Ich bin nicht schockresistent. Vor allem dann nicht, wenn ich mich um das Wohlergehen anderer sorge. Etwa um Esther Ackermann, 65. Sie erzählte mir im Herbst 2018, wenige Tage vor der Abreise zu einem Round-The-World-Trip: «Ich verreise allein – für ein Jahr. Ohne Handy, ohne Rückflug-Ticket und ohne Plan.»
«Allein?», frage ich entsetzt. Ohne Notruf-Zentrale im Rucksack? Esther zeigt sich unbeeindruckt. Ich bohre weiter. Frage: «Und was ist mit der Angst, die lässt du ebenfalls hier?» Meine Gesprächspartnerin lacht. Sagt: «Klar. Ich springe gerne in Schwarze Löcher».
Unvorstellbar für einen wie mich, der ich mich ohne Smartphone unsicher und hilflos fühle. Der ich alles absichere. Gerne alles bis ins Detail plane. «Also», hake ich nach. Sage: «Du liessest dich von nix und niemandem beeindrucken, fürchtetest weder Tod noch Teufel. Stimmt das wirklich?»
Esther lacht. Gigelet. «Ja, das stimmt. Ich fürchtete noch nie um mein Leben. Warum denn?» Sie zuckt die Schultern, hebt die Hände. «Es kommt, wie es kommt.» Sie frage sich, sagt Esther Ackermann, ob es ihr Ur-Vertrauen sei, auf das sie setze. Oder ist es das Bauchgefühl? Sie sagt: «Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus mehreren Komponenten. Wenn ich also gerne in Schwarze Löcher springe, so tue ich das nicht kopflos.»
Dschungelnächte mit Ohrstöpseln im offenen Zimmer
Sie habe ein feines Gespür für Menschen und Situationen, sagt Esther. «Und ich bin nicht ängstlich. In Laos etwa, bewohnte ich für ein paar Tage einen Garten-Bungalow. Weil ich Klimaanlagen nicht mag, liess ich in der Nacht Türen und Fenster weit offenstehen und schlief wunderbar. Andere Gäste konnten das kaum glauben. Sagten, sie hätten sich Sorgen gemacht. Eine Verrückte sei ich.» Esther macht eine Pause. Sagt. «Dabei wohnten wir im Garten Eden ohne reale Gefahr weit und breit.» Was die allein reisende Rucksack-Touristin nicht sagte: Sie schläft grundsätzlich mit Ohropax.
Esther Ackermann: «Ich bin so. Einen Schleicher würde nicht bemerken. Aber niemand kam. Nicht einmal ein Tier aus dem nahen Dschungel.» Und das funktioniere nur, weil ihr noch nie etwas passiert sei. «Ich fuhr als junge Frau nicht nur von Mels nach Zürich per Autostopp. Nein, ich reiste per Anhalter bis nach Marrokko – allein.»
Dann warst du trotz deiner unermüdlichen Reiserei nie in einer bedrohlichen Situation? Sie denkt nach, bevor sie antwortet: «Es muss über vierzig Jahre her sein, als ich in Südfrankreich kühn behauptete, ich hätte ein Messer im Sack und so einer Attacke entging.» Sie hätte im Elternhaus viel Urvertrauen erhalten. «Alle waren sicher, dass mir nichts passiert.»
Urheimat bleibt das Sarganserland
Esther Ackermann wurde 1956 in Basel geboren, als erstes von sechs Kindern. «Ich hatte eine Schwester und vier Brüder. Drei der Brüder sind zehn und mehr Jahre jünger. Denen war ich eine Art Mutter. Da wirst du zum Alphatier.» Sie wechselt den Gesichtsausdruck und erzählt von ihrem Bruder, der 2017, am Freitag, 1. Dezember. an einem Herzinfarkt starb. «Wir glaubten, er sei abgereist. Stattdessen muss er mit dem Koffer in der Hand zusammengebrochen sein. Er wollte nach Südamerika verreisen. Bevor er die Wohnungstür öffnen konnte, holte ihn der Tod. Wir bemerkten das erst am Montag.»
Ihre Schulzeit habe sie in Mels verbracht, sagt Esther Ackermann. «Bis heute ist das meine Ur-Heimat, obwohl ich seit über 40 Jahren nicht mehr dort lebe und nicht dorthin zurückkehren werde. Ich habe an verschiedenen Orten Heimat gefunden. Dem Sarganserland fühle ich mich am stärksten verbunden, vor allem das Weisstannental hat auf mich eine unerklärliche Wirkung. Ein Kraft-Tal.»
Sie sei alleinerziehende Mutter von zwei Töchtern gewesen und habe im administrativen Bereich des öffentlichen Dienstes gearbeitet. Bei der Scheidung waren Nadine und Michelle vier, respektive sechs Jahre alt. «Ich wollte kein Geld für mich. Wir haben eine Beziehung, die verhebet. Unterkriegen liess ich mich nicht. Und wenns mir verschissen ging, tat ich so, als sei alles in Ordnung. Dabei gab es Zeiten, da wusste ich nicht, wie ich das Hamsterrad jemals verlassen sollte.»
Nur Reisen ist Leben, wie umgekehrt Leben Reisen ist
«Mit 62 Jahren liess ich mich pensionieren und startete am Dienstag, 30. Oktober 2018, in Frankfurt mein ‹Solange ich noch fit bin›-Projekt. Die ersten drei Wochen begleitete mich meine Tochter Michelle in Vietnam. Danach war ich allein auf mich gestellt. Ein Jahr und drei Tage war ich unterwegs. Am Freitag, 2. November 2019, landete ich in Zürich-Kloten.»
Diese Reise sei ein Sprung gewesen in ein Schwarzes Loch. Esther Ackermann: «Das heisst, fallen lassen und schauen, was passiert. Einmal mehr. Ich liebe dieses Gefühl. Losziehen und einfach treiben lassen, das konnte ich mich zum ersten Mal im Leben.» Tatsächlich trieb es die fröhliche, selbstbewusste Frau rund um den Globus: Vietnam, Taiwan, Hongkong, Laos, Südkorea, Japan, Mexiko, Chile mit Osterinseln, Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Panama, Costa Rica.
«Ich hatte keinen fixen Plan, aber viele Ideen. Liess sich etwas nicht realisieren, öffnete sich ein neuer Weg. Die Organisation war nicht immer einfach. Gelegentlich wünschte ich mir ein Handy oder ein Notebook.» Sie lacht schallend und wird gleich wieder ernst: «Jederzeit hätte ich mir etwas kaufen können. Doch dann wäre die Herausforderung verflogen, mein Projekt gescheitert.»
Internet-Cafe statt Laptop im Rucksack
So organisierte sich die Weltenbummlerin mit Hilfe der immer seltener werdenden Internet-Cafés und der öffentlichen Telefonkabinen. «Sicher ist, dass eine solche Reise keine Ferien sind. Es ist alles gut gegangen. Nie setzte ich mich grossen Gefahren aus, die Risiken waren immer absehbar. In all diesen Ländern erlebte ich keine unangenehme Situation. Keine Aufdringlichkeit, nichts.»
Das habe sicher damit zu tun, dass alle von ihr besuchten Länder Touristen-Destinationen seien, wo man dafür sorge, allfällige Unannehmlichkeiten auszuschliessen. Hätte sie Krankheit, Elend und Tod begegnen wollen, wären Ausflüge nötig gewesen an die Peripherie der Mega-Städte. Und das habe sich nicht ergeben.
«Ich erlebte keine unangenehme Situation»
Hilfsbedürftige, Verzweifelte und bitterarme Menschen habe sie auf ihren Reisen, wenn immer möglich unterstützt. Egal ob Restaurant- oder Hotelangestellte, Marktfrauen oder Taxifahrer etc. «Sie arbeiten hart und wissen trotzdem oft nicht, wie sie ihre Familien ernähren können», sagt Esther Ackermann.
Oft fragte sie die Frauen und Männer, was sie brauchen würden. Wie im argentinischen Winter 2019. Damals wars in Buenos Aires kaltfeucht. «So ging ich mit ‹meinem› Taxifahrer einen Wintermantel kaufen. Er war es, der mich krank, Verdacht auf Lungenentzündung, ins Spital brachte und später wieder ins Hotel zurückfuhr. So ergeben sich Gespräche, so lerne ich Leute und ihre Lebenssituation kennen.»
«Ich wünsche mir einen plötzlichen Tod»
Wann kamst du erstmals mit dem Sterben, dem Tod in Kontakt?
«Im Jahr 2006. Vater war 75 Jahre alt und hatte Krebs. Ich war intensiv bei ihm. Sass an seinem Bett, als er im Spital Walenstadt wohl betreut starb. Er konnte nicht genug loslassen. Kaum pensioniert, musste er operiert werden und erhielt einen dreifachen Bypass. Dann meldete sich der Krebs. Er fühlte sich ‹bschisse›, vom Leben betrogen.»
Der Gedanke an ihr Lebensende betrübe sie nicht. Esther Ackermann: «Zu meinen Töchtern sagte ich: Wenn ich in drei Minuten tot vom Stuhl falle, ist es ok. Ich hatte ein tolles Leben und wünsche, dass ihr immer daran denkt, wie sehr ich euch liebe.»
Und weiter sagt sie: «Würde ich krank und müsste unter Schmerzen und Abhängigkeit weiterleben, weiss ich heute nicht, welche Gedanken mich dann beschäftigen werden. So oder so: Ich wünsche mir meinen Tod plötzlich, unerwartet.» Sie schweigt, schaut mich an: «Das wünschen sich doch alle.»
«Ich komme nicht wieder, es gibt kein ewiges Leben»
Esther, wohin führt die Letzte Reise?
Wenn mein Herz aufhört zu schlagen, wird es dunkel. Schluss. Die letzte Reise führt nirgendwohin. Nur meine Asche geht in Basel in den Rhein. Das wird dann mein letzter Trip. (Sie lacht, gluckst.) Ich komme nicht wieder, es gibt kein ewiges Leben. Wo sollte das stattfinden? (Sie schaut mich an, verwirft die Hände.) Himmel oder Hölle? Welch ein Blödsinn. Schon als Kind war für mich klar: Tot sein heisst Schluss und aus.
Text: Martin Schuppli, Fotos: Peter Lauth