Dieser Blog braucht ein Vorwort. Oder eine Vorgeschichte, ein Intro. Es ist nicht das erste Mal in meiner Journalisten-Karriere, dass ich die Gelegenheit erhalte, eine prominente Persönlichkeit zu interviewen. In diesem Fall wars Eveline Suter, Schweizer Musical-Star. Sie wuchs in Zug auf und lebt seit 2007 in New York. Derzeit ist sie auf der Walenseebühne zu sehen, als Bella in «die Schöne und das Biest».
So weit so gut. In ersten Tagen dieses Frühlings zügelte ich nach Walenstadt. In ein Haus am Hang. Seesicht inbegriffen. Ich beobachtete auf täglichen Spaziergängen am Seeufer den Aufbau der Bühneninfrastruktur und hörte, später an den Probetagen, bei leichter Bise, der Musik zu. Dachte: Eigentlich würde ich gerne eine Vorstellung sehen, um zu wissen, was da abgeht.
Am Tag der Generalprobe rief mich mein Freund an, Fotograf Bruno Torricelli. Wir arbeiteten lange Jahre zusammen bei Ringier AG. «Er machte mich mit Lolita Morena bekannt, stellte mir Thomas Gottschalk vor oder Lothar Matthäus sowie viele andere. Er fragte: «Begleitest du mich an die Generalprobe? Könntest Eveline Suter kennenlernen. Du musst einfach in dreiviertel Stunden unten am Eingang stehen.»
So erlebte ich die Sängerin und Schauspielerin als Bella in die Schöne und das Biest. Singend. Tanzend. Gestikulierend. Liebend. Leidend. Laut und leise. Erstaunlich, wie viel Mimik ich sehen konnte. «Lebendig und fröhlich», sagte ich ihr nach der Vorstellung. «Sie kommen gut rüber, nie hätte ich diese Authentizität erwartet. Diese natürliche Heiterkeit. Diese Leichtigkeit.»
Bella ist ihre fünfte Rolle in Zusammenarbeit mit der Walenseebühne. In Walenstadt spielte Eveline Suter die Bertha von Bruneck in «Tell», die Eliza Doolittle in «My Fair Lady», die Kathrin Mc Gowan in «Titanic» und jetzt die Bella in «Die Schöne und das Biest». Zudem ging sie im Herbst 2015 als Edith Piaf in «Spatz und Engel» auf Schweizer Tournee.
Frau Suter, was gefällt Ihnen besonders an der diesjährigen Produktion?
Eveline Suter: Die Lieder, die Musik. Den Zuschauern, Zuschauerinnen gefällt das Märchen. Dank Bellas Liebe wird das verzauberte, hässliche Biest zum schönen Prinzen. Eine einfache Geschichte und doch so wunderbar. Wir Mensch lieben das Simple.
Diese, eure Version entspricht der französischen Urform.
Genau. Es ist nicht Disney. Unsere Version hat ihren eigenen Reiz. Viele sagen, sie sei weniger kitschig, natürlicher.
Und so redeten wir am Abend nach der Generalprobe und einige Tage später über ihr Leben. Mit 19 Jahren zog sie nach Wien, um an den Performing Arts Studios ihre dreijährige Ausbildung zur Schauspielerin und Sängerin zu absolvieren. Später, 2007, zügelte sie nach New York. Sie hatte ein Stipendium vom Amt für Kultur der Stadt Zug erhalten. Das reichte noch nicht für ein halbjähriges Engagement etwa in «Hair». Und so erstritt sich Eveline Suter mit der Hilfe eines US-Anwalt eine der begehrten Green Cards.
Die 39jährige studierte im New Yorker «The Lee Strasberg Theater and Film Institute». Wie einst Angelina Jolie, Uma Thurma, Scarlette Johansson um einige Rechercheergebnisse zu nennen. Mit solchen Namen würde sich Eveline Suter nie schmücken. Sie zu erwähnen ist Journalisten-Eifer.
Wir reden über Kathrin Mc Gowan in Titanic, über Anna Göldi. Über die Päpstin, über Evita sowie über Edith Piaf. Alles starke Frauenrollen. Bei der Recherche auf Eveline Suters Website las ich spannende Details: Die feingliedrige Frau kann auf Händen gehen, den Handstand lange Zeit halten oder «ewigs auf dem Kopf stehen». Yoga praktiziert sie, bildete sich in NYC mit 200 Stunden zur Yogalehrerin aus. «Vor jeder Aufführung mache ich Yoga.» Brillieren könnte sie als Trompeterin. «Ich besuchte in Luzern das Konsi, hätte mir vorstellen können, Musikerin zu werden», es kam anders. Sie wurde Schauspielerin, Sängerin und Sprecherin. Letzteres lebt sie seit vielen Jahren für die, SBS, Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte.
Verändern einen die Rollen? Etwa Evita, die Piaf, Eliza Dolittle?
Jede Rolle bringt einen weiter, egal ob klein oder gross. Ich entwickle mich mit jedem Mal, es passiert so viel während der Zeit einer Produktion. Mit den Leuten, den Unbekannten und den Bekannten.
Wie erleben Sie die Zuschauer nach der Show, wenn Sie zum Auto gehen?
Sie loben, äusseren Freude, sind fröhlich und aufgestellt. Es wird mir dann klar, wie ich wirkte. Das verwirrt einen. Obwohl Lob immer schön ist.
Ist es denn in jedem Fall die Wahrheit?
Ich erwähnte das, weil ich viel über die Wahrheit nachdenken. Auf der nächtlichen Fahrt zurück nach Zug habe ich jeweils genug Zeit, darüber zu sinnieren, was denn die Wahrheit sei.
Wird ebenso Kritik laut?
Es gibt immer solche, die fadegrad sagen, was sie denken. Die kritisch sind. Etwas Kritisches äussern. Vor ein paar Tagen war ein Kollege in der Show. Ihm gefiel es nicht besonders. Und das sagte er mir ganz offen. Das sind jeweils besondere Momente. Wer dünnhäutig ist und dann all die Meinungen auf einen reinprasseln, wenn sich alles um einen dreht, ist das nicht nur lustig. Aber für mich interessant. Denn grundsätzlich bin ich offen für Kritik. Es ist wichtig, offen zu bleiben. Stets zu lernen.
Warum?
Ich würde ebenso gerne wissen, wie es dem Gegenüber geht. Hätte noch vieles zu erzählen, rede gerne über meinen Alltag. Schliesslich führe ich ein normales Leben. Auf dem Nachhauseweg hole ich Hündli Jack ab. Dann spazieren wir mitten in der Nacht dem See entlang. Ich mit etwas Herzklopfen. In solchen Momenten denke ich, was bin ich denn? Ich lebe unglamourös in zwei Welten.
Bleibt von jeder Rolle etwas hängen?
Klar. Jeder übernimmt etwas. Als Eliza Doolittle in My Fair Lady war ich schnuudrig und elegant, zerbrechlich und stark. Klar trage ich Gegensätzliches in mir. Ich kann glauben machen, dass ich eine Lady sei und kurz darauf urschweizerisch daherreden. Träfe Worte brauchen. So wie die Eliza Doolittle.
So kommen wir auf die Geschichte zu sprechen, «Ich weinte nicht, als Vater starb». Eveline Suter las einige Male daraus vor und war bereit, den Text als Hörbuch einzulesen. Ein Ausschnitt:
Iris war 14, als sie das Geheimnis preisgab: Sie wurde jahrelang von ihrem Vater missbraucht. Zwei Tage später erschoss sich der Vater. Iris wurde in ein Mädcheninternat gesteckt und sprach nie mehr davon – bis sie 40 Jahre später, in Neuseeland, eine TV-Sendung über Inzest sah und die Tragödie ihrer Lebensgeschichte aufzuschreiben begann. Ihr Buch Ich weinte nicht, als Vater starb, in dem sie sich den Namen Olivia gab, um Distanz zum Erlebten zu gewinnen, erschien 1986 zum ersten Mal und wurde ein Weltbestseller. Heute ist Iris Galey 80 Jahre alt und glücklich verheiratet. Es war ein langer und harter Weg der Heilung mit vielem Scheitern und Wiederaufstehen, um das tief sitzende Kindheitstrauma zu überwinden und mit der unsichtbaren Verletzung leben zu lernen.
Für einen kurzen Moment wird es still auf der Schreibterrasse. Ich frage Eveline Suter, wie oft sie diesen Text durchgelesen haben. Frage, wie nahe ihr die Geschichte gegangen sei? «Sehr nahe», sagt sie. «Iris Galey schreibt das ehrlich, sie hat keine Angst sich zu zeigen. Sie steht zu ihrem Hass, ihrer Wut, ihrem Ekel, das berührt. Um mich herum scheint so vieles perfekt. Dabei ist mir klar, dass viele Leute dunkle Geschichten mit sich rumtragen. Je mehr ich darüber rede, um so mehr erfahre ich über die Leute. Mich interessieren Schicksale, ich freue mich, wenn sie ein gutes Ende nehmen.»
Mussten Sie sich abgrenzen?
Das Buch nahm mich mit. Ich las vor Publikum daraus vor. Missbrauchsopfer sassen im Saal. Ein beklemmendes Gefühl. Man muss sich allgemein abgrenzen, wenn man sensibel ist. Und ich bin sensibel. Ich denke, das ist nötig, will jemand kreativ sein. Schliesslich bringe ich Emotionen mit.
Wie stark lassen Sie sich ein auf eine Rolle?
Kommt drauf an. Die fröhliche Bella lacht viel. Ob ich nun erschöpft bin oder in Topform, ich betrete die Bühne und muss strahlen. Also heisst das, Mundwinkel nach oben, Kopf hoch, weiter gehts. Zägg, bumm. Da gibts kein Suhlen in der beschissenen Stimmung. Das Strahlemädchen ist gefragt.
Übernehmen Sie gewisse Macken und integrierten sie, allenfalls nur vorübergehend, in Ihr Leben?
Das passiert. Ich erinnere mich an meine Kindheit. Da spielte ich die Rolle «ich brüele nie». Es grenzte schon fast an einen Wettkampf. Egal, wenn mich etwas total berührte, starrte ich vor mich hin und weinte nicht. Nicht einmal, wenn es körperlich schmerzte. Ich lernte, das Heulen zu steuern. Es war Kopfarbeit und die kann man trainieren. So lange bis nichts mehr geht und dann leidet das Herz, wenn man etwas uselat.
Ihre Eltern starben beide an Krebs.
Ja, meine Mutter war 51 Jahre alt, wir gingen durch ein Wechselbad. Sie war krank, genas, wurde wieder krank, es ging auf und ab. Mein Vater starb an seinem Geburtstag mit 62 Jahren.
Die Show ging weiter.
Logisch. Da wird gedreht, gespielt. Und es ist hart, wenn man vom Arbeitgeber hört, ‹das Sterben des Vaters könnte ja länger dauern, wir sind in einer laufenden Produktion, du musst auf dem Set anwesend sein, musst auf der Bühne stehen›. Es interessiert niemanden, was privat abläuft. Als meine Mutter krank wurde, hatte ich vor, den Job zu kündigen, aber das wollte sie nicht. Selbst schwerkrank unterstützte mich meine Mutter in allem, was ich tat. Beim schwerkranken Vater nahm ich extra nichts mehr an in Deutschland, um daheim bei ihm zu sein, Aber es ging alles sehr schnell. Ich konnte zwei Tage bleiben, dann starb er.
Fürchten Sie sich vor dem Tod? Wenn ja, was macht Ihnen Angst?
Nein, Schiss habe ich keinen. Ich denke oft daran. In den vergangenen Jahren, Monaten verlor ich einige liebgewordene Menschen. Manchmal möchte ich, dass mich jemand begleitet, mir das Händchen hält. So wie wir, meine Schwester Karin und ich, es bei unserem Vater machten. Wir erhielten einen Liegestuhl neben seinem Bett. Am Geburtstag sangen wir für ihn Happy Birthday. Irgendwann sagte meine Schwester, dass wir ihm die Möglichkeit geben müssen, alleine gehen zu können, ohne, dass wir jede Minute da sind. Wir sprachen mit ihm, und sagten, wir würden in ein paar Stunden wiederkommen. Dann verliessen wir das Zimmer und er starb kurze Zeit später.
Bei ihrer Mutter war das anders.
Ja. Mutter sammelte jeweils die letzten Kräfte, kam zurück, erholte sich etwas. Das machte sie mehrmals. Ich glaube, sie wollte bis zuletzt stark sein für ihre Kinder.
Sie sind noch jung, liessen im Gespräch durchblicken, dass Sie schon alles geregelt hätten.
Stimmt. Ich bedachte meine Liebsten mit Erinnerungsstücken, mein Testament ist geschrieben, jeder bekommt etwas. Ich hinterlegte ein Dokument mit allen Passwörtern, bestimmte jemanden, der die verschiedenen Accounts löscht. Ich weiss genau, was geschehen soll.
Warum diese konsequente Vorbereitung?
Nun, ein Todesfall kann sehr traurig sein, da ist es gut, wenn Angehörige sich mit dem Abschied, der Trauer befassen können und sich nicht mit Fragen abplagen müssen, was jetzt zu tun ist. Letzthin starb ein Kollege. Er war Ende zwanzig, hinterlässt Frau und Baby. In solchen Momenten ist es für direktbetroffene Angehörige schwierig, sich darum zu kümmern, was der Stillgewordene gewollt hätte.
Was meinen Sie, kommt nachher?
Ich weiss es nicht, komme nicht auf einen Nenner. Wie gesagt, meine Oma und ihr verstorbener Mann, mein Grossvater also, sie waren Zeugen Jehovas, glaubten ans Paradies. Schilderten es als totale Idylle.
Ihre Mutter las viel in der Bibel …
Ja und ich mache mir ebenfalls viele Gedanken über das Lebensende und die letzte Reise. Wir wissen nicht was geschieht, darum will ich jeden Tag geniessen. Wenns beschissen ist, dann gehört das dazu. Es könnte heute Abend fertig sein, darum lade ich mich an schlechten Tage selbst ein, geh raus, geniesse das Leben. Ich lebe jetzt, und darum muss es nicht weitergehen, ich möchte jeden Tag gut erleben.
Da gehört einiges dazu …
Ich bemühe mich, nicht nachtragend zu sein, keine Türen zu schlezen, nicht schwarzweiss zu denken. Ich möchte vergeben können. Schliesslich sind wir zweitweise alle Dubble, Esle, sind stur. Und deshalb sind wir dankbar, wenn man uns ebenfalls vergibt. Wir sind alle nur Menschen und fehlbar. Das sollten wir nie vergessen, wenn wir böse sind auf jemanden.
Was bedeutet Ihnen Materielles?
Etwas, das ich nicht mitnehmen kann. Als Vater gestorben war, ging ich durch seine Wohnung. Er hatte noch die Zahnbürste meiner Mutter aufbewahrt, mit Lippenstift dran, Da wurde mir bewusst, niemand kann etwas mitnehmen. Alles von ihr, alles von ihm war noch da. Warum sollen wir uns also um Materielles zanken?
Wir nähern uns dem Ende des Gesprächs. Nun will ich ganz konkret wissen, was Eveline Suter sagte, wenn sie wüsste, sie würde heute Nacht friedlich einschlafen und nicht mehr aufwachen? «Ich würde ein Telefonat machen, wegen Hündel Jack. Er soll einen guten Platz bekommen. Wie bereits erwähnt, versuchte ich, alles in Ordnung zu bringen. Bestünden noch Konflikte, wollte ich sie regeln. Ich verlor so viele Leute. Verabschiede ich mich, sage ich immer gut tschüss. Es käme mir nie in den Sinn, einfach abzuhauen. Wenn ich streiten muss, lasse ich den anderen trotzdem wissen, dass ich ihn liebe. Denn die Basis für ein gutes Leben, ist die Liebe.»
Text: Martin Schuppli, Fotos: Bruno Torricelli
Eveline Suters Webseite mit detaillierten Informationen:
Erleben Sie «Die Schöne und das Biest» als grandioses Openair-Musical. Das weltberühmte französische Volksmärchen wird nach der ersten deutschen Musicalfassung von Martin Doepke für die Walenseebühne neu inszeniert. Es erzählt die Geschichte der klugen Bella, die nicht nur ihren Prinzen, sondern gleich seine gesamte Dienerschaft verzaubert.
TSW Musical AG, Tobel 1505, 8877 Murg
Tel. +41 81 720 20 99
Der märchenhafte Sommernachtstraum auf der Seebühne in Walenstadt dauert noch bis 28. Juli 2018