Frage ich gesunde Menschen: Wo möchten Sie sterben – wenns denn sein muss –, antworten viele: Zu Hause im Kreis der Liebsten. Friedlich, ohne Schmerzen, ohne Angst. Das, wohlverstanden, wünsche ich mir ebenfalls.
Und dieser Tod im Kreis der Liebsten ist kein Wunschdenken. Die Betreuung von Menschen in ihrer letzten Lebensphase muss nicht zwingend im Spital oder in einem Pflegeheim erfolgen. Zu Hause sind sie ebenso wenig allein und ihrem Schicksal überlassen.
Eine, die das weiss, ist Brigitte Jäger, Pflegefachfrau aus Pfäfers. Die 44-Jährige arbeitet für den Palliativen Brückendienst der Krebsliga Ostschweiz. «Will jemand zu Hause bleiben und dort sterben, muss das ambulante Netzwerk in der Lage sein, den Patienten, die Patientin zu betreuen», sagt Brigitte Jäger. «Im Zentrum steht der Patient, die Patientin, unmittelbar dabei die Angehörigen. Der Kreis erweitert sich durch Spitex, Hausarzt, und je nach Bedürfnissen und Problemstellung kommen Fachärzte dazu, Seelsorger oder Psychoonkologen. Zudem Fachkräfte von Pro Senectute oder andere Beratungsstellen. Wir vom Brückendienst versuchen die Probleme aufzudecken, die Dienste zu vernetzen. Wir bringen unser spezialisiertes Fachwissen nach Hause und sorgen dort für konkrete Lösungen.»
Das Angebot des Brückendienstes richte sich stark nach dem Bedarf. Von häufigen Hausbesuchen bis hin zu losen telefonischen Begleitungen seien alle Varianten möglich, sagt Brigitte Jäger.
Beruflich in Mamas Fussstapfen getreten
Brigitte Jäger ist mit Leib und Seele Pflegefachfrau. Bereits als Fünfjährige plante sie, in Mutters Fussstapfen zu treten. «Ich wollte Krankenschwester werden, ging nicht ins Gymi. Mit der Diplommittelschule überbrückte sie die Zeit, bis sie 18 Jahre alt war. Dann begann sie ihre Lehre in Schlieren bei Zürich. Im Theodosianum wie ihre Mutter. Sie strahlt. Sagt: «Ich wollte nie im gleichen Spital arbeiten wie Mama, wollte nicht verglichen werden. Aber mein Vorbild blieb sie. Es tat gut, zu Hause über den Beruf zu reden, verstanden zu werden.»
Brigitte Jäger sammelte viele Erfahrungen als Pflegefachfrau. Sowohl in der Medizin wie in der Chirurgie, aus Neugier nach mehr Fachwissen ebenso in der Intensivpflege. Von dort zog es sie in die andere Blickrichtung – auf die Palliativstation. Dieses Berufsleben, diese unzähligen Begegnungen mit Kranken, mit Pflegebedürftigen prägte die Mutter von drei Kindern.
Sich selbst die Sinnfragen stellen
Brigitte Jäger bildete sich weiter, machte eine Weiterbildung in Existenzanalyse. Im Mittelpunkt dieser Sicht- und Denkweise steht dabei der Begriff «Existenz». Dieser meint ein sinnvolles, gestaltetes Leben in Freiheit, in Selbsttreue, also in Authentizität sowie in Verantwortung. «Zwei Jahre, die mir nicht nur für die Beratung anderer halfen, sondern mich mir ebenfalls selbst näher brachten. Es war megaschön», sagt Brigitte Jäger. «Es tat gut, Zeit in mich zu investieren und mir selbst einmal die Sinnfrage zu stellen. Mich etwa nach dem Warum zu fragen, nach dem Wohin oder dem ‹was tut mir gut›.»
Man brauche nicht auf jedes Warum eine Antwort, sagt Brigitte Jäger. Sie spürte, wie wichtig diese Sinnfragen ist für Sterbende, für palliativ betreute Menschen. Und so machte sie sich selbstständig mit diesem Wissen und ihrer grossen Erfahrung als Pflegefachfrau. «Als Tamina-Care-Einzelfirma betreute ich Palliativpatienten zu Hause. Es waren spannende, sehr intensive Prozesse. In dieser Phase lernte ich die klaren Bedürfnisse Sterbender kennen, wusste, worauf es ankommt. Ich arbeitete selbstständig, war rund um die Uhr erreichbar und entsprechend eng verbunden mit den Patienten.»
Zur Unterstützung in ihrem Alleingang habe sie Kontakt aufgenommen mit dem Brückendienst der Krebsliga Ostschweiz und habe so eine Anstellung gefunden, sagt Brigitte Jäger. «Als Fachperson im Süden des Kantons passte ich gut in dieses spannende Team. Ich konnte die regionalen Kontakte einbringen – sie liessen mich an ihrer grossen Erfahrung und ihrem gebündelten Fachwissen teilhaben.»
Mit interdisziplinärem Teamwork komplexe Fälle managen
Ich bitte Brigitte Jäger, mir die Aufgaben des Brückendienstes zu erklären. Sie sagt: «Wir unterstützen und beraten Menschen und ihre Angehörigen in komplexen Palliativsituationen, wenn der Wunsch besteht, zu Hause zu sterben, oder noch eine Zeit zu Hause zu verbringen. Dabei arbeiten wir eng mit Spitex, Hausarzt und anderen Dienstleistern daheim zusammen.»
«Komplex» ist die Situation dann, wenn mehrere Komponenten die Betreuung schwierig machen. So spielt etwa das Alter der Patientin, des Patienten eine Rolle. Erschwerend kanns sein, wenn verschiedene Kulturen zusammenkommen, wenn Eltern kleiner Kinder sterben, wenn es schwierig ist eine Entscheidung zu finden und zu treffen. Wenn Symptome wie Schmerz, Übelkeit oder Verwirrtheit zur Last werden, ungenügend behandelt sind. Erschwerend können ebenso Angehörige sein, die sich nicht über die Behandlungs- und Betreuungsziele einig sind.
Für Brigitte Jäger heisst es, lösungsorientiert zu handeln. Dabei kann sie auf gute Hintergrund-Ärzte, -Ärztinnen zählen. Auf top ausgebildete Spitex-Leute. Auf ein Netzwerk, das sich im Forum Palliative Care Sarganserland organisiert und austauscht.
Mit dem Brückendienst Erreichbarkeitslücken füllen
Patienten, Patientinnen, die auf den Brückendienst angewiesen sind, leiden oft an Krebs oder ALS, sind lungen-, herz- oder nierenkrank. Es sind schwerkranke Menschen, die zu Hause sterben möchten. Melde jemand Betreuungsbedarf an, sagt Brigitte Jäger, erhalte sie die Krankengeschichte und mache einen Erstbesuch. «Da lerne ich die Situation kennen. Solange die Lage stabil ist, reicht ein wöchentlicher Telefonanruf. Dann will ich wissen, was läuft. Will herausfinden, was das nächste Problem sein könnte, in welche Richtung, in welchem Tempo der Prozess läuft.»
Veränderungen können rasch, überraschend auftreten. Ein Beispiel: Eine Patientin wird delirant, also plötzlich verwirrt, weigert sich, Tropfen zu schlucken. Der pflegende Ehemann gerät an seine Grenzen, kann den Hausarzt übers Wochenende nicht erreichen und sucht, wie vereinbart, Hilfe beim Brückendienst. «Wir konnten seiner Frau die Medikamente anpassen, einen Zugang ins Unterhautgewebe stecken und über die Micrelpumpe die Medikamente kontinuierlich verabreichen. So kam der Ehemann doch noch zur Ruhe – und seine Frau konnte wenige Tage später zu Hause sterben.»
Hausärzte sind oft schwer zu erreichen
Das mit der Erreichbarkeit der Hausärzte sei ein grosses Problem. «Viele sind stark ausgelastet, können nicht rund um die Uhr erreichbar sein. Oder sind nicht affin für das Thema Palliative Care», sagt Brigitte Jäger und lächelt. «Häufig sind sie einfach froh, wenn wir vom Palliativen Brückendienst diese Erreichbarkeitslücken füllen, Wenn wir Empfehlungen abgeben oder intensive, lange Gespräche führen. Ihnen fehlt die Zeit, wir haben die Möglichkeit. Das ist okay so. Und trotzdem können wir den Hausarzt, die Hausärztin nicht ersetzen – höchstens ergänzen.» Sie lächelt. Sagt dann: «Es gibt sie aber noch, die Ärzte, Ärztinnen, die es sich nicht nehmen lassen, ihre Patienten zu besuchen, zu betreuen und in der Endphase erreichbar zu sein. Wir passen uns dem Bedarf an.»
Spiritualität als Vorbereitung für ein gutes Sterben
Gerne würde sie einen Wunsch platzieren, sagt Brigitte Jäger. «Der Umgang mit dem Sterben soll wieder natürlicher und einfacher gelebt werden. Wir sollten uns ebenso auf die spirituellen Ressourcen besinnen, sollten sie erkennen und berücksichtigen. Diese Fähigkeit gilt es als Vorbereitung auf ein gutes Sterben zu nutzen. In meiner freiberuflichen Tätigkeit wurde mir klar, dass die realitätsbezogene Aufarbeitung der Gefühle viel zur Symptomlinderung beiträgt.»
Sie erinnere sich an einen älteren Patienten, erzählt Brigitte Jäger. Schmerz sei sein offensichtliches Problem gewesen. «Er lag deshalb immer wieder im Spital, die Einstellung mit Schmerzmitteln war schwierig. Es tat so weh, dass er kaum mehr aufstehen konnte. In der engmaschigen Betreuung daheim zeigte sich Angst vor dem Sterben, vor der Unselbständigkeit. Wir erkannten die Sorge um seine geliebte Frau und eine grosse Trauer. Es gelang uns, mit ihm Schritt für Schritt aufzuarbeiten. Das Vertrauen wuchs, der Patient gewann an Sicherheit und seine Schmerzen wurden geringer. Es war ein langer Weg, ein langsamer Sterbeprozess. Nach fast einem Jahr starb er friedlich daheim.»
Eine Palliativ-Pflegefachfrau muss sich abgrenzen können, um Leid und Trauer nicht zu sehr an sich heranzulassen. Wie geht Brigitte Jäger damit um? «Im Moment arbeite ich nur 30 Prozent, kann den Rest meiner Energie, meiner Zeit für und mit meiner Familie teilen. Ich habe genügend Ausgleich. Wenn mir eine Situation zu nahe geht, versuche ich, in der Natur zu reflektieren und zur Ruhe zu kommen. Bergtouren sind dafür wunderbar. Zudem kann ich die Realitäten des Lebens und des Sterbens auf eine natürliche Weise annehmen – so belastet es weniger.»
Sterben als Realität des Lebens akzeptieren
Brigitte Jäger: Hat die Corona-Zeit deine Arbeit erschwert?
Brigitte Jäger: Beruflich wurde es schwieriger, Patienten, Patientinnen in ein Spital oder in ein Pflegeheim einzuweisen. Die Nöte von Angehörigen, die Besuchsverbot hatten, waren gross. Manchmal gelang es uns zu vermittelten, wir konnten Verständnis wecken. Schwierig war es für jene Menschen, die während des ersten Lockdowns in eine Institution eintreten mussten. Das war schlimm.
Mir wurde in den vergangenen Seuchen-Monaten bewusst, wie endlich das Leben ist. Du weisst das ebenso. Wie gehst du damit um?
Sterben gehört zum Leben – manchmal staune ich, wie weit diese Realität verdrängt wird. Ich spüre, es entlastet Betroffene, wenn ich das nahe Sterben anspreche. Wenn ich frage, ob jemand das Gefühl habe, er sterbe bald. Mir ist es ein grosses Anliegen, diese Tabuthema anzusprechen.» (Sie lächelt und hebt die Hand.) «Es gibt Situationen, wo ich es lasse, und jemand stirbt – ohne, dass wir darüber geredet haben. Das stimmt dann für mich ebenfalls.»
Wurdest du schon einmal von einem Schicksalsschlag in deinem Umfeld getroffen?
Meine Mutter starb, als ich 23-jährig war. Sie hat uns beigebracht, das Leben zu nehmen, wie es ist. Dadurch konnte ich diese Realität ebenfalls akzeptieren, konnte mein Leben weiter in die Hand nehmen. Ganz verloren hab’ ich sie nie. Ich habe so viel von meiner Mama gelernt, das mich geprägt hat. Wir bleiben verbunden.
Als Brückenbauerin dem Himmel nahe
Wenn ich dir sagen könnte, heute Nacht stirbst du still und friedlich. Was machts mit dir?
Es macht mich traurig, meine Liebsten zurückzulassen. Ich mag das Leben, ich geniesse es, und ich glaube, ich bin noch nicht fertig mit meinen Aufgaben hier auf der Erde. Aber wenn die letzte Stunde da ist, ist es so. Ich bin überzeugt, in allen Rollen ersetzbar zu sein. Und die Erinnerung an mich bleibt ja jedem, der mich kannte … so ganz tot wäre ich also morgen noch nicht. (Sagts und lächelt.)
Hast du Angst vor dem Sterben? Fürchtest du den Tod?
Nein, grundsätzlich nicht. Wobei – ich stand noch nie an der Schwelle – wer weiss?
Was geschieht danach? Wo endet die letzte Reise?
Wir kommen in den Himmel – und der beginnt einen Zentimeter über der Erde. (Sie lacht.) Der Körper stirbt. Er verwest – die Seele lebt weiter. Sie kann spirituell in Verbindung bleiben oder sich lösen und entfernen. Es gibt keine Zeit, keinen Raum. Die Seele ist da.
Wir sollten über das Sterben reden, da sind wir uns einig.
Wird das nicht kommuniziert, wird mit Schwerkranken nicht über dieses Thema geredet, ists für Betreuende viel schwieriger. Deshalb bilde ich mich weiter. Möchte mich weiterentwickeln. Möchte spirituelle Themen ansprechen. Patienten, Patientinnen sollen Kraft zu tanken. Ich leite sie an, zu reflektieren, über das Leben nachzudenken.
Die Bedeutung der Spiritualität erkannt
Brigitte Jäger beginnt im August den Lehrgang CAS Spiritual Care. «Mir ist klar, beim Umgang mit Sinnfragen und bei der Bewältigung existentieller Krisen und kritischer Lebensereignisse spielt Spiritualität eine wichtige Rolle. «Mich interessiert ihre besondere Bedeutung als Ressource, als Kraftquelle für die Lebensbewältigung und für praxisrelevante Ansätze. Sie möchte ich in meine berufliche Tätigkeit zu integrieren.
Und so wird die Pflegefachfrau für ihre Patientinnen, Patienten zur Brückenbauerin in den Himmel. Und der beginnt, wir haben es geschrieben, einen Zentimeter über der Erde.
Text: Martin Schuppli, Fotos: Eddy Risch
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