Franco Baumgartner kommt mit dem Velo an, die blonden Locken seiner Gottschalk-Frisur lugen unter dem Helm hervor. Der 62-Jährige wollte sich im Zürcher Sozialarchiv beim Bellevue treffen. Im Treppenhaus ist noch ein Tisch frei; wir reden, während junge Menschen geschäftig durch das Gebäude laufen. Zuhören kann er gut, das versteht sich von selbst. Wenn er überlegt, wie er seine Antworten am Treffendsten formulieren soll, blickt er aus dem Fenster.
Lange arbeitete er als Journalist, zuletzt als Inland-Redaktor der sda. Vor zehn Jahren wechselte er als Freiwilliger zur Zürcher Geschäftsstelle der Dargebotenen Hand. Unter der Kurznummer 143 beantwortet er gemeinsam mit anderen Freiwilligen Telefonanrufe von Menschen, die anonym über ihre Sorgen sprechen möchten. «Im Journalismus kratzt man oft nur an der Oberfläche, alles ist sehr schnelllebig. Die psychosoziale Arbeit bei der ‹143› hat mir die Tiefe im Kontakt mit Menschen gebracht, die ich mir gewünscht habe.»
Die Dargebotene Hand wurde 1957 gegründet und war damals als zivilgesellschaftliche Massnahme zur Suizidprävention gedacht. Der Leiter der Zürcher Stadtmission, Pfarrer Kurt Scheitlin, rief die Organisation ins Leben, ähnliche Modelle entstanden in den 50ern in vielen Ländern. «Damals fehlte vielen Menschen eine Möglichkeit, anonym über private Probleme zu reden, ohne stigmatisiert zu werden», sagt Baumgartner. Mittlerweile versteht sich die Dargebotene Hand allerdings mehr als generelle Anbieterin von «helfenden Gesprächen» in jeglicher Hinsicht.
Dargebotene Hand: Reden kann retten
2011 wurde Baumgartner Verbandsleiter der Dargebotenen Hand. Als ehemaligem Journalisten fiel es ihm leicht, die Öffentlichkeitsarbeit der Organisation voranzutreiben. Dies konnte unter anderem mit der grossen PR-Kampagne «Reden kann retten» gelingen, die vom Gesundheitsdepartement und den SBB mitgetragen wurden.
«Für mich hat die Arbeit der Dargebotenen Hand zu sehr im Schatten gestanden», sagt er. Er selbst hatte schliesslich auch nur durch eine Zeitungsannonce zur 143 gefunden. Seine Vorsitzstellung gab er im vergangenen Juni auf. Seitdem hilft er an Schulen bei der Integration von Kindern in Regelklassen – er nennt es «ein weiteres Kontrastprogramm zu allem, was ich bisher gemacht habe».
Gespräche sollen entlasten
Als Freiwilliger ist er weiterhin für die Dargebotene Hand aktiv. Einmal die Woche, fünf Stunden Dienst, in der Regel zehn Telefongespräche. Ein Gespräch dauert durchschnittlich zwanzig Minuten. Baumgartner hört sich dann an, was die Leute ihm erzählen, welche Sorgen sie plagen, mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben. Tabus gibt es keine. Manche Personen legen ihre gesamte Biografie aus, dennoch stehen die momentanen Emotionen im Vordergrund. Ziel der Gespräche ist eine momentane Entlastung.
Suizidalität spielt bei rund einem Prozent der Gespräche eine Rolle. Baumgartner sieht die 143 daher auch nicht als Suizidhotline. Wenn sich in einem Gespräch herausstellt, dass die Person suizidgefährdet sein könnte, spricht Franco Baumgartner das direkt an, mit viel Taktgefühl. «Es ist wichtig, in diesen Situationen zu ergründen, wie weit die Gesprächspartner in ihrer Planung bereits sind», erklärt er.
Frauen rufen öfter bei Telefon 143 an
Die Angebote der Dargebotenen Hand nutzten 2018 zu knapp 70 Prozent Frauen. Die «Statistik der Todesursachen» veranschaulicht jedoch, dass vor allem Männer sich das Leben nehmen: Rund 74 Prozent waren es im Jahr 2016. (Damals erhob das Bundesamt für Statistik letztmals Daten.)
In jenem Jahr gab es in der gesamten Schweiz 1016 Suizide. Das sind elf Suizide auf 100 000 Einwohner. Im europäischen Vergleich liegt die Schweiz somit im Mittelfeld – und nicht, wie oftmals behauptet, an der Spitze.
Die Suizidrate in der Schweiz nimmt seit den 80er-Jahren kontinuierlich ab. «Gleichermassen wird mehr denn je öffentlich über Suizide geredet, weshalb das Bild entstehen kann, dass mehr Menschen sich das Leben nehmen», sagt Franco Baumgartner. Die offizielle Erfassung sei auch dadurch gesunken, dass die Zahlen der Sterbehilfe nicht mehr gemeinsam mit den Suiziden erfasst werden. Die Waffenreformen haben ebenso dazu beigetragen, dass die Anzahl an Suiziden sinke. Das waren die besten Präventionsmassnahmen der vergangenen 20 Jahre, sagt der Telefon-Seelsorger.
Das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören
Das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören, sei einer der grössten Treiber für Suizid. Ein anonymer Telefonanruf kann eine Möglichkeit sein, aus der Isolation zu fliehen, sich wieder dazugehörig fühlen zu wollen, so Baumgartner. Manche Menschen möchten sich mit dem Anruf bei Telefon 143 verabschieden und einfach noch einmal mit jemandem reden.
«Ich weiss nicht wirklich, was passiert, wenn sie auflegen. Aber ich lasse ebenso nichts unversucht, diesen Menschen auf sehr behutsame Weise andere, vielleicht auch noch mögliche Optionen aufzuzeigen.» Seiner Meinung nach wäre es falsch, die Personen dann «ins Licht zerren zu wollen» – ihnen den Suizid also um jeden Preis auszureden.
«Rede ich Anrufenden ihr Vorhaben aus, könnten sie meinen, ich glaube ihnen nicht. Man sollte mit Suizidwilligen ins Dunkle gehen und es mit ihnen dort aushalten. Sie wollen nicht einfach hören, dass sie sich nichts antun sollen. Das wissen sie selbst. Also respektiere ich den Suizidwunsch als eine Möglichkeit, die der Anrufende in seiner Verzweiflung als einzigen Ausweg sieht – denn in diesem Moment kennt er keine anderen. Ich versuche aber, im Dialog herauszufinden, ob er an alles gedacht hat.»
Vor zwei Jahren schrieb Baumgartner zum 60-jährigen Jubiläum der Dargebotenen Hand ein Buch über die Geschichte der Organisation, wie aktives Zuhören funktioniert und wie Gespräche ablaufen können. «Die Seelentröster» heisst es. Diese Bezeichnung gefällt dem 62-Jährigen für die Arbeit am besten. Mit dem Begriff «Lebensretter» hingegen will er sich nicht anfreunden: «Wir sind keine Verhinderer von Suizid. Wir können versuchen, mit einem guten Gespräch etwas zu erreichen und eine momentane Entlastung zu bieten.»
Supervisionen helfen, Gespräche zu verdauen
Nicht belastend, sondern «sinnstiftend»: Diesen Grundsatz lernen angehende Freiwillige bereits in der einjährigen Grundausbildung, die sie absolvieren müssen, bevor sie zum ersten Mal den Hörer in die Hand nehmen dürfen. Zusätzlich zur Grundausbildung finden regelmässig Supervisionen statt, in denen die Freiwilligen sich gemeinsam über schwierige Gespräche austauschen können. Durch das Reflektieren mit anderen Freiwilligen kann Baumgartner gut mit den Gesprächen umgehen, die ihn im Nachhinein noch beschäftigen.
«Manche denken, die Telefonseelsorge müsste einen runterdrücken, aber das Problem wird überschätzt. Abgebrüht darf man sicher nicht sein. Aber es gibt nichts, was man nicht zu hören bekommt, also entwickelt man mit der Zeit eine gewisse Gelassenheit. Bleibt man gleichzeitig offen und interessiert an seinem Gegenüber, kann man auch schwierige Gespräche gut meistern.»
Sinnstiftende Freiwilligenarbeit
Ein anderes Gesellschaftsbild als vor der Arbeit bei der Dargebotenen Hand habe er nicht, aber er sei hellhöriger geworden. «Ich habe vor allem gelernt, wie schnell Menschen merken, ob man mit ihnen auf eine offene und ehrliche Art spricht», sagt er. Die Freiwilligenarbeit bezeichnet er als «sinnstiftend» und «erfüllend», sie habe seine Lebenszufriedenheit erhöht. Nur die Angst vor dem Tod konnte sie ihm nicht nehmen. Religiös sei er nicht, er glaube vielmehr, dass es nach dem Tod kein Bewusstsein mehr gebe, erklärt er: «In meinem Alter beginnt man schon, sich Gedanken zu machen. Aber es ist mehr die Sorge vor der Krankheit als vor dem Tod.»
Gefragte Anonymität: Online-Beratungen nehmen zu
Franco Baumgartner ist einer von rund 640 freiwilligen Mitarbeitern der Dargebotenen Hand. Im Jahr 2018 führten diese 174 217 Telefongespräche. Die Anzahl wäre höher, müsste die Organisation in Spitzenzeiten nicht Anrufer vertrösten und bitten, sich später zu melden. Als zusätzliches Angebot wurde vor einigen Jahren die Online-Beratung eingeführt, ein Mail- und Chatservice eingerichtet, der Jahr für Jahr mehr an Gewicht gewinnt.
2018 führten Mitarbeitende der Dargebotenen Hand 6884 Online-Beratungen durch, fast zwölf Prozent mehr als im Vorjahr. Die Nutzer dieses Service schätzen die online noch stärker ausgeprägte Anonymität. «Nähe durch Distanz» nennt Franco Baumgartner das.
Auffallend ist, dass Suizidalität in den Online-Gesprächen eine grössere Rolle spielt als am Telefon. Jahresübergreifend liegt der Anteil der Online-Beratungen, in denen Suizidalität Thema ist, bei sieben Prozent. In der telefonischen Beratung macht Suizidalität hingegen lediglich ein Prozent der Anrufe aus. Themenbereiche wie Alltagsbewältigung und psychische Leiden fallen in beiden Sektoren deutlich stärker ins Gewicht.
Text: David Rutschmann, Fotos : Peter Lauth
Tel. 143. So kanns tönen
*dieses Gespräch ist gestellt.
Reden kann helfen. Die Angebote der Dargebotenen Hand sind kostenlos, Anrufer bleiben anonym. Die Nummern 143 und 147 (für Jugendliche) sind rund um die Uhr erreichbar. Um per Mail Kontakt aufzunehmen, muss man sich hier anmelden, die Mails werden nach maximal 48 Stunden beantwortet. Die Chat-Möglichkeit steht täglich von 10 bis 22 Uhr zur Verfügung.
Spendemöglichkeit:
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Schweizer Verband Dargebotene Hand
Geschäftsstelle, Beckenhofstrasse 16
8006 Zürich
Buchtitel:
Die Seelentröster
60 Jahre Dargebotene Hand – eine Erfolgsgeschichte
von Franco Baumgartner
orell füssli Verlag
192 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-280-05667-7