Als sie die Hunderasse zum ersten Mal sah, dachte Andrea Keller: «Nein, das geht nicht für mich.» Jaro, der Bergamasker, ist einer dieser Hunde, die Dreadlocks bis auf den Boden bekommen, wenn sie nicht täglich gekämmt werden. Einer dieser Hunde, «bei denen man nicht sieht, wo hinten und wo vorne ist». Keller lacht. Sie erinnert sich genau an den Tag, an dem sie Jaro abholte. Es war am 9. Juni im vergangenen Jahr, nachdem sie, die Musik studiert, gerade ihre Prüfungen vorbei hatte. Der Hund war damals 12 Wochen alt. Andrea Keller und ihr Mann, die zuvor noch nie Hunde gehalten hatten, ahnten damals noch nicht, dass Jaro nicht nur Arbeit bedeuten, sondern vor allem viel Entspannung in ihr Familienleben bringen würde. Jetzt sagt sie, Jaro sei «perfekt» für sie. Und nicht nur, weil die Hunderasse wenig Haare verliert.
Kellers neunjähriger Sohn Tim ist autistisch und hyperaktiv. Es kam der Moment, als er die Regelschule nicht mehr besuchen konnte, weil er mit dem Druck nicht umgehen konnte. Und der Moment, wo es auch zu Hause mit dem Buben nicht mehr ging. «Er hatte Angstzustände, war sehr aggressiv, wir konnten ihn teilweise während Stunden nicht mehr beruhigen, wenn er ausrastete», sagt Keller, die, wie auch ihr jüngerer Sohn, häufig blaue Flecken von Auseinandersetzungen mit Tim davontrug. «Wir haben uns nicht mehr getraut, mit ihm in die Öffentlichkeit zu gehen. Tim brauchte 24-Stunden-Betreuung, ich bin jeweils weinend aufgestanden und habe nicht gewusst, wie ich den Tag durchstehen soll.» Als auch starke Medikamente Tim nicht mehr halfen, blieb ihnen keine Wahl. Tim wurde während ein paar Monaten stationär betreut, später kam er in ein Schulheim. Nur am Wochenende kommt er zurück in die Familie. «Das wollten wir eigentlich nicht. Wir finden, das Kind gehört nach Hause.»
Eine Hoffnung blieb. Sie lag in der Stiftung Simpera, die Assistenzhunde ausbildet. Erst besuchte die Familie die Stiftung ab und zu und nahm einen Hund stundenweise nach Hause. Der sonst sehr unruhige Bub sass dann eine Stunde auf dem Boden und gab sich mit dem Tier ab. «Doch weil jener Hund nicht gerne unter Leute ging und dies bereits das Problem unseres Sohnes ist, war es nicht der passende Hund. Wir wollten auf einen ausgebildeten Hund warten.» Im Mai letzten Jahres war es so weit. Die Stiftung hatte einen Welpen für die Familie, den sie ausbilden konnte. «Wir mussten jemanden haben, der Tim begleitet.»
Keller zeigt ein Foto. Wie Tim auf dem Boden liegt, schon am ersten Tag neben Hund eingeschlafen war. «Uns kamen fast die Tränen.»
«Das war ein Wunder für uns»
Plötzlich seien Dinge wieder möglich geworden, die zuvor undenkbar gewesen seien. Ein Wochenende im Ferienhaus der Schwiegermutter. Eine Woche Sommerferien zu viert. Der Besuch einer Herbstmesse. «Das war ein Wunder für uns», sagt Keller. Noch immer müsse die Familie die Pläne anpassen, je nachdem, wie es dem Buben gehe. Aber: «Jaro ist unsere Sicherheit.»
Auch ein seit vier Jahren aufgeschobener Zahnarztbesuch konnte endlich stattfinden. «Wir haben Jaro bis zum Eingang dabei gehabt. Nur so liess Tim sich das Loch im Zahn flicken.» Seit Jaro da sei, sei auch der Weg zurück ins Heim kein Thema mehr. Bub und Hund verabschieden sich vor der Türe, auch schon durfte der Vierbeiner für eine Lektion mit. Keller kann wieder ein Konzert besuchen, mal kurz weggehen. Dank des Tiers bleibe Tim fokussiert, vergesse, dass es schwierig sei, allein zu sein.
«Ich glaube, Tiere sind einfacher zu lesen»
Wie sie sich das erkläre?
Einerseits spüre der Hund sofort, wie es jemandem geht. Andererseits seien Menschen für autistische Personen komplizierte Wesen. «Ich glaube, Tiere sind einfacher zu lesen», sagt Keller.
Wenn Tim unruhig werde, setze er sich neben den Hund und kraule ihn. Mittlerweile komme der Hund von allein, wenn er merke, dass Tim einen Anfall bekomme. «Jaro ist der einzige, der ihn aus diesem Zustand der Verzweiflung und Wut herausholen kann. Jaro ist neutral, redet nicht, ist einfach da.» Und legt sich auch mal auf den Neunjährigen, um ihn mit seinem schieren Gewicht zu beruhigen. Auch der kleine Bruder profitiere von Jaro. «Häufig krault er ihn mit der einen Hand, mit der anderen macht er seine Hausaufgaben.»
Keller wünscht sich, dass Tim wieder zu Hause wohnen kann, allenfalls mit der Struktur einer Tagesschule. Bis dies möglich ist, telefoniert Tim jetzt täglich mit seiner Mutter, die den Hund via FaceTime zuschaltet. Und dieser wird, ähnlich wie ein Blindenführhund, von der Stiftung Simpera noch fertig ausgebildet. Dort lernt er, in schwierigen Situationen noch besser zu vermitteln oder einzugreifen.
«Wir bringen Menschen mit Beeinträchtigungen oder Krisen zurück ins Leben. Mit der Liebe, Treue und Hilfe, wie sie nur ein ausgebildeter Hund geben kann. Hunde können bei Menschen mit besonderen Bedürfnissen ausserordentliche Resultate erzielen.» So beschreibt Marc Fehlmann die Arbeit der Stiftung Simpera, die nicht nur Blindenführhunde, Assistenzhunde, sondern auch Autismusbegleithunde ausbildet. Auch tiergestützten Interventionen etwa in Alters- und Pflegeheimen, Spitälern, Invalideneinrichtungen und Schulen zählen zum Angebot der Stiftung mit Sitz in Flaach. Die Tiere würden Menschen mit physischen oder psychischen Einschränkungen oder Behinderungen helfen, am gesellschaftlichen Leben selbstbestimmt teilzunehmen und Grenzen zu überwinden, sagt Fehlmann, der die Stiftung gegründet hat.