Menschen interessieren sich für Menschen. Lese ich Zeitungen oder Zeitschriften, suche ich die Geschichten über Menschen. Egal, ob es nun Fussballer oder Skirennfahrerinnen sind, Wirtschaftsführer oder Künstlerinnen, Politiker oder Beamtinnen. Könige oder Prinzessinnen. Piloten. Filmstars. Autorennfahrer.
Wer die besten Geschichten über Menschen erzählt, hat mich als treuen Leser gewonnen. Und so bin ich vor bald 50 Jahren Formel-1-Fan geworden. Nicht die Motoren sind es, die mich interessieren. Nicht die Reifen oder die Aerodynamik. Nein, es waren Anfang der 70er-Jahre Jo Siffert, Jim Clark und Co., Clay Regazzoni und Jochen Rindt, die mein Interesse weckten. Später Niki Lauda und Peter Sauber. Michael Schumacher. Und natürlich Bernie Ecclestone, der einstige Rennzirkus-Dompteur.
Ich war damals KV-Stift beim Verlag, der den BLICK druckte. Täglich um elf Uhr brachte ich die Inserate-Maquetten in die Redaktion. Lernte spannende Leute kennen. Journalistinnen, Journalisten. Fotografen, Telexistinnen. Ein wilder Haufen. Mich interessierte, was sie zu erzählen hatten, resp., welche Artikel sie schrieben. Ich hatte Glück: Den BLICK zu lesen und die Inserate zu zählen, gehörte zu meinen täglichen Berufsaufgaben. Und so begann mich eine Welt zu begeistern, die mir bislang fremd war. Die Formel-1.
Roger Benoit, Formel-1-Experte
Roger Benoit, heute 71 Jahre alt, schrieb schon damals, es ist knapp 50 Jahre her, praktisch täglich seine Boliden-Geschichten im Boulevardblatt. Und ich? Ich lese sie und wurde so zu einem kleinen Experten. Dank Chronist Roger Benoit. In seinen Rubriken «Roger über Piloten und Boliden», «Formel 1 Intim», «Formel 1 Inside» informiere ich mich über Siege und Niederlagen, lese über die Zicken der Boxenluder und die Macken der Piloten. Ich weiss Bescheid über Gummimischungen und PS-Stärken, über die Sorgen und Freuden der Rennstallbosse, der Schrauber und der Investoren sowie der Autokonzerne. Ich weiss mittlerweile ganz gut, wer mit wem, was, wo und wie oft. Dank Boliden-Roger.
Mit der Zeit las ich zuerst Rogers-Geschichten, bevor ich mich dem Rest-Sport sowie dem «Blut und Gülle»-Teil widmete. Ich entwickelte meine Favoritenliste. Zuoberst standen Niki Lauda und Michael Schumacher. Ihnen drückte ich die Daumen. Guckte jedes Rennen im TV. Ich schielte ins Züri-Oberland zu Sauber und nach Maranello zu den springenden Pferdchen. Logisch träumte ich knallrot. Zähl(t)e mich zu den Ferraristi.
Niki Laudas Schicksal berührte mich besonders. Sein furchtbarer Unfall am 1. August 1978 auf dem Nürburgring schockierte mich. Roger fasste das Drama Jahre später folgendermassen zusammen: «Niki Lauda sitzt im Feuer. 55 Sekunden lang. Ohnmächtig. Bei 800 Grad! Horrorszene, filmreif.»
Einst dachte Roger, «Freunde, das wars!»
Tagelang war Roger dabei, als der verunfallte Ferraripilot im Spital von Mannheim ums Überleben kämpfte. Er litt mit Ehefrau Marlene. Blick-Leser erfuhren, sie habe dem Pfarrer einen Fusstritt verpasst, weil der Gottesmann Niki heimlich die Letzte Ölung verabreicht hatte. Dann die Sensation: Am 12. September, 42 Tage später, gab der Österreicher sein Comeback beim Gran Premio d’Italia im Autodromo Nazionale di Monza. Logisch, dass die BLICK-Leser hautnah dabei waren. Lauda beendete das Rennen auf dem vierten Platz, Clay Regazzoni fuhr auf Platz Zwei.
Niki Lauda und Roger Benoit wurden Freunde. Am 16. September 2016, anlässlich Rogers «700-Rennen»-Jubiläums interviewte der mit dem roten Kapperl den mit der kubanischen Zigarre für den BLICK. Niki Lauda fragte: «Roger, du hattest in deinen 700 Rennen ja auch einmal ein richtiges Tief. Wie war das mit deinem Notizbuch mit der Zahl 400 oder irgendwas …?».
Roger antwortete, es sei die 441 gewesen. Darauf forderte Niki Lauda eine Erklärung.
Roger Benoit: «Ja, du bist ja ein Freund von mir. Ich war auch der einzige Journalist im Spital nach deinem Feuerunfall, als du um dein Leben kämpftest. Die letzte Ölung habe ich drei Meter neben deiner Tür mitbekommen.»
Niki Lauda hakte nach: «So wars. Und was war nochmal bei Rennen 441?»
Roger Benoit: «Da wollte ich einfach Schluss machen im Leben. Einfach sagen: ‹Freunde, das wars!›»
Roger Benoit: «Bei mir gibts nur alles oder nichts»
«Das Leben wollte er sich nehmen», sagt Freddy Trütsch, langjähriger Arbeitskollege auf der Sportredaktion. «Wir telefonierten uns die Finger wund, bis jemand im Hotel den Leblosen entdeckte. Eine unserer Kolleginnen flog nach Kanada, um Roger aus dem Spital zu holen.»
Diese Geschichte ist kein Geheimnis. BLICK-Leserinnen und -Leser kennen sie. Es geschah am Donnerstag, 6. Juni 2002. Roger Benoit sagt, er habe schon am Morgen gewusst, es sei heute so weit. Und er bestätigt mir: «Das war kein Zufall oder eine unüberlegte Handlung.» Er habe sich an jenem Donnerstag vor dem GP von Kanada versucht, umzubringen. Im Hotelzimmer sei es gewesen. Mit portugiesischem Roséwein habe er 85 Pillen runtergespült.
Anlässlich seines 50-Jahr-Jubiläum beim BLICK, am 19. April 2019, erzählt er in einem grossen Interview u.a., warum er sich das Leben nehmen wollte: «Wenn du so extrem lebst wie ich, gibt es gewisse Situationen, wo es einfach zu viel wird. Bei mir gibt es nur alles oder nichts. Schwarz oder weiss. Normal ist das nicht, was ich mache.» Tatsächlich: Damals war der Blick-Reporter in den ersten 108 Tagen des Jahres bereits zweimal um die Welt geflogen.
Zurück zum Sterben. Auf die Frage, ob er wirklich geplant habe, abzutreten, sagte Roger, ja, er habe sterben wollen. Es wäre also okay gewesen, wenn es geklappt hätte. Weiter erfahren die BLICK-Leser von seinem zweiten Versuch. Ihn stempelt er ebenfalls als Jugendsünde ab. Einen dritten werde es nicht geben, verspricht er.
«Jim Clarke hauchte sein Leben zwischen zwei Bäumen aus»
Regelmässige Leser merkten es möglicherweise, der Tod erhält regelmässig seinen Auftritt in den Geschichten aus der Formel-1-Welt. Das hat die faszinierende Sportart so an sich. Obwohl der Tod in den vergangenen Jahren nur noch selten zugeschlagen hat. Roger Benoit kannte nie Hemmungen, zu beschreiben, was geschehen war. Etwa am 6. Oktober 1974. Damals starb Helmut Koinigg in Watkins Glen. Roger schrieb aus den USA: «Ich kam an die Unfallstelle und sah, dass auf dem Heckflügel sein Helm lag. Sein abgerissener Kopf steckte noch drin, und aus dem Hals kam eine Blutfontäne.» Über den Tod von Jim Clarke erfahren wir, dass der Brite am 7. April 1968 in Hockenheim sein Leben zwischen zwei Bäumen ausgehaucht habe. Ein andermal, als Alonso einen Unfall mit Tempo 311 überlebte, heisst die Headline: «Der Tod klopft an … aber es ist niemand zu Hause». Und als am 9. August 1997 der Hauspfarrer von Ferrari verunglückte, schrieb der Formel-1-Chronist: «Der Glöckner von Maranello ist tot».
Bei unserem Gespräch versuche ich herauszufinden, ob Roger an die Wiedergeburt glaubt. Der 71-Jährige verneint. «Wenn Schluss ist, ist fertig. Aus die Maus. Ende. Es kam ja noch keiner zurück und erzählte das Gegenteil. Aber wers glaubt, soll das.» Und auf die Frage, ob er seine Organe spenden würde, sagt er: «Ja, klar, wenn denn jemand was brauchen könnte.»
An der eigenen Beerdigung dabei zu sein, das würde ihn reizen, sagt er. Und das sagt einer, der ebenfalls äussert: «An Beerdigungen gehe ich nicht. Ich will die Leute so in Erinnerung behalten, wie ich sie kannte.» Allerdings machte Roger Benoit wohl eine Ausnahme, wenn Bernie Ecclestone vor ihm sterben würde. Er nickt. «Bernie ist ein guter Freund, zu ihm und seiner Frau habe ich eine enge Beziehung.»
Fragt man ihn nach seinem Verhältnis zum Leben und zum Sterben, sagt er: «Ich war – was den Tod betrifft – schon immer eiskalt. Wahrscheinlich ist das ein Schutz, ein Panzer, den ich mir zugelegt habe.»
Und diesen Schutz lässt er nicht fallen. Sagts. Lacht. Und steckt sich für den Fotografen Paolo Foschini, ebenfalls ein langjähriger Arbeitskollege und Freund, eine Romeo y Julieta zwischen die Zähne. So ist er, unser Roger.
Text: Martin Schuppli, Fotos: Paolo Foschini
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So berichtete Blick zum 50 Jahre Jubiläum von Roger Benoit
Formel-1-Stars gratulieren Roger Benoit zum 50-Jahre-Jubiläum
Der grosse Rückblick auf die F1-Saison 2019 auf Youtube