm waren unerträglich.»
Vom Tod des Vaters erfuhr Hussein erst später. Ein Schock, der nach wie vor traumatisierend wirkt. Die Familie erhielt weder den Leichnam noch irgendwelche persönlichen Gegenstände des angeblich Verstorbenen. Sie konnten ihn nie bestatten. Das tut weh.
Dank UNHCR und SRK Heimat gefunden
Um Hussein freikaufen zu können, verhökerte die geflüchtete Familie ihre Habe, das Inventar der beiden Geschäfte in Aleppo. «Wir hatten grosse Angst, schmierten Beamte mit viel Geld, und so schaffte ich es wieder, in den Libanon zur Familie zurückzukehren. Zu meiner schwangeren Frau Awasef und den drei Kindern.»
2015 kam Tochter Fatima in Chtoura zur Welt. «Ich meldete sie beim UNHCR an. Dort erkundigten sich die Mitarbeitenden nach unserem Befinden. Sie wollten mehr wissen über meinen Gefängnisaufenthalt, über unsere Flucht.» Schnell war klar, die Darwishs können nie mehr heimkehren nach Syrien. Hussein würde sofort im Gefängnis landen, und was dort geschehen könnte, möchte ich hier nicht beschreiben.
«Ich wusste nicht, wo die Schweiz liegt»
Anfang 2016 meldete sich das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge UNHCR erneut bei Hussein und bot der Familie an, die Ausreise in ein anderes Land zu organisieren. «Wir gingen hin, meldeten uns an. Die UN-Leute sagten, sie würden unsere Papiere nach Australien, Kanada, in die USA und nach Dänemark schicken. Wieder warteten wir. Wochen später hiess es: Ihr könnt in die Schweiz. Ich wusste nicht, wo das ist.» Dann wurde Hussein mit seiner Frau und den vier Kindern in die Türkei geflogen und weiter in die Schweiz, nach Zürich Kloten.
Dies geschah im Rahmen eines vom Bundesrat beschlossenen, dauerhaften Neuansiedlungsprogramms für besonders verletzliche Personen aus Syrien. Sie waren vom UNHCR bereits im Libanon als Flüchtlinge anerkannt worden. In der Schweiz erhielten sie den Flüchtlingsstatus und mussten kein Asylverfahren durchlaufen.
Hussein will arbeiten, unsere Sprache lernen
Vier Wochen lebte die Familie Darwish im Basler Durchgangszentrum. Hussein knüpfte Kontakte zu anderen Syrern. Die Diaspora in der Schweiz ist gross, man hilft einander. Anfänglich arbeitete Hussein bei einem Frisör in Bern, später pendelte er von Belp nach Basel, um in einem Salon Haare zu schneiden. «Ich will arbeiten, will jede Chance packen und raschmöglichst die Sprache lernen», sagt Hussein.
Das hat er geschafft. Mittlerweile spricht Hussein gut Deutsch, versteht sogar Dialekt. Seine Mutter und sein Bruder mit Familie wurden inzwischen ebenfalls als Flüchtlinge aufgenommen. Der Bruder arbeitet im Berner Caritas-Laden und wohnt, wie die Mutter, ganz in der Nähe.
Es waren wieder Landsleute und Freunde, die Hussein halfen, den Coiffeursalon in Belp zu gründen und einzurichten. «Ich kaufte gebrauchte Möbel, suchte mir das Inventar zusammen.» Rassismus hätte er in der Schweiz kaum erlebt. Im Gegenteil. Das sei im Libanon ganz anders gewesen, sagt der 36-Jährige.
Hier fügt der Autor ein, dass Hussein ein sehr höflicher Mensch ist und kaum ein negatives Wort über sein Leben in der Schweiz verliert. Dass es schwer ist, sich trotz aller Bemühungen mit allen Bewohnerinnen und Bewohnern in einer Überbauung in Frieden zu leben, kann ich nachfühlen.
Awasef hat ihre Eltern neun Jahre nicht gesehen
An eine Rückkehr nach Syrien ist nicht zu denken. Hussein würde vermutlich im Gefängnis landen und es wohl, wie sein Vater, nicht mehr verlassen können. Traurig sagt er: «Meine Frau hat ihre Angehörigen seit neun Jahren nicht mehr gesehen.» Awasefs Familie lebt in einem Flüchtlingslager an der türkischen Grenze. «Ich kann sie nicht herholen», sagt Hussein. «Meine Frau und ich sind sehr traurig.»
Wenig Freude macht derzeit die Coronaseuche. Es fehlen kleine und grosse Kunden, die zum Haareschneiden in Husseins Salon kommen oder die seine Künste als Barbier in Anspruch nehmen. Der fünffache Familienvater sucht nach Jobs, die er als Zusatzverdienst ausüben könnte. Zum Beispiel als Fahrer für einen Pizza-Kurierdienst oder als Zeitungsverträger, Päcklibote. «Ich will einfach arbeiten, möchte Geld für meine Familie verdienen.»
Die fünf Kinder haben sich gut eingelebt. Die älteste Tochter, Shahid, ist 14 Jahre alt und möchte als Flugbegleiterin in «Bälpmoos» abheben. Ihre Schwester Dalaa würde gerne Apothekerin werden und Bruder Abdulfattah träumt von einer Karriere als Fussballer. Hussein sagt, seine Töchter könnten selbst entscheiden, ob sie ein Kopftuch tragen wollen, ebenso gelte das für seine Frau. Sie sei sich aber an das traditionelle Kopftuch gewöhnt und fühle sich damit wohler.
Eine Rückkehr nach Syrien ist ausgeschlossen
Wovon träumt Hussein. Was wünscht er sich? «Ein Leben ohne Krieg, ohne Angst, ohne Hunger», sagt er. Zudem würde er Syrien gerne einmal besuchen, dort Ferien machen, den Kindern zeigen, wo sie gewohnt hätten. Und natürlich hofft Hussein, die Schwiegereltern könnten einmal herkommen. «Damit meine Frau nicht mehr traurig ist.»
Text: Martin Schuppli, Fotos: Ueli Hiltpold