Wie oft habe ich mir schon Gedanken zum Sterben und Tod von Mitmenschen gemacht. Mitmenschen jeden Alters. Als Kinderarzt ebenso über die Sinnlosigkeit des Sterbens von Kindern. Jetzt, seit über zehn Jahren, zunehmend über das Sterben von älteren Menschen. Gedanken zu meinem eigenen Tod mache ich schon seit einigen Jahren, doch sind diese Gedanken meist eher im Sinne einer Vorbereitung zur Gestaltung des Sterbens und beinhalten Massnahmen nach meinem Tode.
Seit der nationalen Strategie Palliative Care (2010–2015) und vor allem seit der rechtskräftigen Patientenverfügung (2013) hat man jede Menge Vorlagen, kann Vorträge besuchen und sich mit Stapeln von Gedrucktem eindecken. Im Internet finden sich unzählige Patientenverfügungen. Die einen ausführlich und nützlich, die anderen unvollständig und verwirrend. Testamente und Legate kann ich mit einem Sachverständigen besprechen.
Gut beraten ist, wer sich auf dieser Webseite, also auf DeinAdieu.ch, informiert. Bei uns finden Sie alle Informationen und alle Dokumente, die es braucht, will jemand seinen Lebensabend selbstbestimmt planen.
Planen Sie Ihre letzte Reise – sie wird stattfinden
Die Reise ist also vorbereitet. Doch der Zeitpunkt ist noch unklar. Anders als bei einer Reise mit Destination Asien, Afrika, Südamerika oder nur bei einem Kurztrip an eine Kulturstätte wie Rom, Florenz, Paris, Barcelona. Anders sieht die Dokumentation aus. Bei einer Reise nach Bhutan habe ich die Möglichkeit Prospekte zu studieren, ich kann Fotodokumentationen durchsehen, auf Youtube gar eine virtuelle Reise erleben. Ich mache mir genaue Pläne, stelle meine Reise zusammen, freue mich, bestimmte Orte zu sehen und auf ein landesspezifisches Essen, einen lokalen Wein. Ich versuche, einige Worte oder gar Sätze der Landessprache zu erlernen, um soziale Kontakte zu knüpfen. Ich freue mich, ich träume von dieser Reise.
Die Reise Sterben ist total anders, das Ziel Tod endet im Nichts. Die Reise ist nicht kalkulierbar, es gibt keine Abflugzeiten. Ich kann nicht einmal die Fluggesellschaft auswählen. Es handelt sich durchwegs um eine Überraschungsreise, keine Termine, keine kulturellen Höhepunkte, keine kulinarischen Überraschungen, kein önologisches Neuland. Und doch, die Reise wird stattfinden. Mit absoluter Sicherheit.
Warum soll ich mir Gedanken zum eigenen Tod machen?
Nun können Sie mir die Frage stellen: Warum überhaupt machen Sie sich denn Gedanken zum Sterben, zum Tod? Halten Sie sich doch an Epikur (341–271 v.Chr.): «τὸ φρικωδέστατον οὖν τῶν κακῶν ὁ θάνατος οὐδὲν πρὸς ἡμᾶς͵ ἐπειδήπερ ὅταν μὲν ἡμεῖς ὦμεν͵ ὁ θάνατος οὐ πάρεστιν͵ ὅταν δὲ ὁ θάνατος παρῇ͵ τόθ΄ ἡμεῖς οὐκ ἐσμέν» (Solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr). Bleiben Sie Hedonist, was Sie schon Ihr ganzes Leben waren, geniessen Sie das Leben bis zum bitteren Ende.
Wahrlich, ich bin ein Hedonist. Ein Mensch, der sich bewusst ist, dass wir hier auf Erden viele, sogar sehr viele Momente lustbetont erleben sollen, ja erleben müssen. Ohne Freude können wir niemals ein Leben im sozialen Umfeld ausleben, ohne Lust hat unser Dasein keine Sinngebung, wäre ein trostloses Dahinvegetieren.
Ich bin überzeugt, dass Michel de Montaigne (1533–1592) mit seinem Satz «Philosophieren heisst, Sterben lernen» ebenfalls recht hat. Er geht mit seiner Aussage genau an den Punkt, der mich motiviert, mich mit meinem eigenen Tod auseinanderzusetzen. Alle müssen wir schliesslich gehen, ob wir möchten oder nicht. Der eine etwas früher, der andere etwas später.
Verdrängen wir den eigenen Tod?
Der Tod hat seit dem letzten Jahrhundert eine Scheinrealität bekommen, wir werden täglich mit visuellen Eindrücken des Todes konfrontiert. Diese Virtualität wird auf die Spitze getrieben durch viele Formen der Filmwelt, etwa «Sex and Crime». Der Tod ist wohl da, aber sicher nicht in meiner, in unserer Umgebung. An diesem Punkt kann ich Michel de Montaigne folgen, der ähnlich der chinesischen Philosophie im Werk Zhuāngzi (369–286 v.Chr.) auf eine intensive Konfrontation mit dem Tod hinweist.
Schon ganz am Anfang seines Werkes «Essais» schreibt er, «alle Weisheit und alles Sinnen der Welt sollte letztlich darauf hinauslaufen, uns die Überwindung der Furcht vorm Sterben zu lehren». In gewissen Punkten komme ich dann an die Grenzen meines hedonistischen Denkens. Vor allem, wenn Michel de Montaigne schreibt, dass er es sich zur Gewohnheit gemacht hat, sich den Tod nicht nur ständig vorzustellen, sondern ihn auch im Munde zu führen. Trotzdem empfehle ich jedem, Michel de Montaigne zu lesen. Wir müssen uns hin und wieder mit dem Tode auseinandersetzen, vor allem mit dem eigenen Tod.
Beerdigungen, Literatur, Philosophie und Verlust eines engen Freundes sind gute Momente sich mit der eigenen Endlichkeit zu beschäftigen
Ich erlebe regelmässig Momente in meinem Leben, wo ich mich an meine Endlichkeit erinnere. Ich weiss genau, dass der Tag meines eigenen Todes kommen wird. Auslöser dieser Gedanken, manchmal nur Gedankensprünge, sind meist Beerdigungen gleichaltriger Freunde, Freundinnen. Es kann ebenso besondere Literatur sein, wie etwa das Buch von Irvin D. Yalom «In die Sonne schauen» oder von Christian Kläui «Tod-Hass-Sprache. Psychoanalytisch». Beide Bücher wurden von Psychoanalytikern geschrieben und beide habe ich Anfang März 2018 gelesen.
Im Spital den sterbenden Freund besucht
Genau zu dieser Zeit vernehme ich, dass ein guter Freund schwer erkrankt im Kantonsspital liegt. Ein Freund, zu dem ich in den letzten Jahren vermehrt Kontakte hatte. Er war eher verschlossen. Ein Schaffer, fast ein Workaholic, und doch ein äusserst sensibler Mensch. Schon drei Jahre litt er, nennen wir ihn Peter, an einem destruierenden komplizierten Tumor. Hatte jede Menge von Therapien, chirurgischen Eingriffen über sich ergehen lassen. Litt unter einer Zytostatica-Behandlung. Und doch war er noch aktiv, er war ein Reisefüdli und reiste noch, auch wenn er total erschöpft nach Hause kam.
Er war bei mir zu Hause, einige Zeit bevor ich ihn Anfang März im Spital besuchte. Er liebte Kunst, war wie ich begeistert vom Ultramarinblau Yves Kleins. Erlebte meine Performance im Rahmen des Todestages dieses Künstlers, wo ich, nichtwissend unsere Vergänglichkeit, ein Triptychon in den von Yves Klein erfundenen Farben präsentierte. Nie erwähnte er seine Krankheit, nie hörte ich ihn jammern, immer plante er weitere Reisen.
Da stand ich also im Kantonsspital Luzern und fand einen erschöpften Freund. Er hat mich nicht gerufen. Ich hörte lediglich von seinem Spitalaufenthalt. Informiert war nur seine langjährige Lebenspartnerin. Sie trugen gemeinsam das Leid, das Wissen, die Kenntnis seines sicheren Todes innerhalb mehr oder weniger kurzer Zeit. Sie planten zusammen alles, was mit dem Tode zusammenhängt. Ich stand im Zimmer und war erstaunt.
Geduldig zuhören, obwohl das Herz weint
Unter der Decke streckte er seinen schmalen Arm, seine Hand mir entgegen. Ich war sprachlos, doch begann ich zu sprechen. Ich war den Tränen nahe und nichtsdestotrotz legte ich ein Lächeln auf. Ich war dem Zusammenbrechen nahe, doch stand ich stramm neben seinem Bett. Und er begann zu sprechen, erzählte mir alles, sein Leid, seine Krankheit. Über eine Stunde redete er. Ich konnte fast nicht mehr.
Er erzählte weiter. Ich sah seine Schwäche und spürte meine eigene Schwäche. Dann war alles gesagt. Eigentlich wollte er zu Hause sterben, seiner Lebenspartnerin aber wollte er nicht mehr Mühe aufbürden. Er gehe nun ins Pflegeheim zum Sterben. «Willst du das wirklich», sagte ich. Keine Antwort, doch es war klar: Das wollte er nicht.
Das Sterben des Freundes zwang zum Nachdenken
Zwei Tage später war er zu Hause. Wir hatten alles perfekt organisiert. Spitex, Pflegebett, Brückendienst, Nachtwache durch engagierte Personen der Begleitung Schwerstkranker. Einmal übernahm ich die Nachtwache, als wir niemanden finden konnte. Peter sprach nur noch wenig, hat nicht gelitten, die Palliative Care erfüllte ihre Aufgabe vollumfänglich. Ich konnte nicht in meinen Büchern über Sterben und Tod lesen, ich erlebte sein Sterben und beschäftigte mich mit meinem eigenen Tod.
Zwei Tage später starb er. Ruhig. In einem Moment, da er mit seiner Lebenspartnerin alleine war. Sie schickte mir eine Message aufs Smartphone. Es erreichte mich im KKL bei einem Konzert mit «Rising Stars». Ich steckte mitten im Leben, er hatte das Ende erreicht. Ich erlebte den Beginn einer Musikkarriere, er die Rückkehr ins pränatale Nichts.
Die Abschiedsfeier einige Tage später war würdig. Er hatte die Musik ausgewählt. Es war ebenso meine Musik. Meine Gedanken waren bei ihm und sie waren ebenfalls bei meinem Tod.
Abschied von sich selbst nehmen – dabei die Freuden des Lebens nicht vergessen
Das sind meines Erachtens gute Momente, sich mit seiner eigenen Vergänglichkeit zu beschäftigen. Im Sinne von Michel de Montaigne «Philosophieren heisst sterben lernen». Am Tage nach der Abschiedsfeier reiste ich an die Büchermesse Leipzig. Viel Trubel herrschte da, eine «Überschwemmung» von Literatur, eine Menge Lesungen, Kaffeepausen, viele junge Leute, Enthusiasmus. Eine Lesung, auf die ich zufällig gestossen bin.
Eine Bekannte aus Berlin erzählte mir von einem neuen Buch. Lucy Fricke hat es geschrieben und stellte es vor. Ich sass da und hörte zu, Interview, Lesung … Interview, Lesung. Die Frau faszinierte mich, sie strahlte Jugendlichkeit, Frische und Sprachgewandtheit aus – alles in einem. Das Buch «Töchter“ handelt von zwei Frauen, die mit dem todkranken Vater in die Schweiz reisen. Eine letzte, finale Reise sollte es werden. Ich kaufte mir das Buch und liess es von Frau Fricke signieren.
… es ist viel Zeit die wir nicht nutzen
Heute bekomme ich die Mitteilung, dass die Urnenbeisetzung des Freundes in vier Tagen stattfindet und zwar im engsten Kreis. Ich setze mich in meinen fast 200-jährigen Louis-Philippe-Sessel, erstanden in einer Brockenstube. Die Polsterung ist etwas ungewohnt ungleichmässig, die Stahlfedern zum Teil störend beim Sitzen. Ich sitze gerne in diesem Sessel und finde ihn eigentlich bequem. Hier sassen sicherlich schon viele vor mir, verschiedene von ihnen sind höchstwahrscheinlich schon verstorben. In diesem Sessel beginne ich das Buch «Töchter» zu lesen. Das Buch, das ich nicht geplant hatte zu kaufen.
Gedanken zum persönlichen Tod tauchen auf. Ich bin überzeugt, dass sie sehr wichtig sind. Das sage ich, ein Epikureer, ein Hedonist. Da fällt mir ein, dass ich meinem Profil auf Facebook, das ich wahrscheinlich nur alle zwei bis drei Monate besuche, seit Jahren einen treffenden Text vorangestellt habe.
Carpe diem
Es ist nicht wenig Zeit,
die wir zur Verfügung haben,
sondern es ist viel Zeit,
die wir nicht nutzen.
(Seneca, 1–65 n.Chr.)
Ein perfektes Schlusswort für diese Geschichte.
Text: Alois Birbaumer, Bearbeitung: Martin Schuppli, Fotos: Daniela Friedli
- «Zhuangzi. Das klassische Buch daoistischer Weisheit». Victor H. Mair, Stephan Schuhmacher. Windpferd Verlag, 2008
- «Epikur. Ausgewählte Schriften». Christoph Rapp. Kröner Verlag, 2010
- «Essais». Michel de Montaigne. Manesse Verlag, 1953
- «In die Sonne schauen». Irvin D. Yalom. btw Verlag, 2010
- «Tod – Hass – Sprache. Psychoanalytisch». Christian Kläui. Verlag Turin + Kant, 2017
- «Töchter». Lucy Fricke. Rowohlt Verlag, 2018
2 Antworten auf „Dr. Alois Birbaumer: Gedanken zum persönlichen Tod“
Danke von Herzen ihr Lieben (Dr. Alois Birbaumer, Martin Schuppli, Christine Friedli Koch) für diesen einmal mehr sehr berührenden, authentischen Bericht.
Ein wunderbarer Bericht, berührend, authentisch. Danke Alois Birbaumer für deine ehrlichen offenen Worte.