Anna Ebnöther aus Wilen bei Wollerau feiert diesen Sommer ihren 102. Geburtstag. Für sie ist das Alter kein Thema. Für uns schon. Und so machte sie eine Ausnahme und empfing DeinAdieu-Autor Martin Schuppli zu einem exklusiven Gespräch.
Besucht haben wir Anna Ebnöther in einem Reiheneinfamilienhaus. Klassischer Stil. Keller. Parterre. Erster Stock. Bis hinauf zur Haustüre muss die betagte Bewohnerin einige Stufen überwinden. Schlecht zu Fuss kann sie also nicht sein, sage ich zu Fotograf Paolo Foschini. Wir läuten. Die Türe öffnet sich. Eine kleine Frau steht vor uns. Sie lacht fröhlich und bittet uns, einzutreten.
Das Wohnzimmer ist hell, Figürchen und Plüschtiere stehen auf der grossen Kommode. Ebenso eine silberne Standuhr. Den Tisch vor der Eckbank bedeckt ein gehäkeltes Tuch. An der Wand hängen nahe beieinander ein Heiligenbild, ein einfaches Holzkreuz sowie ein Sinnspruch. Daneben das Fell eines Esels. Anna Ebnöther serviert uns wunderbaren Kaffee mit Schümli, stellt einen Teller hin mit Rähmchen und Zucker. Dann setzt sie sich und beginnt zu erzählen.
Anna Ebnöthers Geschwister sind alle verstorben
Geboren ist die vife Dame an einem Dienstag und zwar am 31. Juli 1917 in Unteriberg, wo sie aufgewachsen ist. «Wir waren fünf Geschwister», sagt Anna. «Der Franz, der Fridl, der Sepp, die Hermine und ich. Sie leben alle nicht mehr. Der Sepp wurde mit 94 Jahren in Rüti überfahren.» 40 Jahre wohne sie nun in diesem Haus, sie habe das Wohnrecht auf Lebzeiten. Ganz alleine ist sie aber nicht. «Kater Tigi ist 17 Jahre alt. Ich habe ihn seit zwölf Jahren.»
Annas Ehemann hiess Alfons. Fünf Jahre jünger war er. Ein starker Mann. «Gearbeitet hat er als Rossmetzger und Chauffeur», sagt Anna Ebnöther. «Und zwar beim Fleischhändler und Grossmetzger Gattiker in Freienbach.» Kinder hatten die beiden keine. «Es sollte nicht sein. Ich hatte einige Verschüttungen, so musste es kommen, wie es der Herrgott leitete. Man denkt so, und es kommt anders.» So sei sie halt Arbeiterin geblieben, habe in den verschiedensten Fabriken gearbeitet.
Als Alfons verunfallte, musste Anna sich für ihn wehren
Alfons und Anna waren 44 Jahre verheiratet. Vor bald 20 Jahren verstarb er. «Es war Silvester/Neujahr 1998/1999. Mein Mann war schon lange krank. Ich vermute, dass er einen Tumor hatte. Unzählige Male fiel er hin, einfach so, obwohl er nichts getrunken hatte.» Sie schweigt kurz, betrachtet das Hochzeitsbild in der Hand und erzählt dann weiter: «Einmal, nach einem Sturz, pflegte ich ihn, putzte ihm die Zähne, machte ihm Wickel. Nach drei Tagen ging ich mit ihm zum Doktor, und der glaubte mir nicht, dass Alfons starke Schmerzen habe. Nur, weil mein Mann nicht jammerte. Das liess ich mir nicht gefallen und intervenierte. Da röntgte der Arzt – und siehe da …». Sie lacht, macht eine Pause und klopft auf den Tisch. «… Alfons hatte einige Brustrippen gebrochen.»
14 Tage musste der Patient im Spital das Bett hüten, dann durfte er heim. Aber kaum war er einigermassen zwäg, fiel er wieder hin der schwere Mann. Immer wieder. Der Frau von Annas Bruder, dem Lisi, ging es gleich. Sie hatte einen Tumor. Die Ärzte behaupteten, es seien Epi-Anfälle. Anna Ebnöther: «Im Spital schnitten ihr die Chirurgen den Schädel auf und holten einen Tumor raus. Er war so gross wie ein Hühnerei. Danach ging es ihr gut. Sie lebte noch 20 Jahre.» Natürlich fragte sie sich heute, ob ihr Mann ebenfalls einen Tumor gehabt habe.
«Alfons starb im Spital Lachen», sagt Anna Ebnöther. «Es hiess ich müsse meinen Mann heimnehmen, die Krankenkasse zahle nicht mehr. Er hätte ins Pflegeheim gehört oder ins Altersheim, aber das konnten wir nicht bezahlen.» Sie seufzt und fährt dann fort: «Zum Glück setzte sich ein Arzt für uns ein.» Der Schwerkranke durfte bleiben.
Anna und Alfons sind viel gereist. «Und zwar mit Töff und Auto. Wir waren an vielen Orten. Etwa in Monte Carlo und einmal flogen wir sogar nach Rhodos. Das war schön.» Sie lacht und strahlt. Dann wird sie wieder ernst. Nachdenklich. «Wir mussten schmal durch», sagt sie. «Klar, ich wohne im eigenen 4,5-Zimmer-Reihenhaus, resp. ich geniesse hier lebenslängliches Wohnrecht. Aber es mangelt immer am Geld.»
Ergänzungsleistungen? Ich bin doch kein Bettelsack
Bekommt sie denn keine Ergänzungsleistungen? «Das will ich nicht!», ruft sie und doppelt energisch nach: «Ich bin doch kein Bettelsack.» Fridl, ihr Göttibub, sagt, sie hätte schon vor 30 Jahren gegen 3000 Franken pro Monat bekommen. Wollte aber kein Geld. Wir rechnen. Anna sparte dem Steuerzahler eine Million Franken.
Und für die Krankenkasse ist die alte Dame kaum eine Risikopatientin. Sagt sie doch: «Ich brauche nur eine Lesebrille, ich sehe gut, höre gut, war seit 20 Jahren nicht mehr beim Augenarzt. Ich habe nichts. Wann ich das letzte Mal beim Doktor war, weiss ich nicht. Es ist wohl länger her als zwei Jahre. Warum sollte ich zum Doktor. Ich habe ja nichts. Schlucke keine Medis.»
Unglaublich. Die 100-jährige Anna benötigt weder Rollator, noch Stock. Sie bewältigt die Treppen vor dem Haus und die Stufen im Haus ohne schmerzverzerrtes Gesicht und mit traumwandlerischer Sicherheit. Täglich, problemlos. Ohne Ächzen und Stöhnen. «Zweimal pro Woche gehe ich ins Seedamm-Center. Zu Fuss und mit dem Bus. Wenn ich vom Posten heimkomme, trage ich meist zwei schwere Taschen.» Ebenso regelmässig fährt sie nach Rapperswil in die Coiffure-Fachschule. «Dort machen sie mir seit 30 Jahren die Haare.»
Täglich trinkt sie einen Schluck Gesundheit
Verrät sie uns das Geheimnis, warum sie so alt geworden sei? Anna lacht, gluckst und sagt: «Ich trinke jeden Tag ein Schnapsgläsli Saft.» Sie zeigt mit Daumen und Zeigfinger wie das Gläsli gefüllt sei. Auf die Frage, was es denn für ein Trunk sei, sagt sie: «Ein Saft, ein Schluck Gesundheit.»
Ich schaue sie fragend an, da greift Fridl Kreienbühl in seine Aktenmappe und zieht eine rosarote Flasche raus. Zeigt sie uns. «Forever Aloe Berry Nectar» steht drauf. «Die Kraft von Aloe Vera hält offensichtlich jung», sagt er. Strahlt. Schliesslich vertreibt er den «Zaubertrank». Dazu kommt wohl, dass Anna nie geraucht hat, kaum Alkohol getrunken und nicht übermässig viel gegessen hat, also kein Übergewicht rumträgt. «Ich musste nicht schauen», sagt sie, «wir lebten einfach».
Wir kennen uns noch nicht so gut, die Anna und ich. Und so frage ich, ob die Spitex täglich vorbeikomme? Sie lacht prustend und klopft einmal mehr auf den Tisch: «Die Spitex bin ich!»
Das Telefon schellt. Anna Ebnöther steht auf, trippelt ins Nebenzimmer. Schwatzt kurz. Hängt auf. Kehrt zurück. Lacht. Sagt: «Ich bin halt gerne lustig. Und ich tanze gern. Noch heute. Es muss einfach ein Ländler sein. Ich tanzte immer lieber, als dass ich etwas gegessen hätte.»
Anna Ebnöther: «Ich war immer eine Gschaffige»
Erika und Fridl helfen ihr, das Haus in Schuss zu halten. «Nur die Fenster putze ich selbst», sagt sie und lacht. Fridl kichert ebenfalls. Dann korrigiert sich seine Gotte, sagt: «Natürlich nicht. Fenster putze ich gar nicht gerne. Da warte ich lieber, bis man nicht mehr raussieht.» Wenn, dann sauge sie das Haus. «Ich mache, was ich muss.» Und wie gut kann sie schlafen? Leidet sie unter der so genannten Frühsenilen-Bettflucht. «Ich, eine Frühaufsteherin? Gahts no! Ich schlafe bis um neun oder sogar bis halb elf. Ein Schlaföpfel bin ich. Am Sonntag mache ich zudem noch einen Mittagsschlaf.» Sie hält kurz inne. «Das kann ich mir jetzt leisten. Wir hatten wenig von den jungen Jahren. Ich arbeitete fünfeinhalb Tage pro Woche in der Fabrik.»
Sie sei immer eine Gschaffige gewesen, habe oft bis Mitternacht gearbeitet und stand dann morgens um sechs wieder auf dem Bahnhof, wartete auf den Zug. «Ich war flexibel, konnte alles machen, nur keine Lehre.»
Anna spielte gerne Theater in Altendorf SZ, zusammen mit ihrem Bruder Fridl. «Er war im Männerchor. Ich musste immer en verruckte Cheib sein.» Sie denkt nach. «Einmal war ich eine Besoffene, dreimal ein Eisbär. Eine Alte war ich ebenfalls. Ja, ich war immer ein Stolzgüggel, eine Böse, eine Verruckte, eine alte blöde Kuh». Die 100-jährige Frau lacht. «Mit mir konnten die alles machen.»
Sie fragt, wer noch einen Kaffee möchte und geht in die Küche. Dort steht sie selten zum kochen. Seit zwei Jahren bringt die Spitex unter der Woche warme Mahlzeiten zum Zmittag. «Meine tägliche Arbeit beschränkt sich darauf, Tigi zu füttern.»
«Ich bin ein Lümmel, keine tolle Frau.»
Anna guckt gerne TV und am Mittwochabend hört sie gerne Radio. «Dann kommen Ländler», sagt sie. «Und Krimis schaue sie gerne. «Aber nicht die verruckten, lieber Kommissar Rex.»
Und wieder lacht sie. Sagt: «Ich bin ein Lümmel, keine tolle Frau. Ich habe es gerne glatt, bin keine Jammeri, habe gern gute Gesellschaft und fühle mich wohl, wo gesungen wird. Dazu kommt, dass ich eine angefressene Fasnächtlerin bin. Ich war noch als über 80-Jährige bei den Butzen, schneiderte zeitlebens alles selbst, sogar meinen Hochzeitsrock.»
Ein Leben lang Kleider genäht
Das erste Kleid nähte sie mit 18 Jahren. «Meine Mutter zeigte mir, wie das geht mit dem Fadenlauf. Und dann fuhr ich stolz mit meiner Kreation durchs Dorf.» Sagts und lacht. «Aber das war einmal. Heute bin ich fast zu faul, einen Knopf anzunähen.»
Nach so viele Fröhlichkeit versuche ich, Anna Ebnöther noch einige Antworten zum Thema Leben und Sterben zu entlocken. «Ich bin überzeugt, dass es eine höhere Macht gibt», sagt sie. «Die muss die Hände im Spiel gehabt haben, sonst hätte ich den Alfons kaum kennenlernt. Die höhere Macht ist es, die sagt, wo es langgeht.» Sie sagt von sich, sie sei eine eifrige Kirchgängerin gewesen.
Ich hake nach. Die alte Dame wiederholt meine Frage. «Ob ich Angst habe vor dem Sterben?» Sie kichert: «Ich habe vor nichts Angst. Hatte meiner Läbdig nie Angst.»
Vor 50 Jahren verkeilte Gallensteine entfernt
Auch damals nicht, vor 50 Jahren, als Anna fast gestorben wäre. «Im Spital entfernten mir die Ärzte die Gallenblase. Ich hatte Steine, die sich irgendwie verkeilten. Der Doktor sagte, jeder diese Steine hätte meinen Tod bedeuten können.»
An ein Leben nach dem Tod glaubt Anna nicht. «Dann ist Schluss», sagt sie. «Aus die Maus?», frage ich. Anna reagiert resolut, klopft auf den Tisch. «Aber den Herrgott, den gibts», sagt sie energisch. «Däddi sagte: ‹Betet zur Muttergottes. Sie hilft.› Ich bete jeden Tag. Eine höhere Macht ist hier. Ich weiss das. Sagte das ja schon einmal. Ohne höhere Macht hätte ich Alfons nicht kennengelernt. Es war in der selben Zeit, als es zwischen Erwin und mir aus war, als der seine Lisi kennenlernte.»
Wir sind am Ende des Gesprächs angelangt. Anna Ebnöther sagt, sie pflege sich immer noch selbst. «Ich wasche mich jeden Tag von Kopf bis Fuss. Wie gesagt: Ich bin meine Spitex.» Sie lacht und umarmt mich.
Text: Martin Schuppli, Fotos: Paolo Foschini