Das Thema «Suizid» begleitet mich, seit ich wohlbehütet in einem Säuliämter Einfamilienhausquartier aufwuchs. In den frühen 60er-Jahren erhängte sich eine Nachbarin im Keller. Sie war Mutter von drei Kindern: zwei Mädchen und Hansli, ein Bub mit DownSyndrom. Auf die Frage, warum sie das getan habe, antwortete meine Mutter: «Schwermut». Ich verstand das Wort nicht, hörte es aber regelmässig wieder. Einige Jahre später erhängte sich der Bruder einer Schulkollegin. Es hiess, er sei schwermütig gewesen und habe sich ungeliebt gefühlt.
Später wiederholten sich die tragischen Geschichten: Die Tochter einer Schulkollegin warf sich vor den Zug, der Bruder einer Arbeitskollegin ebenfalls. Die Mutter eines Freundes, hochbetagt war sie, 91-jährig, führte Plan B aus und ging ins Wasser. Der Therapeut eines Freundes sprang von der Lorzetobelbrücke in den Tod, der Ex-Freund einer Bekannten erschoss sich auf freiem Feld mit dem Sturmgewehr. Ein Arbeitskollege sprang in Luzern aus purer Verzweiflung in die Reuss. Tage vorher hatten wir noch zusammen gelacht.
Alle diese Todesfälle machten mich betroffen. Warum erhängte sich die Frau eines Freundes, Mutter von zwei Kindern, das jüngere kaum abgestillt, im Haus, nachdem sie ihren Mann mit den Kindern schon voraus an den See geschickt hatte. «Ich eile euch nach», rief sie noch. Warum tat sie es nicht?
Warum sprang die junge Frau im Bahnhof Enge einem meiner Freunde vor die Lokomotive? Sie war sofort tot. Für ihn ging das Leben weiter. Noch heute leidet er unter diesem Schock. «Die Frontscheibe färbte sich blutrot», erzählte er mir. Seine Augen waren vor Schreck geweitet. Das Bild verfolge ihn, sagte er. Gleich wird es Polizisten ergehen oder Leuten, die Tatorte putzen müssen.
Verschiedene Fragen tauchen auf. Etwa, warum die Leute sterben wollten. Gerade das geht mich eigentlich nichts an. Meiner Ansicht nach darf jeder sein Leben aufgeben. Aber die Art und Weise beschäftigt mich. Warum muss ein Lokführer darunter leiden? Oder eine Polizistin? Warum die Leute vom Care Team? Warum die Familienmitglieder? Warum Mensch, die Unfallstellen aufräumen? Warum ziehen Verzweifelte, ziehen Lebensmüde andere mit hinein, mit hinunter? Gibts keine anständige, sanfte Art das Leben zu beenden, wenn jemand nicht mehr mag? Wenn jemand des Lebens satt ist?
Diese Frage stelle ich Dr. med. Tim Klose, Chefarzt Psychiatrie am Bezirksspital Affoltern am Albis. Als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH leitet er den Psychiatriestützpunkt des Knonaueramtes.
Dr. Klose, was kann der Psychiater tun, wenn sich jemand meldet und sagt: ‹Herr Doktor, ich möchte sterben›?
Tim Klose: «Nun, meiner Meinung nach muss ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie prüfen, ob beim Patienten, bei der Patientin eine psychiatrische Erkrankung vorliegt. Das kann eine Sucht, eine Schlaf- oder Angststörung ein. Es kann eine Depression sein, eine bipolare Störung, eine Schizophrenie, eine Essstörung oder gar eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, um nur die wichtigsten Krankheitsbilder aufzuzählen.»
Wenn ja, muss der Arzt entscheiden, ob die Urteilsfähigkeit des Patienten eingeschränkt ist.
Genau. Ist sie bezüglich des Suizidwunsches eingeschränkt, bin ich von Gesetzes wegen verpflichtet, dem Patienten, der Patientin eine Behandlung anzubieten. Helfen, sich zu töten, darf ich dann nicht.»
Was aber, wenn eine psychische Krankheit vorliegt und der Patient, die Patientin urteilsfähig ist?
Dann steht es mir nicht zu, ihn vom Suizid abzuhalten. Das Recht auf Leben beinhaltet keine Pflicht zu leben. Also kann jeder urteilsfähige Erwachsene entscheiden, ob er leben will oder nicht.
Kompliziert, aber verständlich. Tim Klose erklärt weiter. «Liegt eine psychische Krankheit vor und der Patient wünscht zu sterben, ist dabei urteilsfähig, stellt sich die Frage: Bin ich als Arzt nicht verpflichtet, ihm zu helfen, sanft und anständig aus dem Leben zu scheiden?»
Bevor ein Psychiater und Psychotherapeut das tut, bietet er logischerweise Hilfe an. Tim Klose schmunzelt. Sagt dann: «Ganz nach dem paternalistischen Weltbild – der Arzt weiss, was gut ist.» Er hält kurz inne und erklärt dann: «Die ärztlichen Möglichkeiten sind beschränkt. Helfen können Medikamente, also Psychopharmaka und/oder eine psychotherapeutische Behandlung. Wir können über den Sinn des Lebens reden. Über Lebenslust, Lebensfreude. Wir können Strategien entwickeln zur Bewältigung von Krisen und so weiter.»
Was aber, wenn jemand keine Medikamente schlucken will, keine Gespräche führen möchte. Wenn jemand das Angebot des Arztes abweist, was dann? Tim Klose lehnt sich zurück im Stuhl. Legt die Fingerkuppen aufeinander und blickt hinauf zum Engel, der an der Decke hängt. «Nun», sagt er und macht nochmals eine kurze Pause. «Dann wird es ein Gewissensentscheid des Arztes, ob er helfen will, oder nicht. Von Gesetzes wegen darf ich einem urteilsfähigen Sterbewilligen ein todbringendes Mittel besorgen. Einnehmen allerdings, muss er es selbst. Ich darf ihn teilhaben lassen an meinem medizinischen Wissen. Ich darf ihm sagen, welche Möglichkeiten es gibt, auf sanfte, anständige Weise aus dem Leben zu scheiden.»
Tim Klose würde niemandem raten: «Fragen Sie Dr. Google». Er würde ebenfalls niemanden wegweisen. «Es sollte ja nicht sein müssen, dass eine Selbsttötung Unbeteiligte traumatisiert. Etwa Lokomotivführer, Polizisten, Helfer, Familienmitglieder.»
In der Standesorganisation der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH wird derzeit diskutiert, ob ein Arzt die Pflicht hat, einen Suizidwilligen, der sich nicht helfen lassen will, weiterzuweisen.
«Unternimmt der Arzt nichts», sagt Tim Klose, «steigt die Möglichkeit, dass ein Suizidwilliger sich auf eine Art tötet, die viele als aggressiv bezeichnen. Eine Art, die eigentlich eher ein autoaggressiver Akt ist. Ein Akt, in dem sich die Aggression gegen einen selbst richtet.»
Warum ist das so?, will der Autor wissen. «Wenn einen die Umstände zu zwingen scheinen», sagt Tim Klose «wird der Suizidwillige es versuchen. Und kaum etwas kann ihn vom Sterben abhalten.» Er erwähnt die von mir geschilderte Szene auf dem Bahnhof Enge. «Die Frau mit dem Koffer: Hatte sie eine andere Möglichkeit? Hatte sie nicht. Sie musste, sie wollte aus dieser Welt fliehen. Und so suchte sie den Tod auf dem Bahnhof. Einen anderen Ausweg gab es für sie nicht.»
Hätte es etwas gebracht, wenn die Frau weggesperrt worden wäre? Der Psychiater und Psychotherapeut zuckt die Schultern. «Jede fürsorgerische Unterbringung muss überprüft werden», sagt er. «Spätestens nach sechs Wochen muss die KESB einen Unterbringungsentscheid fällen.» «Wow. So lange», sage ich. «Ja», sagt Tim Klose. «Es ist weltweit einzigartig, wie lange in der Schweiz jemand ohne richterliche oder behördliche Überprüfung weggesperrt werden kann.»
Dabei hilft wegsperren nicht unbedingt. Der Arzt erklärt das folgendermassen: «Während eines stationären Aufenthaltes ist jemand gezwungen, dort zu sein, wo er nicht unbedingt sein möchte. In den Augen des Patienten, der Patientin zeigt das: ‹Du bist ohne Behandlung kaum lebenstüchtig›. Und nach der Behandlung, wenn jemand wieder frei ist, sind alle weg, die einen umsorgt haben, die freundlich waren, die halfen. Plötzlich ist er wieder alleine, und die Probleme sind immer noch da.»
Hier greift das Schwerpunktprogramm von Suizidpraevention.ch. «Der Kantonsrat Zürich spricht demnächst Gelder, um eine Überbrückungshilfe bei Klinikaustritt zu finanzieren. Also um Leute zu betreuen, die aus der Klinik kommen. Denn es ist nachgewiesen, dass eine Einweisung die Suizidalität nicht immer lindert. Sie verzögert sich logischerweise, aber wenn das Bezugsnetz wegfällt, hat das seine Wirkung. Deshalb gibt es Fachleute, die eine zwangsweise Unterbringung von Suizidwilligen ablehnen.»
Tim Klose findet, über Suizid solle man in der Gesellschaft offen reden. Er sagt: «Wenn jemand aus dem Leben scheiden will, muss er wissen, was er anrichtet. Wem er ein Leid antut. Etwa dem Lokomotivführer und allen Beteiligten, die einen Unfallplatz aufräumen müssen. Den Familienmitgliedern, die den Verstorbenen finden, den Polizisten, Polizistinnen, dem Care Team».
Und so wie Tim Klose und der Autor über das schwierige Thema geredet haben, so sollten Verzweifelte das Gespräch suchen. Das kann ganz anonym sein. Am Telefon beispielsweise. Erwachsene wählen 143, Kinder und Jugendliche 147.
Text: Martin Schuppli, Foto: Paolo Foschini
Dr. med. Tim Klose arbeitet nicht mehr am Spital Affoltern. Sie finden ihn in seiner Praxis in Zürich.
Dr. med. Tim Klose
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
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tim.klose@hin.ch | psychiatrische-praxis-klose.business.site/
Plagen Sie Suizidgedanken
Reden Sie mit jemandem darüber. Zum Beispiel mit Fachleuten beim Notfall-Telefondienst «Die Dargebotene Hand». Dort ist Hilfe anonym und die Beratung kompetent. Die Fachleute sind rund um die Uhr für Sie da.
Mehr Informationen finden Sie hier www.143.ch
Adressen für Beratungsstellen in den Kantonen finden Sie bei www.ipsilon.ch