Frau Baumann-Hölzle, wann ist ein Leben lebenswert?
Ruth Baumann-Hölzle: Grundsätzlich gilt vor dem Gesetz das Leben jedes Menschen gleich viel, denn die Menschenwürde ist nicht an Fähigkeiten und Eigenschaften gebunden. In der Schweiz hat aber jeder Mensch die Freiheit, selber zu entscheiden, ob er sein Leben noch als lebenswert betrachten will oder nicht.
Wer darf darüber entscheiden? Ärzte, Angehörige oder nur die betroffene Person selber?
Eigentlich kann der Entscheid, ob ich meine Leben als lebenswert empfinde oder nicht, nicht an andere delegiert werden. Solange jemand urteilsfähig ist, entscheidet die Person immer selber. Gleichwohl kommt man in gewissen medizinischen Situationen nicht umhin, stellvertretend zu entscheiden, ob lebenserhaltende Massnahmen eingesetzt oder abgebrochen werden sollen. Diese Entscheide werden stellvertretend gemäss der Entscheidungskaskade (unten) im Kindes- und Erwachsenenschutzrecht getroffen.
ENTSCHEIDUNGSKASKADE
Die folgenden Personen sind der Reihe nach berechtigt, die urteilsunfähige Person zu vertreten und den vorgesehenen ambulanten oder stationären Massnahmen die Zustimmung zu erteilen oder zu verweigern:
- die in einer Patientenverfügung oder in einem Vorsorgeauftrag bezeichnete Person;
- der Beistand oder die Beiständin mit einem Vertretungsrecht bei medizinischen Massnahmen;
- wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner einen gemeinsamen Haushalt mit der urteilsunfähigen Person führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet;
- die Person, die mit der urteilsunfähigen Person einen gemeinsamen Haushalt führt und ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet;
- die Nachkommen, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten;
- die Eltern, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten;
- die Geschwister, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten.
Sind mehrere Personen vertretungsberechtigt, so dürfen die gutgläubige Ärztin oder der gutgläubige Arzt voraussetzen, dass jede im Einverständnis mit den anderen handelt.
Fehlen in einer Patientenverfügung Weisungen, so entscheidet die vertretungsberechtigte Person nach dem mutmasslichen Willen und den Interessen der urteilsunfähigen Person.
Frau Baumann: Sie befürworten passive Sterbehilfe, stehen aktiver Sterbehilfe jedoch sehr kritisch Sie befürworten passive Sterbehilfe, stehen aktiver Sterbehilfe jedoch sehr kritisch gegenüber (vgl. Infobox). Das heisst: Sie befürworten einen Behandlungsverzicht, etwa eine Chemotherapie, lehnen aber den gewählten Freitod, mit Hilfe einer Sterbehilfeorganisation, ab. Wo liegt der Unterschied?
Ruth Baumann-Hölzle: Suizidbeihilfe ist keine aktive Sterbehilfe, sonst wäre sie in der Schweiz verboten, denn aktive Sterbehilfe gilt als Tötung durch eine andere Person. Die Suizidbeihilfe, das heisst einer urteilsfähigen Person bei der Selbsttötung zu helfen, ist in der Schweiz dann straffrei, wenn sie uneigennützig ist.
Die Unterstützung zur Selbsttötung durch Sterbehilfeorganisationen finden Sie problematisch?
Ja. In meinen Augen ist es derzeit insofern problematisch, als eine Selbsttötung durch Sterbehilfeorganisationen zunehmend auf weitere Personengruppen ausgedehnt wird. Zudem wird mit dem öffentlichen Zurschaustellen von Prominenten, die auch konkret Situationen angeben, in denen sie sich töten wollen, die Frage auch anderen Menschen aufgedrängt, die sich genau in solchen Situationen befinden, ob sie sich nicht auch suizidieren wollen. Damit entstehen soziale Drucksituationen.
Als «äusserste Form passiver Sterbehilfe» befürworten Sie den Verzicht auf essen und trinken. Wie läuft so etwas in der Praxis ab? Welche Menschen wählen diesen Weg?
Bei Menschen, die langsam sterben, gehen Hunger und Durst ganz allgemein zurück. Das gehört zum natürlichen Sterbeprozess. Es gibt aber auch viele Menschen, die ganz bewusst, auf Nahrung und Flüssigkeit verzichten. Auch hier muss man aber aufpassen, dass dieser Verzicht nicht unter Druck gemacht wird.
Geschieht das oft? Bekommt ein auf diese Art sterbender Mensch ebenfalls palliative Unterstützung?
Ja, dies geschieht relativ oft.
Im Positionspapier von Dialog Ethik respektieren Sie die Freiheit zum Suizid resp. die Suizidbeihilfe als private Handlung. Die Unterstützung durch Sterbehilfeorganisationen lehnen Sie ab. Worin liegt der Unterschied?
Das Recht auf Suizid erwächst eigentlich aus dem Abwehrrecht gegenüber lebenserhaltenden Massnahmen, die stets eine Integritätsverletzung darstellen. Deshalb braucht es für Handlungen in Medizin und Pflege stets eine Einwilligung. Dadurch entsteht die Freiheit zur Selbstschädigung. Suizid und Suizidbeihilfe sind daher keine Anspruchsrechte gegenüber der Gesellschaft. Das hat das Bundesgericht 2006 klar dargelegt. Andernfalls wäre der Staat generell verpflichtet Selbstschädigung nicht nur zu tolerieren, sondern sogar zu unterstützen.
Sie bezeichnen Sterbehilfeorganisationen auch als eigentliche Selbsttötungsorganisationen.
Das ist richtig: Sterbehilfe ist sehr viel mehr und auch anderes als Suizidbeihilfe. Die so genannten Sterbehilfeorganisationen überschreiten die Grenze vom privaten zum öffentlichen Raum, insbesondere dann, wenn sie Geld einnehmen. Die Suizidbeihilfe-Organisationen sollten zumindest ohne Einnahmen funktionieren müssen.
Wäre es denn nicht wünschenswert, würden wir einen so heiklen Themenbereich in die Hände des Staates legen?
Die Kernfrage ist, ob die Tötungsoption zu einer vom Staat anerkannten Problemlösung werden soll.
Sie warnen davor, schwache und schutzlose Personen nicht über einen gesellschaftlichen Druck in den Freitod zu drängen. Gibt es solche Tendenzen bereits?
Ja, die gibt es durchaus. Ich arbeite ja auch in Langzeit- und Rehabilitationsinstitutionen, und dort bringen die Menschen immer wieder zum Ausdruck, dass sie nur noch «Kostenfaktoren» für die Gesellschaft seien.
Ist es schlecht, wenn jemand früher gehen möchte, um dem Staat, der Gesellschaft, seiner Familie nicht zu viele Kosten aufzubürden?
Die Frage ist, entscheidet der Betroffene, die Betroffene das wirklich freiwillig?
Technisierung der Medizin und «Heiligkeit des Lebens» auf der einen Seite – die Option «Freitod auf Abruf» auf der anderen Seite: Welche Mechanismen, Regeln oder Institutionen brauchen wir als Gesellschaft, damit die Menschwürde nicht verloren geht?
Die Menschenwürde beinhaltet zuerst das Abwehrrecht und zweitens die Fürsorgeverpflichtung des Staates. Ich finde die heutige Regelung in der Schweiz gut. Dies obwohl man damit Auswüchse in Kauf nehmen muss. Aus meiner Sicht sollten die Suizidhilfeorganisationen aber auf jeden Fall besser kontrolliert werden, insbesondere ihre Geldflüsse. Zudem besteht aus meiner Sicht Klärungsbedarf beim Begriff «uneigennützige Suizidbeihilfe».
Viele Menschen werden Mitglied bei Sterbehilfeorganisationen, damit «sie ihren Willen in jedem Fall durchsetzen können» oder weil sie «bei schwereren Krankheiten nicht ihre Angehörigen mit der Bitte zur Suizidbeihilfe in Verlegenheit bringen möchten». Was raten Sie jungen und gesunden Personen mit solchen Bedenken?
Ich habe stets die Möglichkeit und vor allem auch das Recht, meinen Willen durchzusetzen. Auch eine gut formulierte Patientenverfügung ermöglicht es, dass ein Mensch auch in Situationen der Urteilsunfähigkeit gemäss seinen Vorstellungen behandelt und betreut wird und dann sterben kann.
Für wen macht es Sinn, die Hilfe einer Sterbehilfeorganisation in Anspruch zu nehmen?
Eigentlich für niemanden, denn jeder hat die Möglichkeit, auf Nahrung und Flüssigkeit zu verzichten und/oder andere lebenserhaltende Massnahmen erst gar nicht einzusetzen oder solche zu beenden. Es braucht dazu keine Suizidbeihilfeorganisation.
Ich denke an ALS-Kranke, an lebenssatte oder von Demenz bedrohte Menschen.
Situationen zu benennen, in denen Suizidbeihilfe angemessen sein kann, finde ich höchst gefährlich, denn das Signal ist klar: «Eigentlich würdest Du besser gehen.» Ich finde es deshalb auch staatspolitisch höchst bedenklich, wenn alten Menschen der Zugang zur Selbsttötung leichter gemacht werden soll als jungen. Dies widerspricht grundsätzlich der Menschenwürde.
Trotzdem: Wenn ich als urteilsfähiger Mensch erfahre, dass ich mich im Anfangsstadium einer Demenzerkrankung befinde, habe ich zwei Möglichkeiten. Ich lebe weiter und nehme in Kauf, einst als hilfloser Menschen auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Oder ich begehe Suizid. Was tun?
Für einen nicht sterbenden Menschen ist es immer schwierig, von dieser Welt zu gehen. Denn der Todeswunsch ist in diesen Situationen stets ambivalent. Auf dem Weg zu einer fortgeschrittenen Demenz gibt es immer wieder Stationen, an denen jeder entscheiden kann, ob er noch weiter behandelt werden möchte oder nicht. Und für die Situation der Urteilsunfähigkeit gibt es die Patientenverfügung.
Es gibt also durchaus Alternativen zum aktiven Suizid?
Auf jeden Fall. Das Sterbefasten braucht einen klaren Entschluss und wird vom Einzelnen ganz selber verantwortet. Warum soll der Suizid leichter fallen als das Sterbefasten? Gerade weil das Sterbefasten eine starke Willensleistung und ein länger dauernder Prozess ist, aus dem man eine gewisse Zeit lang noch aussteigen kann, wissen auch die Zurückbleibenden, dass es der Wille des Verstorbenen war. Es ist die extremste Form passiver Sterbehilfe als Unterlassen von lebenserhaltenden Massnahmen. Diese Form des Sterbens braucht Raum und Zeit, was den gemeinsamen Abschiedsprozess mit dem Sterbenden erleichtert.
Foto: Bruno Torricelli
Die Stiftung Dialog Ethik unterscheidet zwischen Hilfe beim Sterben (passive Die Stiftung Dialog Ethik unterscheidet zwischen Hilfe beim Sterben (passive Sterbehilfe) und Hilfe zum Sterben (aktive Sterbehilfe)
Die passive Sterbehilfe ist in der Schweiz allgemein akzeptiert. Dazu werden folgende Handlungen gezählt:
• Sterbebegleitung: Physische und psychosoziale Begleitung eines sterbenden Menschen. Dazu gehört auch Palliative Care
• Behandlungsverzicht/-abbruch: Auf eine mögliche lebenserhaltende Massnahme wird verzichtet, oder sie wird abgebrochen (z.B.: Chemotherapie).
• Handlung mit doppelter Wirkung: Schmerzmittel werden eingesetzt auf die Gefahr hin, dass sie den Sterbeprozess des Patienten beschleunigen
• Die aktive Sterbehilfe ist immer eine Tötung des Sterbenden: Entweder handelt es sich um eine Selbsttötung oder um eine Tötung auf Verlangen. Letztere ist in der Schweiz verboten.
Legal
• Suizid: Ein Mensch verhilft sich selber zum Tod. Als Akt der persönlichen Freiheit zugelassen. Suizidprävention wird dennoch generell betrieben
• Beihilfe zum Suizid: Legal, wenn nicht aus eigennützigen Motiven.
Illegal
• Tötung auf Verlangen: Erfordert einen ausdrücklichen Tötungswunsch des Sterbenden. Derzeit verboten – Liberalisierung wird diskutiert.
• Tötung ohne Verlangen: Beruht immer auf Fremdurteil hinsichtlich der Lebensqualität der sterbenden Person – in der Schweiz verboten.
KONTAKTIEREN SIE UNS
Stiftung Dialog Ethik
Schaffhauserstrasse 418, 8050 Zürich Tel.
+41 44 252 42 01 | Fax. +41 44 252 42 13
www.dialog-ethik.ch | info@dialog-ethik.ch
IHRE SPENDEPC-Konto 85-291588-7 | IBAN: CH61 0070 0115 5001 9992 2 | (Vermerk Spende)
3 Antworten auf „«Wann ist welche Art der Sterbehilfe angebracht?»“
So ist es also möglich, in einer Patientverfügung zu wünschen/bestimmen, dass man (wer?) mir, wenn ich utreilsunfähig bin, keine Flüssigkeit und Nahrung gibt und auch verhindert, dass ich nicht reflexhaft allfällig Angebotenes zu mir nehme?
Gemäss den Richtlinien der Nationalen Ethikkommission, kann in einer Patientenverfügung nur die künstliche Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr verweigert werden. Zudem darf einem Menschen auch die Nahrung per Mund nicht aufgezwungen werden. Hingegen sollen Menschen, die essen wollen im urteilsunfähigen Zustand nicht daran gehindert werden, wenn sie angebotene Nahrung essen wollen. Zudem soll Menschen grundsätzlich Nahrung angeboten werden.
Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle, Institutsleiterin Dialog & Ethik, Tel. +41 (0)44 252 42 01, info@dialog-ethik.ch
Eine interessante Idee, dass Sterbehilfeorganisationen ohne Einnahmen funktionieren sollten. Da wäre man für einen theologischen Rat, wie dies funktionieren kann, äusserst dankbar.