Bruno Schmid* sitzt in seinem Elektro-Rollstuhl und blickt an die Wand. Er kann sich seinem Besuch nicht zuwenden oder ihm zur Begrüssung die Hand hinstrecken. Die zwei Pflegerinnen der Spitex, die ihn jeden Morgen vom Bett in den Rollstuhl hieven, ihn waschen und anziehen, waren schon da an diesem nebligen Morgen in einem Dorf in der Zürcher Agglomeration.
«Samstag, 4. August 2018, 12.15 Uhr», sagt Bruno Schmid. Der 80-Jährige erinnert sich an jedes Detail, wenn er an vergangenen Sommer denkt, als ihm ein Neurologe die Diagnose gestellt hat: Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Eine unheilbare Krankheit, die immer tödlich endet.
Bruno Schmid wusste, was ALS ist. Er wusste, was auf ihn zukommen wird. Ihm ist bewusst, die Krankheit wird ihn immer mehr lähmen, bis er irgendwann nicht mehr gehen, essen und sprechen kann. Er hat im Frühjahr 2018 davon gelesen, als der berühmte Physiker Stephen Hawking an ALS verstorben ist. Dass ihn die Diagnose kurz darauf ebenfalls treffen wird, konnte er nicht ahnen.
Langer Weg zur ALS-Diagnose
Schmids Leidensweg mit der Krankheit hatte damals schon begonnen. Wahrscheinlich Ende 2017. Und wie bei vielen ALS-Erkrankten gestaltete sich die Diagnosestellung bei Bruno Schmid ebenfalls langwierig. Als er im November 2017 nach einer Rückenoperation Mühe hatte mit dem Gehen, redete ihm sein Arzt noch gut zu. «Das kommt schon wieder», habe er gesagt. Er müsse einfach fleissig Lauftraining machen. Also schleppte sich der Senior durch den Winter. «Den rechten Fuss habe ich immer hinterher geschleikt», sagt er. Irgendetwas stimmte einfach nicht. Das Gehen fiel ihm immer schwerer. Im April folgte eine weitere Rückenoperation, danach erholte er sich acht Wochen in einer Rehaklinik.
«Es ging einfach nicht vorwärts», sagt Bruno Schmid. «Ich konnte kaum mehr gehen und brauchte einen Rollator.» Frustriert verliess er die Klinik. Doch besser wurde es zu Hause nicht. Sein rechtes Bein knickte immer wieder ein. Er stürzte. Mehrmals. Als er irgendwann sogar mit Hilfe nicht mehr aufstehen konnte, brachte ihn Rettungssanitäter mit der Ambulanz ins Spital. «Im Notfall haben sie bei mir ein neurologisches Problem erkannt», sagt Bruno Schmid. Mittlerweile war es der 2. August 2018.
Mehrere Neurologen untersuchten ihn. Machten Muskelproben. Zwei Tage später sass einer der Ärzte neben seinem Bett. Die Diagnose ALS war Tatsache.
Der frühere Wirtschaftsprüfer durchläuft seither die härteste Prüfung. Es ist eine Prüfung, die noch nie jemand bestanden hat. Bruno Schmid ist nun ein Pflegefall. Seit Ende Oktober ist er zurück in seiner Wohnung. «Wir mussten alles umstellen. Ich bekam ein Pflegebett, einen Toilettenstuhl und einen Rollstuhl», sagt der 80-Jährige.
Spitex bestimmt den Tagesablauf des ALS-Patienten
Mittlerweile kommt die Spitex dreimal am Tag. Morgens, mittags, abends. An diesem Rhythmus orientiert sich die Tagesplanung des ALS-Patienten. Wirklich arrangiert hat sich Bruno Schmid noch nicht damit. «Ich kann nicht sagen, wann ich ins Bett will. Ich muss dann ins Bett, wenn die Spitex kommt», sagt er. Will heissen: Nachtruhe um halb acht Uhr. «Dann liege ich einfach im Bett. Ohne Schlaftablette bekomme ich kein Auge zu.»
Da seine Beine nachts hochgelagert sein müssen und er sich nicht selber drehen kann, muss er immer auf dem Rücken schlafen. «Dabei bin ich eigentlich Seitenschläfer», sagt er. «Ich liege am Morgen genau gleich da, wie mich die Spitex am Abend hingelegt hat», sagt Bruno Schmid.
Hilfe bei der Körperpflege ist Bruno Schmid peinlich
Manchmal hadert er mit seiner Situation. «Ich brauche Hilfe für alles. Bei der Körperpflege. Beim Gang auf die Toilette. Es ist sehr unangenehm, wenn man sich – auf gut Deutsch – von einer fremden Person den Arsch putzen lassen muss», sagt Schmid. Sich in Zukunft seinem Schicksal überlassen, will er aber nicht. «Ich habe vor über einem Jahr zu meiner Frau gesagt, dass wir vorwärtsmachen müssen. Wie wenn ich eine Vorahnung gehabt hätte», sagt er und hält kurz inne. Beide wurden Exit-Mitglieder, erstellten Patientenverfügungen, schrieben ihr Testament und liessen alles notariell beglaubigen.
«Ich habe dem Arzt in der Klinik gesagt, ich wolle den Schluss nicht erleben», sagt Bruno Schmid. Mit dem «Schluss» meinte der Kranke die immer stärker werdende Atemschwäche. Sie führt irgendwann zum Tod.
ALS-Patient Bruno Schmid bleibt gwundrig
Erstmals an diesem Morgen huscht ein Lächeln über das Gesicht von Bruno Schmid. «Mit essen, schlucken und sprechen habe ich zum Glück noch keine Mühe. Und mit dem Kopf bin ich ebenso noch voll da», sagt er. Zwar dauere das Essen sehr lange, er kann auch nur noch mit der linken Hand Besteck halten, doch er möchte alles noch machen, solange es irgendwie geht.
Trotz seiner misslichen Lage bleibt Schmid sich und seinem Wesen treu. «Ich bin furchtbar gwundrig. Das war ich schon immer», sagt er. Neben den drei Zeitungen, die er jeden Tag liest, besitzt er zahlreiche Elektrogeräte. Auf seinem Schreibtisch steht ein grosser Computerbildschirm, daneben ein iPad, ein iPhone und ein Drucker. «Alles muss in Reichweite sein, sonst komme ich nicht hin», sagt der 80-Jährige.
Am Geburtstag fliessen Tränen der Freude und der Trauer
Die Momente der Freude hätten in den letzten Monaten abgenommen, sagt Bruno Schmid. Verschwunden seien sie nicht ganz. «Heute Mittag gehen meine Frau und ich mit meinem Bruder in ein Restaurant. Er hat Geburtstag.» Der ALS-Kranke schluckt. «Ich wusste nicht, ob ich diesen Tag noch erlebe.» Eine Träne läuft über seine Wange. Eine Freudenträne. Gleichzeitig eine Träne der Trauer und Verzweiflung.
ALS-Patient Schmid geht die Dinge lösungsorientiert an
Bruno Schmid fängt sich wieder, scheint das Negative nicht zu nah an sich ranzulassen. Er sei kein Mensch, der nun labil sei und in Depressionen verfallen. «Ich bin es mir gewohnt, Dinge lösungsorientiert anzugehen», sagt er. Damit hat er schon angefangen. Er hat sich ein Behinderten-GA zugelegt, wurde Mitglied bei der Behindertenfahrdienstorganisation «Tixi Taxi» und im Verein ALS Schweiz. «Ich schaue jetzt, dass es weitergeht, solange ich einigermassen leben kann und möglichst lang relativ mobil bin.»
*Name geändert
Text: Mira Güntert, Fotos: Paolo Foschini
Diese Reportage entstand in Zusammenarbeit mit Journalismusstudenten und -Studentinnen der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) Winterthur.
22. April 2016. Dorette Lüdi: ALS ist ein Horror
27. Mai 2016. Ihre Mutter hat ALS: «Wir geniessen die verbleibende Zeit»
2. Februar 2018: Gute Reise liebe Dorette
Schweizerische ALS Stiftung
Hafnerweg 16 , 8400 Winterthur
Tel. +41 44 558 66 05
info@als-stiftung.ch | www.als-stiftung.ch
Schweizerische Muskelgesellschaft
Kanzleistrasse 80 | 8004 Zürich
Tel. + 41 44 245 80 30
info@muskelgesellschaft.ch | www.muskelgesellschaft.ch
Verein ALS Schweiz
Margarethenstrasse 58, 4053 Basel
Tel. +41 44 887 17 20
info@als-schweiz.ch | www.als-schweiz.ch
3 Antworten auf „«ALS ist meine härteste Prüfung»“
Beatrice Geiser Sandra Lachat
Wünsch viel kraft
Ich wünsche Ihnen viel Kraft und den Mut zur selbtendscheidung.!! Mein Bruder konnte es nicht mehr, war zu spät.!!
In grosser Achtung , liebe Grüsse