Dieter Förster wuchs in Berlin-Wilmersdorf auf. Er war keine sechs Jahre alt, als die britische Royal Air Force am 16. Januar 1943 die Reichshauptstadt bombardierte. Rund 140 RAF-Bomber, überwiegend schwere viermotorige Maschinen, liessen 370 Tonnen Spreng- und Brandbomben fallen. Das war mehr als bei jedem früheren Angriff.
148 Menschen verloren in dieser kalten Nacht ihr Leben und über 10 000 das Dach über dem Kopf. Dieter Förster nickt. Der 83-Jährige hockte damals mit seiner Mutter im Keller der Hauptpost. «Es krachte, knallte und donnerte. Danach sah es aus wie heute in Beirut. Unser Haus war von einer Brandbombe zerstört, verzweifelte Menschen zerrten Waren aus den Trümmern. Die Stadt schien mir ein einziges Flammenmeer.» Er schweigt. Betroffenheit erfasst mich. «Glauben Sie mir», sagt Dieter Förster, «das traumatisiert einen.»
Der grossgewachsene Mann war damals ein Einzelkind. Sein Vater, ein Polizist, wurde zu Beginn des Krieges von der SS eingezogen und war in der Sowjetunion stationiert. «Was er damals in Riga machte, wissen wir nicht», sagt Dieter Förster. «Hinterher fragten wir uns, warum wir nie nachfragt haben. Später las ich von schreckliche Sachen, die damals in Riga passiert waren. Es gab viele Lager. Viele traurige Geschichten.»
Bei Kriegsende lebten Mutter und Sohn noch immer in Wilmersdorf, einem Vorort von Berlin. «Es war wohltuend, als die Engländer im Sommer 1945 die russischen Befreier ablösten», erzählt Dieter Förster. Sein Vater sei damals in Riga getürmt, habe versucht, sich nach Deutschland durchzuschlagen und sei in einem englischen Gefangenenlager bei Hamburg gelandet. «Dort sass er ein, zwei Jahre ein. Zurück nach Berlin durfte er nicht. Wegen der Blockade.» Das sei eine schwere Zeit gewesen. Sämtliche Lebensmittel mussten eingeflogen werden. Die Menschen litten an Hunger und Entbehrung.
1949, als die Berlin-Blockade aufgehoben war, kam der Vater «heim aus dem Krieg» und suchte einen Job als Schreiner. Der Elfjährige erlebte es als eine gute Zeit. Kurz darauf sei seine Schwester Brigitte zur Welt gekommen. Dieter Förster lacht. Sagt: «Sie litt etwas unter mir. Ich war 13 Jahre älter und eine Art ihr zweiter Erzieher. Es folgten wunderbare Jahre. Von Hoffnung geprägt. Die Entwicklung war positiv. Wer wollte, fand eine Anstellung, konnte arbeiten.»
Am Zürichsee verliebte sich Dieter Förster
Nun folgt ein einschneidendes Ereignis. Der junge Berliner engagierte sich in der Pfadi und lernte während eines Lagers im Süden Deutschlands eine Schweizer Gruppe kennen. «Die interessierten uns», sagt Dieter Förster und strahlt. «Wir luden sie ein nach Berlin. Das war 1961, die Mauer stand noch nicht.» Darauf folgte eine Gegeneinladung in die Schweiz. An Ostern 1962 besuchten die Berliner ‹ihre Pfadifamilien› am Zürichsee. Die jungen Leute waren begeistert von all den Schönheiten in der Schweiz. «Allein der Bahnhof in Zürich war faszinierend. Das emsige Treiben, die zufriedenen Menschen. Verglichen damit war unser Bahnhof Zoo eine armselige Sache.»
Beim Abschiedsabend in einer Waldhütte ob Stäfa und Hombrechtikon lernte er ein hübsches blondes Mädchen kennen. «Mir haute es alle Sicherungen raus», sagt Dieter Förster. «Ich zupfte frech an ihrem Zopf. Wir verstanden uns gut. Ich war 24, sie 17 Jahre alt.» Er lacht. Sagt: «Sie zeigte mir die Hütte und erklärte mir, sie wolle nie heiraten, wolle nie einen Haushalt führen.» Später im Auto überrollte ihn eine erste Welle Liebeskummer. «Und ich Depp wusste nicht einmal, wie sie heisst.»
Brief an «Fuchs aus Stäfa» geschrieben
Zu Hause angekommen, schrieb er als Delegationsleiter einen Dankesbrief in die Schweiz und legte eine Karte bei, adressiert an «Fuchs, Stäfa». Und siehe da: Ruth Dubs schrieb zurück. In viereinhalb Jahren wären es hunderte Briefe geworden. «Letzthin öffnete ich die Kiste, las alle. Eindrücklich. Wir stritten uns, wir liebten uns. Alles aus der Ferne. Ständig flogen Briefe hin- und her.» Als Expressbriefe nicht mehr schnell genug waren, begann Dieter Förster zu telefonieren. «Das wurde bald zu teuer.» Sehen konnten sich die Liebenden einmal im Jahr. Wenn Dieter Förster seine Ferien im Süden verbrachte.
Dem diplomierten Elektrotechniker war klar: «Ich muss in die Schweiz.» Er fand eine Stelle in Zürich bei der Firma «Albiswerk», später aufgekauft von Siemens. «Ich hätte sofort beginnen können». 1967 heirateten Ruth und Dieter in der Kirche Stäfa und im nächsten Frühjahr kam Tochter Sabine zur Welt.
Nach Ruths Krise Reisepläne geschmiedet
Primarlehrerin Ruth hörte nach der Geburt auf mit dem Unterrichten. Sie sei etwas unglücklich gewesen. Alleine in einer Wohnung in einem einsamen Quartier. Zwei Jahre später zügelte die kleine Familie nach Birmensdorf ZH. Dort sei Sohn Adrian zur Welt gekommen. «Ruth war verzweifelt während der Schwangerschaft», sagt Dieter Förster. Sie könne das nicht, habe sie verzweifelt gesagt und eine Depression entwickelt. «Wir wussten nicht weiter und wendeten uns an die ‹Dargebotene Hand›.» Der Anruf bei Telefon-Nummer 143 sei die Rettung für die Familie gewesen. «Ruth erhielt Hilfe von einem Blinden, der ihr eine Art Beistand war.» In dieser Zeit sei ihnen klar geworden, die geliebte Frau wollte ins Ausland, wollte reisen. Das Gen habe sie von ihrem Vater geerbt. Der besuchte seinen Bruder in Ghana – mit dem Auto.
Und so entwickelte das Ehepaar Förster einen Drang, in die weite Welt zu reisen. Dieter Förster lacht. Sagt: «Sie wollte ins Ausland, und ich sagte: ‹Ich bin ja im Ausland›.» Der Elektrotechniker liess sich versetzen. Erst lockte Südafrika. «Dann lernte ich am Siemens-Hauptsitz in München einen Argentinien-Manager kennen. «Und so eröffnete ich meiner Familie, sie wartete im Park auf mich, dass wir nach Buenos Aires auswandern würden.»
Im Südamerika gefiels der Familie Förster
Dieter Förster flog alleine voraus und die Familie folgte einen Monat später – mit dem Schiff. Für Ruth war die Überfahrt mit zwei kleinen Kindern eine Qual. «Das Leben nach romanischer Art in Argentinien gefiel uns sehr», sagt Dieter Förster. Er leitete einen Entwicklungsabteilung. Die politische Lage erschwerte das Leben zunehmend. «Nachdem der Staat 1974 einen Zusammenarbeitsvertrag mit Siemens gekündigt hatte und Direktoren von Aufständischen bedroht wurden, mussten alle Deutschen nach Hause – oder in ein anderes Land reisen. Arbeitgeber Siemens bot dem Familienvater eine Stelle an im Süden Brasiliens. «Wir zügelten in die Nähe der Iguazú-Fälle. «Das Beste, was wir machten in der Ferne. Die Kinder besuchten die internationale Schule, lernten Englisch, Spanisch und Portugiesisch.» Ruth habe sich nochmals ein Kind gewünscht – und es klappte. «Sonnenschein Philipp kam zur Welt. Ein Wunschkind. Strohblond», erzählt Dieter Förster stolz.
Südamerika prägte das Ehepaar
1978 musste die Familie heimkehren, nachdem das Entwicklungsprojekt eingestellt wurde. Die beiden grossen Kinder flogen nach Berlin zu den Grosseltern. Dieter und Ruth unternahmen mit Philipp noch eine Rundreise durch Südamerika. «Wir besuchten Chile, Kolumbien und Guatemala. Dann liessen wir uns in Zürich nieder. Ich arbeitete weiter bei Siemens. Wir waren rundum gut versorgt. Ruth konnte in Südamerika ihren geliebten Lehrerberuf ausüben. Das war in Zürich nicht mehr möglich. Darunter hat sie sehr gelitten»
Südamerika hat das Ehepaar geprägt. Es sei eine Predigt in Brasilien gewesen, die den beiden zu einem Weg mit Jesus Christus geführt habe. Es sei eine sehr intensive Zeit gewesen. Nach Jahren bei der Chrischona-Gemeinde fände er seinen Halt beim ICF, wo er nun seit 1996 Mitglied sei, sagt Dieter Förster.
In England entdeckten sich die Eheleute neu
Nach Pensionierung, die Kinder waren längst ausgeflogen, reiste das Ehepaar für ein halbes Jahr nach England. Ruth belegte einen Sprachkurs und bekam gesundheitliche Probleme. Als sich diese gelegt hatten, lockte England ein weiteres Mal. «Wir fanden eine gute Wohnung, nichts traf ein, wovor ich mich gefürchtet hatte. Wir waren wunderbar integriert, erlebten alles Neue miteinander sehr intensiv. Wir entdeckten uns neu, unsere Interessen, unsere Wünsche.»
In England lernte das Paar die Bewegung «Campus für Christus» kennen. Die konfessionell unabhängige Missions- und Schulungsbewegung evangelikaler Prägung engagiert sich in der Evangelisation, in der Erwachsenenbildung, Diakonie und Mission. Das Werk arbeitet mit allen Kirchen wie reformierte Kirche, römisch-katholische Kirche und verschiedenen Freikirchen zusammen.
«Nach unserer Rückkehr in die Schweiz wurde uns das Projekt ‹Jesus Film› anvertraut, und wir betreuten es bis 2013. Ruth war voller Ideen. Sie sagte, wir müssen einen Film machen über die Schweiz. Über ihre Traditionen und über die christliche Prägung des Landes. Ein Investor machte 50 000 Franken locker und so entstand der Film «More than Chocolate and Cheese». Über 250 000 Exemplare seien bis heute bei Interessierten gelandet.
Ruth verstarb im Beisein ihrer Liebsten
Zwei Jahre bevor das Paar den 50. Hochzeitstag hätte feiern können, erlebte Dieter Förster das, was er die Tragödie seines Lebens nennt. Er schluckt leer, wischt sich Tränen aus den Augen. «Wir waren zum Nachtessen eingeladen. Am Dienstag, den 1. Dezember 2015. Ich sagte zu Ruth, ich würde den VW-Bus aus der Garage holen und sie vor dem Haus aufladen. Es war dunkel, als ich aus der Garage fuhr und anhielt, um Ruth einzuladen. Sie war nirgends zu sehen. Ich fuhr wieder an und da rumpelte es unter dem Wagen. Meine Frau lag unter dem Auto. Sofort alarmierte ich die Sanität. Ruth lebte noch, sie schrie gellend ‹Mami›.» Es sollte ihr letztes Wort sein.
Vierzehn Tage hätten sie an ihrem Bett gestanden, erzählt Dieter Förster. Der Körper sei an Schläuchen gehangen, Monitore hätten Daten aufgezeichnet, sie sei mehrmals operiert worden. «Die Ärzteteams, die Pflegenden haben alles versucht. Wir hofften, beteten um ein Wunder. Am 15. Dezember wussten alle, die Ärzte können sie nicht durchbringen. Herz oder Leber machen das nicht mit. Da sassen wir nun um ihr Bett und stimmten zu, alle lebensverlängernden Massnahmen abzubrechen. Ruth starb, 70-jährig, am gleichen Tag.» In der Todesanzeige stand: «Ihr liebes, weites Herz ist im Beisein ihrer Familie stehengeblieben. Sie ist jetzt an einem Ort, wo Freude und Glanz des ewigen Lebens leuchten.»
«Niemand machte mich für Ruths Tod verantwortlich»
Für den leidgeplagten Ehemann folgte eine harte Zeit. Er wurde von der Polizei verhört, musste in die Gerichtsmedizin, beantwortete endlos Fragen der Staatsanwaltschaft. Schlussendlich war klar, dass Ruth bereits am Boden lag und ihr Mann sie nicht hatte sehen können. «Niemand machte mir einen Vorwurf. Ich hatte nicht gemerkt, dass ihr nicht wohl war. Warum sie am Boden lag, wissen wir nicht, obwohl alles untersucht wurde.»
Sterben ist eine Sache, der Tod eine andere. Dieter Förster sagt: «Wir nehmen ernst, was danach geschieht, waren uns gewiss, wo wir hinkommen. Da gibts keine Schmerzen mehr, da muss niemand leiden. Deshalb konnten wir sie gehen lassen. Es war gut, konnte sie gehen. Hätten wir sie durchgeschleikt, hätte sie uns Vorwürfe gemacht.»
«Und plötzlich war ich allein»
Dieter Förster: «Ich wusste echt nicht mehr ein und aus. War gefangen in Sachproblemen. Ein halbes Jahr kam ich nicht mehr zur Besinnung. Gefühlte hundert Seiten Dokumente sammelten sich an. Erbgeschichten folgten. Mehrmals wurde ich verhört. Schlussendlich sprach mich die Staatsanwaltschaft von jeder Schuld frei.» Ruth und er hätten eine symbiotische Ehe geführt, hätten die Kinder in der polizeilichen Vernehmung zu Protokoll gegeben, sagt Dieter Förster.
Ruth sei ihm einmal im Traum erschienen, erzählt Dieter Förster, sie hätte ein schwarzes Kleid getragen und ihn mit uralten Augen angeblickt. Dann habe sie die Arme geöffnet. «Das war meine Todessehnsucht. Und das wollte ich nicht zulassen, ich habe noch Zeit auf Erden, den Tod herbeizuwünschen wäre eine Undankbarkeit gegenüber Gott.» Er habe Halt gefunden in seinem Leben, hätte keine Süchte entwickelt, keinen Absturz erlebt. «Ich wurde und ich werde getragen.»
An die Zeit des Alleinseins erinnert sich Dieter Förster nicht gerne. «Ich musste waschen, kochte auf Junggesellenniveau. Damit hätte ich Ruth nie das Wasser reichen können. Ein Problem bereitete mir das Einkaufen. Ich habe planlos rumgefressen, es war mühsam ohne Auto, ohne Ausweis. Ich kaufte ein GA und habe viel gesehen von der Schweiz.»
Seine Frau hatte ein Testament verfasst. Sie hätten sich beraten lassen, sagt Dieter Förster. Heute sei bei ihm ebenfalls alles geregelt. «Ich habe ein Testament, einen Vorsorgeauftrag sowie eine Patientenverfügung.» Er macht eine Pause, schaut mir in die Augen und sagt: «Aber das sind Äusserlichkeiten. Alle unsere Kinder haben ein Auskommen. Seit Kurzem wohne ich bei der Familie von Sohn Philipp. Liebevoll aufgenommen und betreut. Fürs Altersheim bin ich bereit. Und wenn es soweit ist, wenn es Zeit ist, dann gehe ich. Zur Last fallen will ich niemandem.»
Vor der Unendlichkeit hat Dieter Förster keine Angst
Die Warum-Frage liess Dieter Förster eine Zeitlang nicht los. Manchmal habe er mit Gott gehadert. «Aber das Leben musste weitergehen.» Dann lacht der Mann. Sagt: «Ich wollte immer mal Gleitschirm fliegen und Ruth hat immer Nein gesagt. Nach ihrem Tod buchte ich in Emmetten einen Tandem-Flug. Ein sehr schönes Erlebnis.»
Vor der Unendlichkeit hat Dieter Förster keine Angst. «Gott ist gerecht, die Strafe, die man verdient, erhält man. Aber Gott ist gnädig. Er sagt: ‹Du erhältst, was du nicht verdient hast›.» Er sei dankbar für die Zeit miteinander. Dankbar für seine Kinder, sie seien alle gesund. Würden gut mit dem Leben zurechtkommen. Und er. Er habe alles. «Ich geniesse einen Wohlstand, den meine Eltern nie hatten.»
Zum Schluss zitiert er Hans Carossa: «Was einer ist, was einer war, beim Scheiden wird es offenbar. Wir hörens nicht, wenn Gottes Weise summt – wir schaudern erst, wenn sie verstummt.»
Text: Martin Schuppli, Fotos: Paolo Foschini
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Eine Antwort auf „Dieter Förster: «Die Dargebotene Hand rettete unsere Familie»“
Sehr eindrücklich. Hut ab👍