Gedenke des Todes. Memento Mori. Diese
Worte begleiten mich durch die Corona-Krise. Sie begleiten mich ebenfalls am
43. Tag des Lockdowns auf der Fahrt in den anderen St.-Galler-Kantonsteil, dem
Rhein folgend bis zum Bodensee. Dahin, wo eine liebe Freundin mit ihrem Mann
wohnt. Ich besuche die beiden, weil wir einen Blog-Beitrag für DeinAdieu
realisieren wollen.
Meine einstige Arbeitskollegin weiss seit wenigen Monaten, wie schwer krank sie
ist. Todkrank. Claudine leidet an ALS. Die todbringende Muskelkrankheit ist
heimtückisch. Sie kann schnell voranschreiten. Und es gibt kein Medikament, das
Leiden zu lindern, Patienten, Patientinnen zu heilen. Meine Kollegin weiss das.
Sie ist bereit, darüber zu reden.
Die Fahrt durchs Rheintal erlebe ich an diesem Dienstag entspannt und beschaulich. Corona-Zeit. Meine Gedanken weilen beim bevorstehenden Gespräch. Ich fühle mich traurig, diese Fahrt bedrückt mich. Wie kann ich Claudine beistehen? Was kann ich ihr geben?
Zeit kann ich geben. Zeit für Gespräche, für ein Gesellschaftsspiel, für einen Spaziergang. Gemeinsam kochen könnten wir oder Musik hören. Schweigend in die Ferne schauen. Den Blick verlieren in der Horizontlinie des Bodensees. Dort, wo sich Wasser und Himmel berühren.
Den Horizont des Lebens im Auge behalten
Memento mori. Gedenke des Todes. Im übertragenen Sinn heisst das für mich, behalte den Horizont im Auge. Den Horizont des Lebens. Lass diese schmale Linie nicht aus deinem Blickfeld verschwinden. Es ist die feine Linie, wo unser Leben dem Tod begegnet. Manchmal ist sie nah diese Linie, unmittelbar. Dann liegen dunkle Wolken tief, Nebel wabert, Regen peitscht. Sturm verunmöglicht einen weiten Blick. Dann wieder zeigt sich die Sonne, der Himmel wird weit und der Horizont fern. Das Wasser glitzert tiefblau, eine leichte Brise treibt feine Wellen vor sich her. Das Leben zeigt sich von schönster Seite.
So ändert sich unsere Sicht. Stunde für Stunde. Tag für Tag. Der Horizont bleibt – irgendwo. Ich blicke durchs grosse Fenster bei meinen Freunden. Die Sicht auf den Bodensee ist atemberaubend. Der Horizont verliert sich grau irgendwo zwischen Wasser und Himmel. Claudine freute sich über meinen Besuch. Die Stimmung erlebe ich heiter und fröhlich. Wohlwissend, welch schwieriges Thema Grund unseres Gesprächs ist. Eddy Risch beginnt, Bilder zu machen. Coronamässig. Wir halten Abstand – und sind uns nah. Claudines Geschichte lesen Sie, modern ausgedrückt, zeitnah.
Nun aber zu meinem Freund und Mentor Alois Birbaumer. Er schreibt mir aus seiner farbigen Luzerner Mikrowelt. Berichtet mir von Yves Klein, von dessen Ultramarinblau, Gold und Purpurrosa. Er schildert mir begeistert von der Kraft der Kleinschen Farben.
In der wartenden Hoffnung, die Heiterkeit nicht verlieren
Jetzt, am 42.Tag, gehts los. Wir verringern den Lockdown in einer ersten Phase. Weitere folgen, die Lockerung wird zunehmen. Und dann, irgendeinmal, gelangen wir zu einer deutlichen Entspannung, werden nur noch leicht eingeschränkt. Dann keimt die Hoffnung, wir kehren zur Normalität zurück. Ich hoffe es. Als Optimist spreche ich lieber nicht vom Grusel-Szenarium mit Rückfall in einen nächsten Peak. Oder noch schlimmer – ein anderer, ein neuer Corona-Typ verbreitet sich.
Wie überlebe ich diese Phasen, diese scheinbar belastenden Einschränkungen? Ich suche nach situationsgerechter Unterhaltung mit erheiternden Momenten. Mein Dasein erlebe ich nach diesen 40 Tagen bereits optimiert. Und ich habe meine längst bewährte epikureische* Lebenseinstellung situativ neu geschrieben. Solange das Ende, die Erlösung, der Tod nicht da ist, kümmert er – der Tod – oder es – das Ende – mich nicht. Ich kümmere mich um den Tod. Doch solange ich lebe ist er nicht da und ich kümmere mich um das Leben, um ein gutes Leben.
Ein Ende wird kommen – ich hingegen lebe im Jetzt
Ich lebe glücklich, zufrieden und lustbetont. Wenn er dann da ist, der Gevatter, bin ich nicht mehr. Wenn das Ende da ist, wenn die Erlösung der Einschränkungen gekommen ist, existiert das Corona-Virus nicht mehr. Mit der Optimierung meines jetzigen Lebens geniesse ich jeden Tag – sogar während der Quarantäne. Und sollte dieser «Hausarrest» länger als 40 Tage dauern. Diese Isolierung bedeutet eigentlich 40 Tage Zuwarten.
Wie einst die Schiffe aus fernen Kontinenten. Sie mussten vierzig Tage warten, bevor die Besatzung an Land konnte, die Ladung gelöscht wurde. Ich kann mir vorstellen, dass die jetzige Corona-Krise durchaus zu einer perennialen Isolation führt, also zu einer einjährigen Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit. Und wenn? Das Ende wird kommen.
Ultramarinblau – der Weg zu freiheitlichen Gefühlen
Hier kommt mir Yves Klein zu Hilfe, der französische Künstler und erste Performance-Gestalter. Ich erinnere mich an meinen Versuch, die Farben von Klein in ein Triptychon des Lebenskreises zu stellen. Diesen Kreis kann man mehrmals durchlaufen, durchleben, geniessen, ausschöpfen.
Die meisten steigen wohl beim Ultramarinblau ein (IKB = International Klein Blue). Sie suchen die Freiheit. Finden sie wohl meistens nicht, da diese, so wie wir sie uns wünschen, nicht existiert. Sie finden eine vermeintliche, eine vorgetäuschte Freiheit.
Das ist gut so, solange diese vermeintliche Freiheit glücklich macht. Eine noch so subjektiv gefühlte fiktive Freiheit in dieser coronalen Einschränkung bringt eine Befreiung, ein Glücksgefühl. Das sollten wir voll auskosten, sollten es vor allem geniessen.
Die Farbe Purpurrosa führt uns in die Welt der Sinnlichkeit. Und nun, Martin, verstehst du, warum wir zunächst das Ultramarinblau umsetzen sollten. Die Freiheit. Mit ihr sind wir fähig die Sinnlichkeit auszukosten. Wir finden damit den Weg zur Leidenschaft. Und sind so befähigt, uns der Libido anzunähern, der Erotik, der Sexualität.
Wir leben in einer medialen Überflutung von Sars-CoV-2. Leben in der ständigen Angst an Covid-19 zu erkranken. Dem Tod zu begegnen. Hier hilft ein Rückzug auf sich selbst. Ich rate den Menschen, widmet euch der sensuellen Leidenschaft. Denn: In der erworbenen Freiheit wird alles möglich.
Nähe war nie wichtiger als jetzt
Gold ist die Farbe des wichtigsten menschlichen Gutes: der Solidarität, der Gemeinschaft, der Sozietät. Diese Eigenschaften führen uns zum Mitmenschen, verbinden uns mit ihm. Dumm, dass in der Corona-Zeit die Social-Distancing-Regel diesen Wunsch, dieses Verlangen erschweren. All das ist nur noch virtuell erlaubt. Mir machts Mühe. Und ich bin wohl nicht der Einzige, der damit Mühe bekundet.
Natürlich umarme ich jetzt nicht jede Frau, nicht jeden Mann. Logisch küsse ich keine Unbekannten, halte Distanz zu einer anonymen Gruppierung, strecke die Hand nicht jederzeit zum Gruss aus. Aber die Nähe, diese menschliche Nähe suche ich weiterhin – und, glauben Sie mir, ich kann sie finden.
Gerade jetzt brauchen wir die soziale Nähe. Eine Nähe, die wir nicht nur aus Eigennutz suchen sollten. Kontakte zu Freunden, Freundinnen mit den vielen digitalen Mitteln sind ein wohl nur temporärer Ersatz. Warum nicht Hilfe an Erkrankte über die Grenzen unterstützen. Selbst jetzt sollten wir an die Flüchtlinge denken, an politisch in die Enge Getriebene. Oder an Mitmenschen, die unter häuslicher Gewalt leiden. Wir sollten sie wahrnehmen und soweit möglich eine Hilfe anbieten. Denken wir ebenso an die im Alleinsein psychisch Leidenden oder an Personen, die aus Existenzängsten in Panik geraten. Ganz besonders denke ich an Behinderte, die ihr Handicap jetzt doppelt zu spüren bekommen. Ein Telefonanruf, ein Brief oder ein kleines Geschenkpaket bringt oft schon viel.
Ich hüpfe immer wieder zum Ultramarinblau, da finde ich meine Lebensfreude. Da liegt meine Freiheit. Martin, ist dir ebenfalls aufgefallen, dass du noch nie so viele Comics und Gifs erhalten hast, so viele witzige Storys, so viele originelle Videos. Dank Ultramarinblau nehmen wir uns die Freiheit, den Humor auf jede mögliche Art auszuleben. Darum mein Rat, lieber Freund, drehe dich immer wieder auf diesem dreifarbigen Lebenskarussell, auf diesem Triptychon. Versuche deine Originalität, deine Kreativität zu verwirklichen, zu entfalten, wie es Yves Klein bis zum Letzten auskostete – er starb am Mittwoch, 6. Juni 1962 in Paris. Mit 34 Jahren.
«Die Corona-Krise hat uns gerettet»
Zurück im Auto, starte ich zu einer stillen, nachdenklichen Fahrt. Memento mori. Wieder folge ich dem Rhein, diesmal bergwärts. Das Wetter wird heiter. Bei einem Zwischenhalt lese ich auf dem Smartphone den Text von Alois Birbaumer. Wir telefonieren. Er schwärmt von den Kleinschen Farben, ich erzähle ihm vom Besuch bei der ALS-Kranken, von der Horizontlinie. Die Stimmung an diesem 43. Tag des Lockdowns ist heiter. Ein fröhlicher Schwatz an den Gestaden des Rheins – coronamässig distanziert – mit einer aufgestellten Hundehalterin, schürt meine Zuversicht.
Eine Zuversicht, die derzeit nicht jeder, nicht jede von uns verspüren kann. Seis, weil das Schicksal einen anderen Weg vorgibt. Seis, weil die Corona-Krise ihren Tribut fordert.
Meine Gedanken kehren zurück zu Claudine und Peter. Gegen Schluss intensiver Gespräche, kurz bevor wir uns verabschiedeten, sagte der schlanke, grosse Mann: «Die Corona-Krise hat uns beide gerettet. Wir bleiben allein, halten Abstand, ausser den Spitexleuten empfingen wir bis heute kaum Besuch. Diese ‹erzwungene› Zweisamkeit schweisste uns zusammen. Wir halten durch dick und dünn zueinander.» Er drückte seine Frau an sich. Claudine nickte, schenkte ihrem Mann einen liebevollen Blick: «Als die Ablenkungen wegfielen, gings uns besser. Jetzt erleben wir eine wunderbare Zeit.» Claudine wischt sich eine Träne von der Wange. Sagt: «Sich auf die Werte des Partners verlassen können, ist grossartig, sich der Liebe hingeben ein wunderschönes, Geschenk.»
Dem ist nichts hinzuzufügen. Ausser einem herzhaften «Claudine, bhüet di».
Text: Martin Schuppli, Alois Birbaumer
Fotos: Ueli Hiltpold, Eddy Risch
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