Auf Rituale müssen wir uns einlassen können. Dazu ist Offenheit nötig und Demut. Damit kennt sich Andrea Schena aus. Neben ihrer Arbeit als Direktionsassistentin baute sich die 43-Jährige ein Standbein als Ritualgestalterin auf. Zu ihrem Angebot gehören Rituale- und Zeremonien an den grossen Lebensübergängen wie Geburt, Heirat, Abschied und Tod sowie Naturrituale im Jahreskreis und Rituale zu persönlichen Themen, die einer Klärung bedürfen.
Anfänglich waren es Interessierte aus der Umgebung, die sich an den Ritualen im Jahreskreis beteiligten, inzwischen hat sich das Angebot herumgesprochen, und die Teilnehmenden kommen ebenfalls aus dem «Unterland» ins wildromantische Albulatal.
Verbinden – verweilen – erfahren
Jede Jahreszeit habe ihre eigene Kraft, ihre eigenen Themen und Weisheiten. In einem Ritual in der Natur könnten wir die äusseren und die inneren Zusammenhänge wahrnehmen und ihnen Aufmerksamkeit schenken, sagt Andrea Schena. «Gemeinsam erleben wir die Natur in ihrer jeweiligen Besonderheit als Kraftquelle, halten inne und erfahren die Geborgenheit der Natur sowie der Gemeinschaft.» Es seien magische Momente, die während Ritualen entstehen können. Und danach fühle sich der Körper leicht und freudig an, entlastet und klar. «Einfach gut.»
Abschiedsrituale können den Trauerprozess anstossen
Eine besondere Bedeutung geniessen Rituale bei sogenannten Lebensübergängen. Bei einer Taufe oder Hochzeit etwa oder beim Abschied eines geliebten Menschen. «Während Ritualen entsteht eine Art heiliger Raum, das erfahre ich immer wieder», sagt Andrea Schena. «Er beginnt sich bereits bei den Vorgesprächen aufzubauen, bei der Ausarbeitung des Rituales und bei der Gestaltung des Ritualplatzes. Und dieser heilige Raum zeigt sich während des Rituals in seiner klarsten Form.»
Abschiedsrituale sind eine wichtige «Handlung», um den Trauerprozess in Gang zu bringen, die Trauer anzunehmen, die Trauer zu leben, sie zu bewältigen oder mit ihr zu leben. Andrea Schena: «Mit einer persönlichen, sorgfältig gestalteten Trauerfeier können wir die Einzigartigkeit jedes Menschenlebens zum Ausdruck bringen. Es gilt, das Verlorene bewusst zu machen, zu würdigen und zu verabschieden. Wichtig und sehr heilsam für den Trauerprozess ist, sich genügend Zeit und Raum für die Verabschiedung zu nehmen. Gestaltet jemand die Feier mit, wird der Abschied ein Stück weit fassbar und letztendlich für Trauernde erst begreifbar.»
Der Trauer Raum schenken
Ein Abschiedsritual würde die Möglichkeit bieten, dem Schmerz sowie der Trauer Raum und Aufmerksamkeit zu schenken, sagt Andrea Schena. «Das hilft, den Verlust einzuordnen. Rituale schenken kraftvolle Momente, lassen Verbundenheit erfahren, machen bewusst und ermöglichen Klärungen sowie Lösungen.» Diese Erfahrung bestärke einen darin, den eigenen Weg vertrauensvoll und zuversichtlich weiterzugehen. «Wann immer möglich, findet ein Ritual in der Natur statt. Dort können wir die Kräfte der Natur zur stärkenden Begleitung miteinbeziehen.»
Ein Lied für das nicht geborene Kind
Was machts mit dir, wenn du ein Abschiedsritual, eine Abschiedszeremonie durchführst, will ich wissen. Kannst du dich abgrenzen? Wie weit geht dein Mitfühlen? Es sei jeweils speziell, sagt die Ritualgestalterin und schweigt einige Momente. «Ich bin bei jedem Ritual sehr fokussiert, bin berührt, manchmal rollen Tränen.» Es sei aber nicht die eigene Trauer, die in ihr diese Gefühle wecken würde, sondern mehr die Situation, die sie bewege. «Es sind die kleinen Wunder, die während eines Rituals geschehen können, die Emotionen auslösen. Etwa, wenn Heilung sichtbar wird. Ich muss als Ritualgestalterin den Raum halten. Muss die Energie bündeln. Ich weine mit, verliere aber nicht die Fassung.» Sie schildert einen berührenden Moment während eines Rituals, als ein Mann ein Lied sang für sein nicht geborenes Kind. «So verabschiedete er den unerfüllten Wunsch vom eigenen Kind.»
Mit Abschiedsritual die lange Leidenszeit beendet
Sie mussten ebenfalls Abschied nehmen, Andrea und ihr Mann Mario. Der gemeinsame Wunsch Eltern zu werden, wollte sich nicht erfüllen. Wie gingst du damit um, will ich wissen. Hast du nie gehadert? Andrea schweigt erst, sucht passende Worte. «Es war ein sehr langer Prozess. Wir wollten der Natur nicht dreinreden und nutzten deshalb die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin nicht. Es hätte uns in keiner Art und Weise entsprochen.» Es sei Arbeit mit sich selbst nötig gewesen, mit dem Partner, sagt Andrea Schena. «Die vertiefte Auseinandersetzung miteinander schweisste uns zusammen.»
Sie hätte oft eine grosse Trauer und ebenso Wut, Neid verspürt. Hätte nicht verstanden, warum gerade sie nicht schwanger werden konnte. Sie habe an sich gezweifelt, an sich als Frau. Schwierige Momente hätte sie erlebt. «Wenn die Verzweiflung und die Trauer zu gross wurden, besuchte ich meinen Kraftort im Wald, legte mich auf den Erdboden und weinte. In solchen Momenten fühle ich mich getragen und geborgen. Ruhe und Vertrauen kehren ein.»
Hat dir, hat euch, das Abschiedsritual dabei geholfen, den Kinderwunsch loszulassen? Andrea Schena nickt: «Ich war 39 Jahre alt, Mario 47. Da verabschiedeten wir den unerfüllten Wunsch. Es war der Höhepunkt einer langen Leidenszeit. Während des Rituals schauten wir zurück auf die Tiefs und die Hochs. Wir würdigten diese Zeit und verabschiedeten uns mit einer bewusst gesetzten symbolischen Handlung vom Wunsch. Wir ehrten einander und schenkten uns Wertschätzung als Frau und als Mann, als Nicht-Eltern. Das erlebten wir sehr berührend.» Sie schweigt kurz und fährt dann fort: «So ein Ritual muss im passenden Moment vollzogen werden. Wir mussten den Wunsch also wirklich loslassen können.»
Ist die Trauer gross, zieht sich Andrea Schena in die Natur zurück
Es sei so eindrücklich, dass nach der Erfahrung mit dem Abschiedsritual weder Neid noch Groll vorhanden gewesen seien. «Ich war wie aus einer Starre erwacht. Heut sind wir ein stolzes Paar ohne Kinder. Wir schätzen die Vorteile, haben viele Göttikinder, haben Neffen und sind gerne mit Kindern zusammen. Und …» Sie hebt die Hand, sagt: « … wir schätzen unsere Freiheiten sehr.»
Damals hatte Andrea Schena ihre dreijährige Ausbildung zur Ritualgestalterin abgeschlossen. Sie, die einst FIS-Skirennen fuhr und ausgebildete Schneesportlehrerin ist, wusste jetzt, Rituale können klären, können bei einer Neuorientierung unterstützen. Sie wirken beruhigend und schaffen Vertrauen. Sie verbinden mit der Urkraft und geben Struktur sowie Orientierung. «Rituale können einen das Abschiednehmen lehren», sagt Andrea Schena. «Und sie können einen emotional stabilisieren.»
«Ich zeigte mich offen in meiner Trauer»
Was ist mit Reden? Hilft reden in Zeiten grosser Trauer? Andrea Schena: «Das ist sehr individuell. Mir, uns, half es. Der unerfüllte Kinderwunsch war zu keiner Zeit ein Geheimnis. Im Gegenteil: Ihn zu verstecken, wäre viel schlimmer gewesen. Ich zeigte mich offen in meiner Trauer. War sie sehr gross, zog ich mich in die Natur zurück.»
«Zeit heilt Wunden», heissts im Volksmund. Andre Schena sagt dazu: «Ich glaub schon. Obwohl der unerfüllte Wunsch einen immer mal wieder berührt. Abschneiden lässt er sich nicht. Trauer darf sich immer wieder mal zeigen. So gehe ich, wenns sein soll, einen Moment in die Trauer und dann, wenns passt, gehe ich wieder raus.»
Besser eine Berührung statt «falsche» Worte
In diesen Momenten der Trauer pflegt Andrea Schena ein schönes Ritual. Sie erzählt mir von einem Geschenk der Natur: «Während des Rituals, als wir den unerfüllten Kinderwunsch verabschiedeten, fand ich einen herzförmigen Stein. Ab und an nehme ich ihn am Abend zu mir, führe ein stilles Zwiegespräch mit ihm. Bitte ihn, mich durch die Nacht zu geleiten.» Sie lächelt. «Mein Herzstein symbolisiert die Seele, die nicht zu uns kam.»
Ich muss wohl etwas kritisch geschaut haben als ich sagte: Und dein Mann … Andrea Schena unterbricht mich, sagt lächelnd: «Der Mario, der lässt mir das.»
Trauern. Ein grosses Thema. Nicht nur, wenns ums eigene Leid geht. Trauern andere, betrifft mich das ebenfalls. Aber wie gehe ich damit um? Soll ich jemanden auf ein trauriges Ereignis ansprechen, frage ich Andrea. «Oft ist es schwierig die passenden Worte zu finden. Das kann einen unbeholfen machen», sagt sie. «Manchmal reicht es, wenn ich jemanden berühre. Wenn ich einfach da bin. Wenn ich Zeit schenke.
Abschiednehmen vom aufgebahrten Schwiegervater
Sie legt eine Pause ein und unterstreicht ihre Worte mit Gesten. Ich frage: Soll ich Trauernde auf das Ereignis ansprechen? «Ja», sagt Andrea Schena, «wenn du Zeit hast und bereit bist, zuzuhören.» Sie schweigt kurz, sagt dann: «Wir sind oft mit uns selbst beschäftigt. Da ist es eine grosse Kunst, einem anderen Menschen Aufmerksamkeit zu schenken. Präsent zu sein. Ganz auf ihn, ganz auf sie, einzugehen.»
Wie so oft möchte ich in einem Gespräch wissen, ob mein Gegenüber schon einmal konfrontiert wurde mit dem Verlust eines nahestehenden Menschen? «Ja», sagt Andrea Schena. «Die ersten waren wohl meine Grosseltern. Ihren Tod erlebte ich als Kleinkind. Ich denke, damals betrachtete ich das Sterben und den Tod bei ‹alten› Menschen als ganz natürlich, und das Traurigsein erhielt den entsprechenden Raum.»
Den Sterbeprozess ihrer Schwiegereltern habe sie als nahestehendes Familienmitglied in direkter Beziehung miterlebt. Die jeweilige Begleitung der Sterbenden durch die Familienangehörigen sei sehr eindrücklich gewesen. «Der natürliche und offene Umgang der vier Söhne mit den sterbenden Eltern berührte mich. Mein Schwiegervater wurde in der Stube zwei Tage lang aufgebahrt. Alle aus dem Dorf konnten sich verabschieden.»
«In Frieden loslassen und gwundrig sein»
Andrea Schena: Unser Leben ist endlich. Es kann jeden Moment zu Ende sein. Was macht dieses Wissen mit dir?
Andrea Schena-Kurath: Es hilft mir, dass ich Dinge mache, die mir grundsätzlich gut tun. Ich versuche meinem Seelenplan nahe zu leben. Ich mag die Ehrlichkeit.
Wenns soweit ist, hast du Angst vor dem Sterben?
Nein. Die Angst wich, je länger ich mich mit dem Tod auseinandersetzte. Ich wünsche mir und stelle es mir so vor: Es handelt sich um eine Art Lebens- oder Lernabschnitt. Ein Abschnitt, dessen Herausforderung darin besteht, dieses Dasein auf unserer Erde loszulassen und in Frieden gwundrig zu sein auf das, was kommt.
Wohin «gehen» wir? Gibts ein ewiges Leben oder wandert die Seele?
Wohin, weiss ich nicht; aber ich glaube, irgendwie geht es weiter. Mir hilft die Vorstellung, meine Seele fliege weiter und begegnet geliebten Seelen auf irgendeine Art wieder. Diese Vorstellung nimmt mir noch einmal die Angst.
Text: Martin Schuppli, Fotos: Eddy Risch
Andrea Schena, Ritual- & Zeremoniegestaltung
info@andrea-schena.ch | Tel. +41 79 423 71 25
Eine Antwort auf „Andrea Schena: «Rituale können einen das Abschiednehmen lehren»“
Lieber Martin und Andrea -was für ein wirklich …für mich Aussage-volles Begleitendes -kraftvolles Lebens-RITUAL-Motto -Danke
Es hat mir sehr gut getan deine Gedanken und Worte über Rituale zu lesen und aufzunehmen🙏🏽🍀🙏🏽🥰