Andrea Salzgeber wäre bei der Geburt fast gestorben

Andrea Salzgeber und Koni von Arx sind Eltern von drei Kindern. Hannes, der Erstgeborene, verstarb vor sieben Jahren nur 13 Tage nach der Geburt. Seine Schwestern, Lina und Anna, sind putzmunter. Die vier leben im Walliser Dorf Raron.

«Ich liebe Kinder über alles», sagt die Mittvierzigerin. «Bereits als Primarschülerin wusste ich, welchen Beruf ich lernen möchte: Kinderkrankenschwester. Mir war klar, um dies lernen zu können, müssen Walliser Mädchen die Heimat verlassen und nach Bern ‹auswandern›».

Drei Jahre lernte Andrea Salzgeber in der Berner Kinderklinik. Danach entschied sie sich für eine Stelle in der Frauenklinik Bern. «Die Neonatologie entpuppte sich als meine Welt. Hier herrschen Freude und Leid sehr nahe zusammen.Dieselbe Problematik kehrt immer wieder: Wer überlebt, wer stirbt? Welche Woche entscheidet über Leben und Tod? Ist es die 23. Schwangerschaftswoche, die 24. – oder gar erst die 25., die 26?»

Andrea Salzgeber schweigt, schaut mich mit ihren grünen Augen an. Streicht sich die blonden Haare aus der Stirn. Ich weiss, meine Gesprächspartnerin erlebte diese schwierige Situation ebenso am eigenen Leib. Doch davon später.

«Solche Momente, in denen Leben und Tod ganz nah sind, forderten das Team, überforderten einige. Ich kenne diese Berührungsängste nicht. Arbeite gerne mit den Leuten, kann diese Momente mit den Eltern aushalten, mit den Angehörigen, den Kolleginnen, Kollegen. Ich kann dableiben, das macht mir keine Mühe. Ich kann sie aushalten, die Berührung mit der Angst, mit dem Tod, dem Sterben.»

Wieder schweigt sie kurz, schaut ins Leere, sagt: «Zu dieser Prägung passt ein Bild: das Bild der Mütter neben den Inkubatoren mit den extrem früh geborenen Kindern.»

Sechs Jahre arbeitete die Walliserin in Bern. Dann lernte sie den Solothurner Koni von Arx kennen. «Er hatte ein Haus im Wallis, und so zog ich wieder heimwärts. Das Schicksal wollte es so. Dabei wäre ich sehr gerne in Bern geblieben. Die Neonatologie faszinierte mich. Ich bildete mich in dieser Thematik später weiter, obwohl ich wusste, extrem junge Kinder aus dem Wallis werden nach Bern geflogen.»

Schwangerschaftsvergiftung, Andrea Salzgeber mit Familie
Andrea Salzgeber mit Tochter Anna auf dem Arm. Partner Koni von Arx trägt Tochter Lina. (Foto: Daniela Friedli)

Nach 25 Jahren zurück zu den Wurzeln

Und so kehrte Andrea Salzgeber als 25-Jährige zurück zu ihren eigentlichen Wurzeln. In der Mutter-und-Kind-Abteilung des Spitals Visp kam sie zur Welt. «Ich bin ein Zwillingskind, zwei Minuten vor meinem Bruder geboren – nach einem Not-Kaiserschnitt. Meine Mutter Georgette hatte eine Präeklampsie, also eine so genannte Schwangerschaftsvergiftung. Und Töchter von Müttern mit einer Präeklampsie haben ein höheres Risiko, daran zu erkranken.»

Wir schweigen beide.

Die Präeklampsie ist eine nicht sehr seltene Komplikation der Spätschwangerschaft, d. h., sie tritt in der Regel erst nach der 20. Schwangerschaftswoche auf. Manchmal wird sie EPH-Gestose oder schwangerschaftsinduzierte Hypertonie SIH genannt. Früher sprach man oft von Schwangerschaftsvergiftung. Wörtlich genommen bezeichnet der Begriff den Zustand einer Schwangeren vor (prä) einem Krampfanfall (Eklampsie), bei dem im schlimmsten Fall der ganze Organismus zusammenbricht. (Quelle: Swissmom.ch)

Das Unheil begann mit diffusen Kopfschmerzen

«Anfänglich setzten Koni und ich auf die Berufsschiene, da fanden Kinder keinen Platz», sagt Andrea. Später wuchs der Kinderwunsch. Nun liess sich der «Storch» Zeit. Bis am Valentinstag 2011. «Ich wusste an diesem Montag, ich bin schwanger. Wir verspürten eine Riesenfreude. Damals arbeitete ich extrem viel und bemerkte, das sich zusammenbrauende Unheil im Körper nicht.

Die ersten 14 Schwangerschaftswochen erlebte Andrea Salzgeber voller Unsicherheit. Zum Glück verlief alles normal. Ich hatte ein sehr gutes Gefühl.» So beschlossen Andrea und Koni, die ersten Familienferien zu machen. «Wir wollten in den Bergen Namen für das Kind suchen, wollten uns auf den neuen Lebensabschnitt vorbereiten.»

Dann setzten diffuse Kopfschmerzen ein – und sie hielten sich. «Ich lag zwei Tage lang oft auf der Couch, der Schmerz hielt an. Am dritten Tag besuchte uns meine Freundin mit Kindern und Ehemann. Wir luden sie ein zum Raclette. An diesem Morgen sagte ich zu Koni: Ich fühle mich so unglaublich glücklich.»

Die Kopfschmerzen verschwanden nicht. Überzeugt, da wäre nichts, mass sich die Krankenschwester den Blutdruck. Ups. 200/110. Andrea Salzgeber schaut mich an, die Augen weit aufgerissen. «Ich wusste, es kommt nicht gut.» Die erfahrene Neonatologie-Fachfrau telefonierte in den Gebärsaal des Spitals Visp. Eine Arbeitskollegin nahm den Anruf entgegen und versuchte zu beruhigen. Etwas später rief die Chefgynäkologin zurück. «Alle wollten sie dasselbe, sie sagten ‹Es kann nicht sein›, sagten ‹Mach dir keine Sorgen›. Ich packte zu Hause alles ein, Kopfkissen, die Musikdose in Form eines weissen Sterns. Ich wusste, es kommt zur Geburt …». Diese Worte lässt sie ausklingen. Sie tönen unheilvoll.

Koni begleitete seine Partnerin ins Spital; zu Beginn der 25. Schwangerschaftswoche. Andrea Salzgeber sagt: «Das ist die entscheidende Grenze: Überleben oder nicht. Sämtliche Werte waren schlecht. Eiweiss, Urin, Blutdruck. Alles komplette Sch …!» Sie schleudert den Kraftausdruck leise hinaus in den Raum. «Schlimm. Massiver gehts nicht.»

Die Frau macht erneut eine Pause. «Ich wusste nicht, in welcher Klinik ich landen würde. Bern bot keinen Platz für ein extrem frühgeborenes Kind. Zürich, Basel und Luzern ebenfalls nicht. Es gab Diskussionen. Keine Uniklinik in der Deutschschweiz konnte uns aufnehmen. Einmal mehr wurde mir bewusst: Intensivpflegeplätze in der Neonatologie sind sehr knapp. Und nun gab es für mich, für uns, in der gesamten Deutschschweiz keinen Platz.

Schwangerschaftsvergiftung, Andrea Salzgeber
«Die Neonatologie war meine Welt. Die Berührung mit der Angst, mit dem Tod, dem Sterben konnte ich aushalten», sagt Andrea Salzgeber. (Foto: Daniela Friedli)

Im Spital Lausanne verstand mich niemand

Die werdende Mutter musste nach Lausanne ins CHUV. Dort, im Centre hospitalier universitaire vaudois, reden Ärzte und Pflegefachleute französisch. Andrea Salzgeber erinnert sich gut an die beklemmende Situation: «Ich lag im Rettungsfahrzeug auf dem Rücken und sah die Täler, Dörfer und Städtchen des Wallis vorbeiziehen. Mit Blaulicht rasten wir Richtung Genfersee. Mir wurde schlecht.» Ebenfalls in der Ambulanz sass Andreas Hebamme Yolanda, ihre Stellvertreterin im Spital Visp. Ausnahmsweise gab es keine Diskussionen, ob eine Hebamme die kranke Frau begleiten darf. Es war Mittwoch, der 20. Juli2011. Ein wolkenloser, aussergewöhnlich kalter Abend.

«Das Kind war 24 Schwangerschaftswochen alt»

Andrea Salzgeber: «Ich wusste, es passiert was Schlimmes. Unterwegs sagte ich zu meiner Hebamme: ‹Ich möchte einschlafen und frühestens in zwei Jahren wieder aufwachen›. In Lausanne erklärte mir niemand etwas, ich konnte nichts fragen. Yolanda blieb solange bei mir, wie die Sanitäter sich Zeit nahmen und warteten. Sie versuchte mich zu beruhigen, ich wusste, du bist an einem für dich schlechten Ort, da schaut dir niemand. Die Welt erschien mir so fremd und ich, und wir, wir fühlten uns so alleine.» Partner Koni folgte später mit dem Zug.

Das Team im CHUV musste abwägen, wessen Leben  es rettet soll. Das der Mutter, das des Kindes? Niemand wusste, wann es kippt. «Mir war klar, das Kind ist 24 Schwangerschaftswochen alt. Ich wusste, es lebte bereits eine Zeitlang in meinem erkrankten Körper. Ich konnte mir genau vorstellen, was nun abgeht. Wiederholterlebte ich diese Situation in meinem Berufsleben. Hier sprachen alle französisch. Für mich interessierte sich niemand wirklich. Zum Glück kannte ich das Metier und wusste Koni an meiner Seite.
Am anderen Morgen brachten sie mich aus dem Gebärsaal in ein spezielles Überwachungszimmer. Dort wartete ich auf das Pränatalgespräch. Ich wollte diese Konfrontation nicht. Zu oft erlebte ich diese Situation. Dann sass ich jeweils an einem Bett. Dieses Mal lag ich im Bett. Die Ärztin sagte nichts Medizinisches zu mir, sondern nur: ‹Frau Salzgeber, überlegen Sie, was Ihnen hilft, diese Situation zu bestehen›. Da wusste ich, jetzt passiert etwas auf einer Bühne, die ich noch nie betreten musste.
Zwei Tage später verlegte mich das Team auf die geburtshilfliche Intensivstation. Links und rechts lagen Frauen mit schweren Präeklampsien. Nur Vorhänge trennten uns. Koni nahm sich eine halbe Stunde Zeit: Machte Pause, um erstmals ausserhalb der Frauenklinik etwas zu essen. Ich wusste, meine Nieren arbeiteten nicht, aber niemand wollte das wahrnehmen. Krämpfe plagten mich, ausgelöst durch einen massiven Kalziummangel … »

Andrea Salzgeber wirkt erschöpft, während sie diese Minuten und Stunden wieder «erlebt». Sie erzählt weiter.

«Plötzlich standen zehn Ärzte um mich. Einer sagte, ich solle sofort meinen Partner zurückpfeifen. Akutes Nierenversagen. Grüne Tücher. OP. Ich befand mich fast auf dem Weg in den Operationssaal, als Koni zurückkehrte. Er rief: ‹Stop! Stop, das kann nicht sein. Sie durfte die letzten Tage nichts trinken, deshalb kann sie keinen Urin lösen›. Das Team plante einen Blitzkaiserschnitt mit dem klaren Ziel: Diese Notoperation sollte die Nieren retten und mein Leben.»

Andrea Salzgeber macht eine Pause, schaut mich mit grossen Augen an und sagt: «Das einzige, was man mir sagte: ‹Ihr Kind befindet sich an der Grenze der Überlebensfähigkeit›.»

Es war Samstagabend, das Team rief einen pensionierten Neonatologie-Professor an. Mit ihm hatte Andrea in Bern zusammengearbeitet. Niemand konnte ihn erreichen. Dafür eilte ein anderer ins Spital. Der erfahrenen Neonatologie-Fachfrau wurde bewusst: Was jetzt abläuft, ist nicht mehr Routine.

«Ausser Koni sass niemand bei meinem Kopf.Ich hatte das Gefühl, es kümmere sich niemand um mich.»Andrea Salzgeber schaut mich an. Sagt: «Du musst wissen, eine Präeklampsie macht lichtempfindlich. Sie legten mir ein Tuch über die Augen. Ich schrie: ‹Helft mir!› – Und eine grosse Angst lähmte mich.»

Dann rief jemand durch den Saal, die Thrombozyten seien schlecht. Sie könnten keine Spinalanästhesie machen. Doch die Nadel steckte bereits in Madame Salzgebers Rücken.

An der Grenze der Überlebensfähigkeit

Das Kind war geboren. Andrea und Koni bekamen das nicht mit. Beide wussten lange nicht, ob es lebt. Später hörte Koni ein leises Wimmern. Dann holte ihn jemand zum Kind. Dieses Bild vergisst er nie mehr. Sein Bub sah aus, wie ein Vögelchen, das soeben aus dem Nest gefallen war. Mir zeigten sie mein Kind später, aber nur schnell, als sie mit ihm in die Neonatologie fuhren und ich bereits wieder auf der Intensivstation lag. Es lebe, sagten sie – an der Grenze der Überlebensfähigkeit. Der Kopf sei zu klein für sein Alter. Ich wusste, was das bedeutet für seine Chancen zu überleben.»

Ein Kampf begann. Ein Kampf um Leben und Tod. Andrea Salzgeber lag ein paar Tage auf der IPS. «Ich konnte die kostbare Zeit mit meinem Kind nicht nutzen. Es ging mir schlecht. Muttermilch abpumpen konnte ich und nach einem Namen für unseren Buben suchen. Die Pflegenden nannten ihn Garçon Salzgeber oder Joujou. Sonst konnte ich nichts tun. Koni blieb zum Glück in unserer Nähe. Er pendelte ständig hin und her.»

Wir unterbrechen unser Gespräch kurz. Trinken Kaffee. Schweigen. Dann fährt Andrea Salzgeber fort mit der Erzählung, die mich aufwühlt: «Als ich unseren Sohn zum ersten Mal auf der Neonatologie besuchen konnte, sah ich ebenfalls all die Geräte zur Beatmung, die Monitore und Infusionspumpen. Ein Arzt kam und versuchte mir zu erklären, was mir längst bewusst war. Noch immer checkten die Leute auf der Neonatologie nicht, wer ich bin. Sie merkten nicht, was ich alles wusste. Ich fühlte mich wie im Film.
Natürlich arbeitete die Pflege nicht wie bei ‹mir› in Visp. Hier wehte ein harter Wind. An der medizinischen Kompetenz konnte ich nichts aussetzen. Mir fehlte die Menschlichkeit. Ich vermisste den Blick fürs Ganze.
Einmal, um ein Beispiel zu nennen, beobachtete ich eine IPS-Schwester, die mit ihren langen Fingernägeln an der Intubation meines Kindes herumfummelte und gleichzeitig mit einer Kollegin über den Ausgang schwatze. Und da passierte es: Versehentlich zog sie den Beatmungsschlauch aus den Atemwegen unseres Buben. Ich hätte schreien können. Danach dauerte es mehreren Stunden, bis die Beatmungwieder funktionierte und er optimal versorgt im Inkubator lag. Berühren durften wir ihn nicht mehr. Begründung: Er hätte schon genug Stress gehabt. Ich konnte den Pflegenden manchmal fast nicht zuschauen. Dachte oft, packt mein Kind nicht so an. Mehrmals hörte ich: ‹Ein so kleines Kind pflegte ich noch nie›. Hannes wog bloss 490 Gramm.
Die ersten Tage machte es der Bub sehr gut: Bereits am zweiten Tag schaffte er es und atmete für kurze Zeit selber. Bis er erneut den Atem der Maschine benötigte. Nach rund zehn Tagen zeigten sich die Nebenwirkungen der Medikamente. Alle Werte verschlechterten sich rapid. Es ging dem Buben ganz schnell sehr mies. Wir hofften, und ich betete um alle Kräfte dieses Universums. Betete, unser Kind solle überleben.»

Schwangerschaftsvergiftung, Andrea Salzgeber
Der kleine Hannes Salzgeber an der Beatmungsmaschine. Die vielen Pflaster und Kleber hinterliessen wunde Stellen. «Er litt nur», sagt Andrea Salzgeber. (Foto. zVg)

Nach zwei Tagen verlor Hannes die Lebenskraft

Am Mittwoch, 3. August, entstanden massive Probleme. Der Bub musste immer wieder mit dem Beutel beatmet werden, die Sauerstoffkonzentration im Blut war schlecht. Andrea Salzgeber: «Mir war klar, jetzt ist dann fertig. Ich konnte nicht mehr zuschauen, mein Bub, so hilflos, er litt nur. Überall zeigten sich wunde Stellen von all den Pflastern und Klebern.

Wir schweigen beide. Schauen uns an, schauen durch den anderen hindurch. Eine Fliege surrt durch die holzige Stube im Haus einer von Andreas Freundinnen. Es liegt leicht erhöht über dem Dorf Raron. An der steilen Strasse hinauf zur Kirche, wo der Dichter Rainer Maria Rilke begraben liegt.

Andrea Salzgeber erzählt weiter: «Koni und ich, wir wohnten in einem Elternzimmer auf dem Dach des CHUV. In der Nacht besuchten wir unser Kind. Es ging ihm überraschenderweise besser. Mir schien, der Bub hätte diese Kurve im letzten Moment erwischt. Wir verspürten Zuversicht. Eine leise Hoffnung keimte auf. Wir gingen ins Bett, schliefen etwas aus und frühstückten. Ausnahmsweise erkundigten wir uns nach dem Erwachen nicht als Erstes, wie es um Hannes Zustand stehe. Und uns telefonierte ebenso niemand.
Als wir wenig später am Empfang der Neonatologie standen, wussten wirsofort, unserem Kind gehts schlecht. Jetzt kümmerte sich jemand um uns: Wir bekamen Getränke serviert. Die Chefärztin schob Koni sogar einen Stuhl unters Füdli. Dann raunte uns eine Stimme zu, der Zustand des Buben verschlechtere sich, wir müssten reden. Ich wusste, was nun passiert: Sie würden in zwei Stunden einen grossen runden Tisch einberufen. Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht mit vielen Leuten um einen Tisch sitzen. Sagte: Ein kleiner genügte mir vollends. Diesen Wunsch erfüllte mir das Team. Sie sagten: Der Bub habe schlechte Sauerstoffwerte. Sie könnten es nicht mehr verantworten, die lebensrettenden Massnahmen weiter zu führen. Jemand fragte: ‹Wollt ihr ihn taufen? Wie wollt ihr dieses Abschiednehmen gestalten?› Koni verstand des Gesprächs lange nicht, was man uns sagen wollte. Hannes wird sterben!
Eine Seelsorgerin sass mit am Tisch. Sie hiess Ruth und taufte unser Kind auf den Namen Hannes. HannesMariusSalzgeber. Er wurde mir und später Koni auf die Brust gelegt.Das erste und letzte Mal. Wir konnten den ganzen Tag mit Hannes verbringen. Von Mittag bis Abend. Er war sehr sediert, lebte aber, wurde beatmet. Die Neonatologin, eine Oberwalliserin, ging bereits heim und liess uns wissen, sie komme zurück, um Hannes von der Beatmung zu nehmen, sobald wir Abschied genommen hätten. Sie versuchte, uns Zeit zu lassen. Und sie sprach unsere Sprache.
Nachts um zehn Uhr liessen wir sie kommen. Nach ungefähr einer halben Stunde, einer Stunde, verlangsamte sich Hannes’ Herzschlag. Am Donnerstag, 4. August, kurz vor 23 Uhr, starb unser Bub auf meiner Brust. Er war tot.

Am Donnerstag, 4. August 2011 verstarb Hannes Marius Salzgeber auf der Brust seiner Mutter Andrea. Seine Lebenskraft reichte für 13 unvergessliche Tage. (Foto. ms)

Was blieb uns?

Wir assen Bouillon, eine Quicksoup. Gingen ins Bett, schliefen. Gelandet auf einem anderen Boden. Gelandet in einer neuen Realität. Am Morgen verabschiedeten wir uns von den anderen Eltern, sagten, sie können essen und trinken was von uns im Kühlschrank sei.

Am Nachmittag führte uns jemand in ein kleines Kämmerchen. Dorthin brachten uns ein Angestellter den stillgewordenen Buben. Das Kind fühlte sich kalt an. Wassertropfen perlten auf seinem Gesicht. Als wir das Kämmerchen verliessen, brachte jemand Hannes, ohne unser Wissen, in die zentrale Leichenhalle des CHUV.

Es war Freitag, der 5. August 2011, kurz vor fünf Uhr abends. Ich rief den Bestatter des Dorfes an. Ihn kannte ich gut. Sein Kind lag einst auf der neonatologischen Abteilung wo ich arbeitete. Und das ebenfalls wegen einer Präeklampsie der Mutter.

Er sagte, ‹Ich hole euch sofort ab. Ruf aber gleich in diese Leichenhalle an.Die schliessen in zehn Minuten, dann läuft bis Montag nichts.›. Ich kam zu spät. Nicht einmal als Mutter konnte ich mit meinem schlechten Französisch etwas ausrichten.

Wir sahen Hannes nie mehr. Ich hatte Abschied genommen von diesem Körper. Koni erlebte das anders. Er bereut es nach wie vor. Ich sagte, das darf nicht so laufen. Hätten wir ihn nur mit in unser Zimmer genommen und am anderen Tag versteckt im Zug mit nach Hause. Das wäre sehr wertvoll gewesen.

Schwangerschaftsvergiftung, Andrea Salzgeber, Kirche Raron
Die Burgkirche St. Romanus in Raron liess der Architekt Ulrich Ruffiner in der Zeit von etwa 1510 bis 1517 erbauen. Er bezog den aus dem 12. Jahrhundert stammenden alten Wehrturm mit ein in seinen Bau. Diesen mystischen Ort am Fusse der Burgkirche wählte der deutsche Dichter Rainer Maria Rilke als letzte Ruhestätte. Bild: ©Raron-Niedergesteln Tourismus

Beerdigung in der Burgkirche von Raron

Am Mittwoch, 9.August 2011, verabschiedeten Andrea und Koni ihren Hannes Marius mit Angehörigen und Freunden. Sie feierten eine wunderschöne Beerdigung in der Burgkirche auf dem Hügel ob Raron. Dort, wo Rainer Maria Rilke begraben ist. «In der Regel finden in dieser Kirche keine Beerdigungsfeiern statt. Wir wollten es aber unbedingt, undwir setzten unsdurch», sagt Andrea Salzgeber. Lächelt.

Die trauernden Eltern konnten alles gestalten. Eine Freundin, Sängerin von Beruf, sang unter anderem das Wiegenlied von Schubert. Es besingt ein verstorbenes Kind. «Das Erlebnis hoch über dem Dorf zwischen Himmel und Erde war stark», sagte Andrea. «Ich ging ein Stückchen weit mit in diesen Himmel.»

Andrea Salzgeber und ich spazieren hinauf zur Kirche. Umrunden sie im Gegenuhrzeigersinn. Bleiben stehen vor dem Grab von Rainer Maria Rilke. Schweigen. Später halten wir ein weiteres Mal inne. Stehen vor dem Grab von Hannes Marius Salzgeber. Die Situation berührt mich sehr.

Schwangerschaft trotz grosser Gefahr

«Wie erlebtest du die Folgeschwangerschaften?», will ich wissen. Andrea Salzgeber schaut mir in die Augen. Sagt: «Ich hatte grosseAngst. Aber wir wollten doch ein Kind. Viele sagten, du darfst nicht mehr schwanger sein. Mir war klar, warum. Eine neue Schwangerschaft wäre eine grosse Gefahr. Das wusste ich. Und wusste ich etwas nicht, las ich es nach.» Sie lächelt, blinzelt in die Sonne. Eines Tages, hiess es dann: ‹Du bist wieder schwanger›».

Andrea Salzgeber sagt: «Mich plagten Ängste. Das Risiko für eine erneute schwere Präeklampsie war hoch. Ich war sehr vorsichtig. Versuchte, mich zu so weit wie möglich zu schonen. Nichts erlebte ich wie früher. Es gab keine Sorglosigkeit mehr.» Eine grosse Hilfe boten Andrea Salzgeber in dieser Zeit die Unterstützung und Anweisungen auf der Webseite: www.gestose-frauen.ch.

Der Verein «Arbeitsgemeinschaft Gestose-Frauen Schweiz» soll eine zentrale Anlaufstelle für betroffene Frauen, ihre Angehörigen und andere am Thema Gestose (Präeklampsie, Eklampsie, HELLP-Syndrom) interessierte Personen sein.

Schwangerschaftsvergiftung, Andrea Salzgeber
Andrea Salzgeber und Koni von Arx sind Eltern von drei Kindern. Hannes, der Erstgeborene, verstarb vor sieben Jahren nur 13 Tage nach der Geburt. Seine Schwestern, Lina und Anna, sind putzmunter. Die vier leben im Walliser Dorf Raron. (Foto: Daniela Friedli)

Andrea und Koni freuen sich heute über ihre beiden putzmunteren Mädchen. Lina ist vier, Anna zwei Jahre alt. «Es geht ihnen gut», sagt die glückliche Mutter. «Allerdings musste besonders Lina ihre Startschwierigkeiten meistern.» Das kurze Schweigen verleiht ihren Worten Nachdruck. Sie strahlt mich an, sagt: «Gut, gibts Wunder.»

Text: Martin Schuppli, Fotos: Daniela Friedli

Schwangerschaftsvergiftung, Andrea Salzgeber, Kiental-Workshop Fachstelle Kindsverlust.ch
Während eines Workshops der Fachstelle kindsverlust.ch im Kiental BE diskutierte DeinAdieu-Autor Martin Schuppli mit Andrea Salzgeber (rechts), Fachstellenleiterin Anna Margareta Neff (links) und Hebamme Janine Kipfer-Balmer (Mitte). (Foto: Daniela Friedli)

DeinAdieu berichtete mehrfach über das berührende Thema Kinsverlusts

Zwei Beispiele:

Neonatologie am LUKS

Kindsverlust: «Behandelt das verstorbene Kind mit Würde»

Schuberts Wiegenlied
Schlafe, schlafe, holder, süsser Knabe,
Leise wiegt dich deiner Mutter Hand;
Sanfte Ruhe, milde Labe
Bringt dir schwebend dieses Wiegenband.
Schlafe, schlafe in dem süssen Grabe,
Noch beschützt dich deiner Mutter Arm.
Alle Wünsche, alle Habe
Fasst sie liebend, alle liebwarm.
Schlafe, schlafe in der Flaumen Schosse,
Noch umtönt dich lauter Liebeston;
Eine Lilie, eine Rose,
Nach dem Schlafe werd‘ sie dir zum Lohn.

Franz Josef Schubert (1797-1828)

Grabinschrift von Rainer Maria Rilke.
Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,
Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern.
Der Dichter lebte vom 4. Dezember 1875 bis am 29. Dezember 1926. Er verstarb im Sanatorium Valmont bei Montreux VD.
Mütter, Eltern, die ein Kind verloren haben, finden Informationen und Hilfe bei:
Fachstelle kindsverlust.ch
Fachstelle Kindsverlust während Schwangerschaft, Geburt und erster Lebenszeit
Belpstrasse 24, 3007 Bern
fachstelle@kindsverlust.ch  | www.kindsverlust.ch
Beratungstelefon: +41 31 333 33 60
Spenden: IBAN CH19 0900 0000 3070 8075 5
sowie bei der
Jasmin Soraya Fondation
Engagement für Sternchen Familien
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sternchen@jasminasoraya.ch | www.jasminasoraya.ch
Spenden: IBAN: CH21 8077 4000 0051 0372 3
Gestose-Frauen.ch
Der Verein «Arbeitsgemeinschaft Gestose-Frauen Schweiz» soll eine zentrale Anlaufstelle für betroffene Frauen, ihre Angehörigen und andere am Thema Gestose (Präeklampsie, Eklampsie, HELLP-Syndrom) interessierte Personen sein.
www.gestose-frauen.ch  |  gestose-frauen@bluewin.ch
Kontakt:
Vera Rösch
Haselweg 8, 8590 Romanshorn
Nicole Berry
Castaletweg 49, 7206 Igis