Suchende können sich zeitweise zerrissen fühlen. Einerseits glauben sie zu wissen, wer sie sind – andrerseits haben sie das Gefühl, in der Welt herumzuirren, sich nicht so richtig zu Hause fühlen. So erlebt es der Autor. So schilderts meine Gesprächspartnerin Cindy Studer-Seiler, reformierte Pfarrerin aus Unterlunkhofen AG und Freie Trauerrednerin.
Die fröhliche Frau mit dem entwaffnenden Lachen bezeichnet sich als eine Suchende, die ab und zu mal was finde. «Kleine Momente sinds. Momente, in denen ich spüre, jetzt passts, jetzt ist es gut.» Sie schweigt kurz. Sagt: «Manchmal muss ich mich zwingen, zu finden.» Fröhlich schaut sie mich an. Lacht. Fährt dann fort: «Suchen ist einfacher als finden: Zum Finden müssen wir uns zwingen. Wir müssen die Momente sehen wollen – ganz bewusst.» Die Grossmutter hätte sie verglichen mit dem Hans im Schnäggeloch. Der wollte, was er nicht hatte – und hatte, was er nicht wollte.
Zwischen den «Religions-Fronten» aufgewachsen
Cindy Studer-Seiler, ist eine Wasserfrau und kam am Montag, den 15. Januar 1982 im österreichischen Mödling zur Welt. Ihre Mutter war eine junge Frau, als sie 1984 ihre Konsequenzen ziehen musste, Sack und Koffer packte und zur Mutter in die Schweiz zurückwanderte. Die Grossmutter im aargauischen Brugg sei damals 50 Jahre alt gewesen, sagt meine Gesprächspartnerin. Mit den Grosseltern verstand sich Cindy gut. Mit ihrer Mutter sowieso. Ihre Mutter habe als Alleinerziehende voll auf einer Bank gearbeitet. Und dort eine beispiellose Karriere hingelegt. «Von ihr habe ich gelernt: Man kann beides sein – liebevolle Mutter und beruflich erfolgreich.»
Zur Kirche und zur Religion hätten die Grosseltern unterschiedliche Einstellungen gehabt, sagt Cindy Studer. «Opa war praktizierender Katholik. Unzählige Kerzen zündeten wir an in den verschiedensten Kapellen. Oma war das Gegenteil. Die wusste zu viel über den katholischen Pfarrer ihrer Kindheit und wendete sich ab von der Kirche.» Die Mutter befände sich wohl irgendwo dazwischen. «Nie würde sie sagen, sie glaube nicht.»
Kaum hatte die junge Frau die Banklehre erfolgreich beendet, machte sich Ratlosigkeit breit. «Ich jobbte. Verteilte etwa Zigaretten-Müsterli in Zürcher Clubs und arbeitete auf der Personalabteilung einer Bank. Das wars nicht. Also schrieb ich mich ein an der Schauspielschule Zürich. Kümmerte mich dort aber schon früh um Engagements und motivierte auch Mitstudierende. Das wurde von der Leitung nicht gerne gesehen – und ich musste gehen. Ich war zu viel Macherin. Egal. Ich war auf die Nase geflogen.»
«Ich interessiere mich für Menschen und ihre Probleme»
Cindy Studer verspürte in dieser Lebensphase den ständigen Wunsch «ich will mehr, und ich kann mehr». Bürojobs seien ihr ein Graus gewesen, deshalb habe sie die Matura nachgeholt und sei Psychologie studieren gegangen. «Ich meinte, da gehöre ich hin. Aber das stille, sture Lernen, das Studien lesen war nicht mein Ding. Zu viele Studenten, Studentinnen, alle anonym. Ich aber interessiere mich für Menschen und ihre Probleme.»
Es waren einige Umwege zu meistern, bis Cindy Studer «ihr» Fach gefunden hatte. Die Theologie. Sie lacht heute, wenn sie sich zurückerinnert. «Die vielen komischen Leute faszinierten mich. Eine Frau beispielsweise war angezogen wie im Mittelalter, eine andere trug ihr Hündli mit in der Tasche, die sie unter dem Tisch versorgte, ein Dritter redete in der Vorstellungsrunde nur Blödsinn, erzählte von seinem Lieblingstier.» Und einer sei da gewesen, der besonders auffiel: «Reto, ein Zürcher. Der einzige der ausschaute, als wäre er ein Investmentbanker. Er trug schicke Schuhe, war gut gekleidet. Sein vorwitziges Mundwerk: brillant.»
2013 heirateten die beiden und fünf Jahre später erblickte ihr Töchterchen die Welt. Sie habe einen schwierigen Start gewählt, ihre Tochter, sagt Cindy Studer. Mit 1680 Gramm Geburtsgewicht habe sie in die Welt geschaut, als gehöre sie ihr. Kaum gegessen habe sie, aber markerschütternd geschrien.
«Das Leben zu Hause war die Hölle»
Das spielte sich ab auf der Neonatologie im Kantonsspital Aarau. Das Baby nahm nicht zu. Cindy Studer: «Ich wusste, es stimmt etwas nicht. Meine Intuition sagte es mir, und die Hebamme unterstützte mich.» Im Gegensatz zu den Ärzten, die beruhigten die sorgende Mutter. Meinten, sie solle sich von der Hauspsychiaterin behandeln lassen. «Mein Selbstvertrauen krachte zusammen.»
Ehemann Reto sei Schöppeli- und Windelwechselmeister gewesen und habe zuweilen für zwei tragen müssen. Er habe den Ärzten eher vertraut. «Ich fand mich alleine auf weiter Flur.» Die Hebamme riet, das Kinderspital zu wechseln. Meinte, man solle den Stoffwechsel abklären. Rückblickend, sagt Cindy Studer, sei das Leben zu Hause die Hölle gewesen. Wir schöppelten unser Kind rund um die Uhr, weil wir die Kalorienvorgaben der Ärzte einhalten mussten. Es schlief nicht, es trank nicht, und es war permanent wach, gestresst.
Tochter leidet an Wachstumshormon-Insuffizienz
Der Oberärztin am Kispi in Zürich erzählte die Mutter alles, machte Vorschläge, was zu tun sei. Die Ärztin habe genickt und eine Genetikerin bestellt. Die habe sich das Kind drei Minuten lang angesehen und gesagt, das Töchterchen leidet an einer Wachstumshormon-Insuffizienz. Diese Diagnose habe sie am Abend vorher gegoogelt, sagt Cindy Studer.
«Unsere Tochter entwickelt zu wenig Wachstumshormone. Unternähmen wir nichts, bliebe sie sehr klein, sehr fein. Kein Wunder, braucht sie viel weniger Kalorien.» Bald erhält ihre Tochter täglich eine Wachstumshormonspritze und die Eltern fühlen sich ernstgenommen. «Ich bin unendlich dankbar für die Diagnose. Und unser tolles Ärzteteam, zu dem auch wieder Ärzte der Kinderklinik Aarau gehören. Unsere Tochter ist eines von drei, vier Kindern in der Schweiz, die an dieser seltenen Krankheit leiden.»
Ehemann Reto beruhigte: «Es chunnt scho guet»
Um das Leben ihrer Tochter hat Cindy Studer nie gefürchtet. Sie konkretisiert: «Es gab Momente während der Schwangerschaft, in denen wir jeden dritten Tag in Aarau waren zum Ultraschall-Untersuch. Ich lebte wie auf Nadeln. Achtete auf jede Kindsbewegung, war verunsichert.»
Und dann, frage ich, halfen Gebete? «Vor der Schwangerschaft mit unserer Tochter spielte Spiritualität eine grosse Rolle», sagt Cindy Studer. «Ich praktiziere Yoga, meditiere viel. Dann kam unsere Tochter: Mir riss es den Boden unter den Füssen weg. Ich brauchte ein Jahr, bis ich ja sagen konnte zur Situation. Bis ich sagen konnte: Ja, wir haben ein Kind, das anders ist.»
Damals war das Gebet sozusagen der letzten Weisheit Schluss. Hätte gesagt: Cindy bleib dran, behalte deine Energie. Sie schaut mich an. Sagt: «Ich bete nur, wenn ich wirklich am Boden liege.» Ihr sei klar gewesen, unsere Tochter macht ihren Weg. «Angst hatte ich um mich, um uns. Angst vor Überforderung, Angst, es nicht stemmen zu können.»
Ihr Mann Reto habe sie beruhigt. «Er holte mich zurück auf den Boden. Sagte: ‹Es chunnt scho guet. Vertrau den Leuten.› Genau das konnte ich nicht mehr. Ich hatte meine Erfahrungen gemacht.»
Wachsen an den Herausforderungen
Sie nehme die Situation an, sagt Cindy Studer, sieht diese zwischenzeitlich sogar auch als grosses Geschenk. Sie wisse, ihre Tochter habe einen wundervollen Charakter und die Chance auf ein ganz normales gesundes Leben.
«Letztlich geht es doch darum im Leben: Dass wir Herausforderungen begegnen und an diesen wachsen können.» Und wachsen heisst für die reformierte Pfarrerin und freie Trauerrednerin nicht einfach «für Geschenke zu beten», sondern das Leben in seiner Fülle versuchen zu umarmen. Darauf zu vertrauen, dass man zu mehr fähig ist, als mancher Mensch zu glauben scheint. Und darauf zu vertrauen, dass es das Leben meistens gut mit einem meint.
Aus Wut wurde grosse Dankbarkeit
Und die junge Mutter haderte zu Beginn – mit Gott, mit ihrem Schicksal, dem Leben. «Ich fragte: Warum haben wir kein gesundes Kind? Ich hatte Zukunftsängste, wusste zu Beginn nicht genau, was alles auf uns zukommen würde. Da diese Krankheit ein breites Spektrum aufweist, weiss man nicht so recht, was davon uns und unsere Tochter betrifft und was nicht. Uns stehen sicher noch einige Herausforderungen bevor, und wir werden laufend Lösungen finden müssen.»
Cindy Studer seufzt. Sagt: «Ich bin dankbar, dass wir so ein tolles Kind haben. Aus meiner Wut wurde eine grosse Dankbarkeit.»
Diese Dankbarkeit fliesst ein in ihre Arbeit als Theologin. Mit ihrem Mann Reto teilt sie sich eine Pfarrstelle bei der Reformierte Kirche Unterlunkhofen im Kelleramt. «Neben meinen sechzig Stellenprozenten bleibt Raum für meine Arbeit als freie Trauerrednerin.» Dafür gründete sie eine Einzelfirma: www.personal-pastor.ch.
Cindy Studer-Seiler hat sich sowohl als Theologin mit dem Tod beschäftigt, wie als Mutter, als Frau. Meine Frage: Warum verdrängen wir Gedanken an den Tod, wo er doch alltäglich ist, jederzeit einen Auftritt haben kann? «Der eigene Tod ist tabu», sagt die Pfarrerin. «Obwohl es jeder weiss – sind wir doch in dieser Frage wahre Verdrängungskünstler.» Wer sich mit dem Tod auseinandersetze, werde mit den eigenen Lebensfragen konfrontiert, sagt Cindy Studer. «Dann sage ich, lass dich drauf ein. Denn: Sterben lernen heisst Leben lernen. Frag dich: Bin ich authentisch unterwegs? Konfrontiere dich mit dem Gedanken, ‹isch denn Schaffe alles für mich?›. Zeig dich, wie du bist. Sei so, wie du gedacht bist.»
Keine Zeit verlieren über den Tod zu reden
Es brauche viel Arbeit an sich selbst, den Punkt zu erreichen, sich nicht mehr zu verstellen, den Mut dafür zu finden. Es gäbe Menschen, die würden Stimmiges ausstrahlen, die würden nicht daherreden, um jemandem zu gefallen, die machten nichts, was man von ihnen erwartet. «Solche Menschen bewundere ich», sagt Cindy Studer.
Bevor ein Mensch sterbe, habe er ein Leben zu bewältigen, sagt die reformierte Pfarrerin. «Wir sollten also keine Zeit verlieren, über den eigenen Tod nachzudenken. Wir sollten darüber reden. Steht jemand am Ende seines Lebens, steht er, steht sie an einem Ort, den wir alle einmal betreten. Das Leben und das Sterben geht uns alle an. Und beides hängt unweigerlich zusammen.»
«Habe ich das Bestmögliche gemacht, kann ich gehen»
Vor dem Wann habe sie keine Angst, sagt Cindy Studer. Ebenso wenig vor dem Wie. «Mich fürchtet das Warum. Dass ich darauf einmal keine stringente Antwort habe. Frage ich mich, warum ich das alles durchmache, bleibe ich manchmal ratlos zurück. Warum gebäre ich ein Kind, mache alles, was man so macht, erlebe viel Schönes, viel Brutales, und dann gehe ich. War das alles, frage ich mich. Ich zugleich bin überzeugt: Jedes Leben hat seinen Sinn, hat seine Aufgabe, wir sind nicht zufällig da. Trotz Sinnlosem, Furchtbaren, Schrecklichen meint es das Leben gut mit uns. Diese Hoffnung möchte ich nicht aufgeben. Mein Ziel ist, als weise alte Frau zu sterben. Und weise werden heisst für mich, im Frieden sein, nicht mehr ratlos dem «Warum» gegenüber zu stehen.» Die suchende Frau legt eine Pause an, schaut mich an und sagt dann: «Habe ich das Bestmögliche aus meinem Leben gemacht, kann ich gehen.»
Text Martin Schuppli, Fotos: Eddy Risch
Cindy Studer-Seiler arbeitet mit Einverständnis der ref. Kirche des Kantons Aargau als freie Trauerrednerin. Sie schreibt: «Ich biete als freie Theologin und Trauerrednerin eine Beerdigung mit oder ohne religiös-spirituellen Bezug an.
Aus den Wünschen und Vorstellungen der Kunden gepaart mit meinen Ideen und Erfahrungen, entsteht eine berührende Trauerfeier, die unvergesslich sein wird. Eine Abschiedsfeier, die das Leben des Verstorbenen würdigt und ehrt. Und bei den Angehörigen beim Zurückblicken und Vorausschauen eine Hilfe sein möchte. Mit viel Kreativität, Wortgewandtheit, dem Blick für das Schöne und einfühlsamen Ritualen möchte ich eine liebevolle Abdankung gestalten.»
Pfrn. Cindy Studer-Seiler
Personal Pastor
Breitenäckerstrasse 20, 8918 Unterlunkhofen
www.personal-pastor.ch |cindy@personal-pastor.ch
Tel. +41 79 907 49 23
(wenn Sie mich nicht sofort erreichen: bitte Nachricht mit gewünschter Rückrufzeit hinterlassen)
Eine Antwort auf „Cindy Studer-Seiler: «Sterben lernen heisst Leben lernen»“
Danke liebe Cindy Studer-Seiler für das persönliche Gespräch.