«Es war einmal …» So beginnen Märchen. Die nun folgende Geschichte erscheint mir heute ebenso wie ein anfänglich unsagbar trauriges Märchen. Wie es enden würde, wusste ich damals nicht. Lesen Sie, was Franz von Matt passiert ist, dem studierten Architekten und pensionierten Bauverwalter einer Aargauer Gemeinde im unteren Wynental.
Kurz vor 12 Uhr, am Montag, 13. Dezember 2019, erreichte mich ein Mail meines Freundes Jürg, Immobilienmakler aus Suhr AG. Er schrieb: « … weil ich nicht weiss, wie gut du mit Informationen aus der ‹alten Heimat› versorgt wirst, leite ich sie dir weiter, die unglaublich traurige Geschichte von Franz von Matt.» Ich sitze am Küchentisch und lese den Anhang. Tränen fliessen mir über die Wangen.
Franz von Matt bricht das Schweigen
Liebe Mitarbeitende
Ihr seid alle orientiert, dass ich für längere Zeit gesundheitlich ausfallen werde. Unter dem «Deckmänteli» des Persönlichkeitsschutzes erhieltet ihr keine weiteren Informationen.
Als begeisterter Gartenbahner erzähle ich euch die Geschichte der Elektrolok Ge 6/6 Nr. 702 der Rhätischen Bahnen. Es handelt sich um eine Kraftlok, die für den Staumauerbau in den 60er-Jahren im Engadin sowie in der Surselva im Einsatz war.
Diese Lok wurde im Sommer 2019 umfassend renoviert und zeigt sich in strahlendem Rot mit weissem Schriftzug «6 Mio. Kilometer – 60 Jahre». So frisch revidiert wie diese Lok bin ich heute, nur fehlt mir die Oberspannungsleitung für die Power.
Mein Schicksal hat mich bewogen, die Mauern des Schweigens zu brechen. Darum erzähle ich euch, was geschehen ist.
Statt mir starb meine Liebste
… Am Wochenende vom 22. bis 24. November 2019 verbrachte ich viel Zeit mit meinem Hobby in der eiskalten Garage-Werkstatt. Den Montag startete ich auf der Gemeindeverwaltung wie gewohnt, schrieb Briefe und Mails. Meine Arbeitskollegin hatte sich über die vielen Schreibfehler gewundert. Gegen Mittag begannen mich starke Rückenschmerzen zu plagen und beim Atmen fühlte ich mich eingeengt. Ich machte eine selbstverschuldete Erkältung dafür verantwortlich, die zu solchen Verspannungen führte.
Im Ärztehaus Suhr konnte ich einen Vorabendtermin ergattern. Die Erkältungsversion nahm mir der Doktor nicht ab. Stattdessen diagnostizierte er eine akute Herzmuskel-Entzündung. Mir blieb die Wahl: Kantonsspital oder Hirslanden-Klinik.
Ich wählte Hirslanden und erhielt Stunden später den vernichtenden Bescheid: schwerer Herzinfarkt. Käthi, meine Frau, war völlig entsetzt.
Am nächsten Morgen folgt eine Herzkatheter-Untersuchung mit Kontrastmittel. Beduselt verfolge ich das Geschehen am Bildschirm. Geplant war der Einsatz von Stents, sie sollten die Verengungen im Herzen öffnen. Der Kardiologe schüttelte den Kopf, sagte: «Herr von Matt, da können wir nichts mehr machen.» Ich lande auf der Intensivstation. Irgendwann nehme ich mein schockiertes Käthi war. Sie steht neben dem Bett.
Vermutlich einen Tag später liege ich festgeknebelt auf einem OP-Bett. Verkabelt und verschlaucht erhalte ich einige Atemzüge Sauerstoff – dann weiss ich nichts mehr.
Operation am offenen Herzen
Erst Tage später realisiere ich, es war eine Operation am offenen Herzen, die ich offensichtlich überlebt habe. Käthi ist bei mir, sie hängt täglich wie eine Klette im Zimmer. Mit meinem Wohlbefinden gehts schnell aufwärts. In zwei Etappen werden mir alle Schläuche gezogen und ich kann, mit Hilfe des Pflegepersonals, wieder pinkeln gehen. Arzt und Physiotherapeut bestätigen meine gute Erholung. Sie fragen, wozu eine stationäre Reha auf der Barmelweid? Eine ambulante Behandlung würde reichen, sagen sie.
Da rastet mein Käthi aus. Sie macht alle verrückt, Pflegteam und Ärzteschaft. Ob sie ahnt, was mit ihr geschehen wird?
Am Samichlaustag fährt mich Käthi hinauf in die Barmelweid – sie selber leidet an Atemnot. Ich dränge sie, den Hausarzt zu kontaktieren. Sie meint, alles komme schon gut.
Der Empfang in der Barmelweid ist herzlich. Käthi fährt nach Hause. Sie will mir am Samstag warme Kleider und Wanderschuhe bringen.
Am Samstag erscheint kein Käthi. Besorgt bitte ich am späten Nachmittag Susanne, eine Kollegin, nach dem Rechten zu sehen. Niemand öffnet. Mit Notschlüssel und Nachbarin, telefonisch begleitet von der Polizei-Einsatzzentrale, betritt sie das Haus und findet Käthi nicht ansprechbar im Bett. Inzwischen ist die Sanität eingetroffen. Spät nachts werde ich vom Kantonsspital Aarau orientiert, Käthi hätte einen Hirnschlag erlitten, sei einseitig gelähmt und nicht ansprechbar. In mir geht eine Welt unter.
Mit Hilfe von Vreni, eine langjährige Familienfreundin, kann ich Käthi am Sonntag im KSA besuchen. Sie atmet langsam. Ich rede mit ihr, streichle sie. Keine Reaktion. Zwischendurch zuckt sie. Das seien epileptische Zuckungen, sagt die Pflegefachfrau.
Keine lebensverlängernden Massnahmen
Ich weiss nicht weiter. Käthi und ich träumten von Ferien in Dänemark. Mit dem Ärzteteam bespreche ich das weitere Vorgehen. Ich bitte, keine lebensverlängernden Massnahmen zu ergreifen. Käthi liebte die freie Natur und ihren Naturgarten ums Haus herum. Unvorstellbar, sie plötzlich im Rollstuhl gefesselt zu sehen. Eine Käthi, die nicht mehr sprechen und gärtnern kann. In mir bricht eine Welt zusammen. Ich sehe nur noch tiefen Abgrund.
Glücklicherweise bin ich in ein volles Reha-Programm eingebunden und tagsüber abgelenkt. Am Dienstagnachmittag hätte ich «Urlaub» erhalten, wollte Käthi im KSA besuchen.
Um 9 Uhr, kurz vor meinen Therapieübungen telefoniert jemand aus dem KSA. Ich höre, Käthi sei um 8 Uhr ruhig und schmerzfrei eingeschlafen – für immer. Schock pur, aber das Beste, was Käthi passieren konnte. Ich muss mit meinem Schreien das Barmelweid-Team in Schrecken versetzt haben. In Kürze kümmert sich das Mitarbeiter-Care-Team um mich.
Vreni begleitet mich um die Mittagszeit ins KSA, wo bereits meine Tochter Steffi wartet. Wir können uns liebevoll von Käthi verabschieden. Am Nachmittag unternehmen wir eine «nicht genehmigte» Fahrt heim, ich benötige Kleider und Pflegemittel. Das Haus finde ich in grosser Unordnung, Käthi musste seit Tagen keine Kraft mehr gehabt haben. Davon wusste ich nichts. Sie wollte mich damit wohl nicht belasten.
Später, um 14 Uhr, treffe ich in der Verwaltung den Gemeindeschreiber, um die traurige Nachricht von Käthis Tod zu melden. Zudem brauche ich etwas Bargeld, das ich bei der Kantonalbank beziehen kann.
Mir gehts den Umständen entsprechend. Es ist bereits die erste Seelensprechstunde vorgesehen, dann beginnen die Trainings auf der Barmelweid.
Meine Situation versuche ich mit Schreiben zu verarbeiten. Hochs und Tiefs verfolgen mich.
So, nun habe ich euch mit meinen Worten schockiert, es tut mir leid. Aber ihr wisst nun Bescheid. Jeder und jede soll wissen, was dem Bauverwalter zugestossen ist. Ihr könnt frei darüber berichten und die Zensur des Schweigens brechen. Ich hatte ja schliesslich nur einen Pumpendefekt, wie dies täglich eine Handvoll Menschen allein im Raume Aarau erfahren.
Rückkehr ins leere Haus – am Weihnachtsabend
Ich werde voraussichtlich am Weihnachtsabend ins leere Haus zurückkehren, ohne Käthi. Da muss ich nun durch. Glücklicherweise werde ich vom Barmelweid-Team liebevoll betreut. Ich bin sehr traurig.
Ich bitte euch, mir weder Beileidskarten noch Blumensträusse zu schicken. Ebenso wünsche ich keine Kondolenzbesuche oder wie das heisst.
Euch allen wünsche ich schöne Feiertage. Pflegt eure Angehörigen liebevoll. Bis irgendwann im Frühjahr 2020 wieder.
Herzliche Grüsse euer Franz
Geschockt und fassungslos will ich Zeit schenken
Da sass ich nun. Geschockt. Fassungslos. Am liebsten hätte ich mich ins Auto gesetzt und ihn besucht. Aber genau das verbittet er sich. So schreibe ich einen Brief. Spreche ihm mein Beileid aus, biete Hand zu einem Gespräch. Schreibe, ich würde ihm gerne Zeit schenken.
Ich höre nichts. Verständlich. Der Mann muss nun trauern, den Verlust seiner Frau verarbeiten. Muss alleine einen Weg finden, die kommende Zeit zu meistern. Ich frage mich, wie das geht. Mir ist klar, jeder und jede muss einen eigenen Weg finden aus dem Tal der Tränen, der Wut und der Verzweiflung.
Franz von Matt hat Mittel und Wege gefunden. Das Tagebuch wird zu seinem «Gesprächspartner». Intensiv schreibt er über seine Gefühle und seinen Tagesablauf. Unermüdlich notiert er Tag für Tag, wie es in ihm rumort, wie sehr die Tränen fliessen und wie der Verlust schmerzt. Am 18. Tag nach seinem Herzinfarkt schreibt er: Theoretisch könnte ich übers Wochenende in den Urlaub. Doch mich erwartet niemand zu Hause, und der Kühlschrank ist auf Diät gesetzt. So bleibe ich lieber hier auf der Alp hoch über Aarau.
Das war am Freitag, 13. Dezember 2019.
Steffi, Tochter aus erster Ehe, spendet Kraft
Seit Käthis Tod hat Franz wieder Kontakt mit seinen beiden erwachsenen Töchtern aus erster Ehe. Der Vater schreibt glücklich: Es ist schön, mit Tochter Steffi über Gott und die Welt zu diskutieren.
Über Gott und die Welt, über Trauer und Verlust, über Leben und Sterben sprach Franz von Matt in der Klinik Barmelweid mit einer Seelsorgerin. Darüber schreibt er am Tag 24 im Tagebuch: Kurz nach dem Morgenessen ein erster Termin mit Seelsorgerin Christiane Bitterli. In mir öffnet sich ein Tiefdruckgebiet. Sie kann mir aufzeigen, dass nun mein Weg bevorsteht. Ebenso nimmt sie mir die Gewissheit, den aufwändig und liebevoll gepflegten Naturgarten von Käthi nicht weiterführen zu müssen, wenn mir die Arbeit zu viel wird. Sie empfiehlt mir ebenfalls, Käthis Asche erst im Vorsommer im Engadin zu verstreuen, wenn der Schnee geschmolzen ist. So wird die Asche erdverbunden der Natur zurückgegeben und bleibt nicht tagelang auf Schnee und Eis liegen.
Eine öffentliche Beisetzung war nie geplant. Das hatten Käthi und Franz so besprochen. Er solle ihre Asche im geliebten Oberengadin ausstreuen, wünschte sie sich. An den Ufern des Silsersees.
Seelenschmerz vor der Heimkehr
Zwei Tage vor dem Austritt in der Barmelweid schreibt der Genesene ins Tagebuch: … Seelenschmerz ohne Ende; mich schüttelts nur noch vor Trauerschmerzen. Die Arztkonsultation zeigt keine Unstimmigkeiten. Ich erhalte eine Wärmepackung im Kreuz und Zeller-Entspannungsdragées. Noch über Stunden packt mich die Trauer, und ich falle wiederholt in endlose Tiefs. Inzwischen ist es draussen Nacht geworden.
Am 23. Dezember ist es soweit: Franz verlässt die Reha-Klinik Barmelweid, soweit gesund. Von munter kann keine Rede sein. Er schreibt … Fertig mit Betreuung und Konditionsaufbau. … Ich «muss» nach Hause.
Mein Nachbar Guido holt mich um neun Uhr ab. In der Wyna-Apotheke beziehe ich die vom Arzt verordneten «Dopingmittel». Dann gilts, den Kühlschrank mit dem Nötigsten zu füttern. Guido fährt mit mir nach Waldshut, wo ich die Kiss-Zweistrom-Modell-Lok der RhB abholen kann.
Der erste Abend allein im Daheim steht an. Ich fülle ihn mit Fernsehen, sichte alle Korrespondenzen. Spät nachts erledige ich online die pendenten Zahlungen und gehe um Mitternacht ins Bett. Im Badezimmer muss mir eine Sparlampe ein Restlicht liefern, damit ich nicht in völliger Dunkelheit einschlafen muss.
Franz verschafft sich Luft und Raum
Im Dunkeln will Franz nicht leben. Er muss ans Licht, muss sich Luft verschaffen. Der Mann schmiedet Pläne. Die Gartenbahn will er erweitern. Einige Gleise sollen dazu kommen. Seine Wanduhren sollen endlich aufhängt ticken können, und zwei Kinderzeichnungen seiner Töchter werden ihren Platz erhalten. Und er will entrümpeln. Im Tagebuch schreibt er von seinen vielen Fahrten ins Recyclingcenter.
Samstag, 28. Dezember 2019, Tag 33. Der Tag ist geprägt durch Entsorgungsarbeiten. Rund die Hälfte aller Bücher und mehrere Altkleidersäcke von Käthi sind entsorgt. Der Container scheint zur Hälfte gefüllt mit meinem Müll. Ziel ist, am Montag alle Bücher und rund die Hälfte der Kleider entsorgt zu haben. Im Moment drehe ich an Ort, fühle mich müde und leer.
Dann folgt der Jahreswechsel alleine zu Hause. Ein Abend gespickt mit Erinnerungen. Ein Morgen voller neuer Pläne. Es bleibt Zeit für eine Rückblende. Am 1. Januar heissts u. a. im Tagebuch:
• Vor 34 Tagen, am 27. November 2019 erhielt ich ein neues Leben.
• Vor 21 Tagen, am 10. Dezember 2019, starb Käthi.
• Seit 9 Tagen bin ich zu Hause. Käthi fehlt mir sehr.
Im neuen Jahr wiederholen sich die Entrümpelungstage. Franz von Matt schafft sich noch mehr Platz. Neben dem Sofa platziert er eine Stehleuchte und schreibt … nun habe ich endlich eine Leseecke.
«Emotionen spülen mich nass»
Weiter steht am 7. Januar über den ersten Termin in der Bauverwaltung: … auf der Fahrt bin ich hin- und hergerissen, die Emotionen spülen mich «nass», Käthi ist nur noch Erinnerung. Die Arbeitskolleginnen Susanne und Isabelle lebendig. Wir pflegen gute Gespräche, und ich kann bei diversen Unklarheiten zu Bauvorhaben weiterhelfen.
Am späten Abend vervollständige ich mein Profil auf Parship und lasse den Todestag von Käthi im Profilbeschrieb offen; es ist Zeit, mich weiter zu lösen.
Franz löst sich von der Zeit, die war. Noch vergiesst er viele Tränen – und er schmiedet Pläne. Etwa die Erweiterung der Gartenbahn bis zum Briefkasten oder die Gleis-Erweiterung Ost. Er schreibt am 31. Januar: Ab Drehscheibe kann ich ein gerades Gleisstück von rund vier Metern planen, dann brauchts ein S-Bogenstück, da die Steinblockwand schräg verläuft. Sobald die Aluprofile abholbereit sind, kann ich erste Pfeilerstützen fertigen, unter die Gleiselemente einpassen und so erste Tests der Gleisführung im Terrain machen.
Wow. So geht Gartenbahn, denke ich.
Was soll noch schiefgehen, wenn das Schlimmste schon passiert ist
Franz fragt sich, wie man trauern müsse. Im Tagebuch steht: Ich recherchiere im Internet über den Tod des Partners und muss feststellen, dass zahlreiche Tabus existieren. Martin Kreuels beschäftigt sich nach dem Tode seiner Partnerin mit Trauerbegleitung, vor allem zusammen mit Frauengruppen. Die Trauer hat ihm Mut gemacht. Weshalb er heute aufrichtig solche Sätze sagt: «Was sollte noch grossartig schief gehen? Das Schlimmste ist ja schon passiert.» Da hat er völlig recht. Es ist das eigene Recht jedes Hinterbliebenen, sich wieder neu verlieben zu dürfen, egal was Freunde oder Aussenstehende denken.
Am Montag, 3. Februar 2020, am 70. Tag seit dem Herzinfarkt, am Tag 49 nach Käthis Tod, trifft sich Franz mit einer langjährigen Bekannten. Die beiden reden über die Trauerverarbeitung. Im Tagebuch steht: Uschi hatte im Frühjahr 2018 mit dem Herzversagen ihres Ehepartners das gleiche Schicksal erlebt … Sie erlitt ein Burnout, wurde depressiv und musste sich letztlich psychologischer Behandlungen unterziehen. Ihre Tochter, die das Herzversagen ihres Vaters zu Hause bemerkte, ist noch heute stark depressiv und nicht arbeitsfähig.
Uschi legt mir dringend Nahe, meine Kräfte zu schonen und die noch folgende Leere aushalten zu erlernen. Man nenne die Zeit danach nicht ohne Grund Trauerjahr, da müsse ich durch und den Schmerz zulassen. Ich müsse mir und meinem Herzen Zeit der Erholung gönnen; ein schwerer Herzinfarkt brauche viel, sehr viel Zeit zur Erholung, zur Regeneration, und da sei die mir aufgezwungene Trauer eine weitere schwere körperliche wie psychische Belastung.
Sie ahnt nicht, dass mich die Trauerphase bereits eingeholt hat. Die grossen Räumarbeiten im Hause sind fast abgeschlossen. Ein Teil Erinnern, Ablenken und Verarbeiten habe ich wohl hinter mir, die eigentliche Trauerphase hatte ich aber bewusst verdrängt; typisch Mann. Und genau diese beschäftigt mich nun bereits seit Tagen. Ich bin sehr traurig, energielos und weiss nicht, wohin mich die Reise führt. Ich war stets der festen Überzeugung, mit meiner Willensstärke alles zu schaffen. Ein Mann weint nicht; auch typisch Mann, oder?
Draussen stürmts. Ich kann nicht mehr einschlafen und werde mit meiner Seele ebenfalls starken Stürmen ausgesetzt. Weshalb musste Käthi sterben? Ich bin im freien Fall abwärts. Da hilft keine Hoffnung, irgendwann wieder eine Lebenspartnerin finden zu können. Mit der eigenen Vergangenheitsbewältigung muss ich selbst lernen umzugehen.
Tränenreiche Tage im Tiefdruckgebiet
Was nun folgen sind tränenreiche Tage. Franz nennt sie Tiefdruckgebiet. Er schreibt am 4. Februar: Mein Tagesmotto: Giesskanne und Schüttelattacken vor Trauerschmerz. Es passt zum trüben Wetter mit Schneefall.
Franz von Matt besorgt sich Lesestoff zum Thema Trauer. Er notiert am 10. Februar folgende Zeilen: Am Abend habe ich mein erstes Buch zum Thema Trauerbewältigung «Männer trauern anders» in einem Zug gelesen und wohl Dutzende vom Tempos verschneuzt. Es hat aber gutgetan, zu sehen, was andere Männer nach dem Tod eines Angehörigen durchlebt hatten. Ich war immer der Meinung, ein Abschiednehmen von Krebskranken über Monate hinweg ermögliche ein leichteres Loslassen. Dem ist nicht so, da bis zum letzten Lebenstag bei allen, Kranken wie Familienangehörigen, immer die Hoffnung bestand, es passiere noch ein Wunder. Dies war mir nie bewusst.
Es besteht kein Unterschied zum plötzlichen Tod eines geliebten Partners. Im Buch ist von Männern geschrieben, die ihre Trauer verdrängten und Monate später in tiefe Depressionen fielen. Das Thema «Arbeit mit einem Psychologen, einer Psychologin» scheint nicht so abwegig zu sein. … Ich nehme es so, wie es kommen muss und habe wenigstens begriffen, die Trauer zuzulassen und nicht zu verdrängen. Trotzdem ist es mir fremd, wenn mich die Trauer überfällt; so, wie wenn jemand den Lichtschalter dreht und seien es so alltägliche Situationen wie Begrüssung mit dem Spruch «Ich kondoliere dir».
Am Valentinstag, 14. Februar 2020 steht u.a. Mir ist es inzwischen alleine sehr wohl, und ich muss mich nach Niemandem richten.
Hier finde ich erste märchenhafte Worte. In der Tragödie, im Schmerz, in der grossen Trauer zeigen sich positive Entwicklungen. Franz findet Raum, sich zu entfalten. Er empfängt Freunde und Bekannte. Sie waren alle noch nie in diesem Haus. Der Gastgeber geniesst es, die Küche zu nutzen, an seinen Kochkünsten zu feilen. Und er trauert.
Am Sonntagabend, 1. März heissts im Tagebuch: … wieder einmal ein heisses Bad mit klassischer Musik. Ich denke an den Geburtstag von Käthi und mache mir Gedanken, wie wohl die Wetterverhältnisse im Engadin seien. Pendent für mich ist immer noch Käthis Ascheübergabe am Silsersee. Mich trifft das heulende Elend, und ich bin sehr traurig.
Käthis Asche blies der Wind über den Silsersee
Am Mittwoch, 4. März 2020, hätte Käthi ihren 70. Geburtstag feiern können, wobei feiern zu viel versprochen wäre. Sie vermied es stets, ihren Geburtstag hervorzuheben. Seit Tagen beobachtete ich die Wetterentwicklung und die Strassenzustandsverhältnisse ins Engadin. Der einzige sonnige Tag dieser Woche steht heute bevor. Ich habe noch immer ein altes Versprechen offen gegenüber meiner verstorbenen Frau.
Um sechs Uhr morgens starte ich ins Engadin; im Gepäck die Asche in Käthis Urne. Ich besuche ihren geliebten Kraftort in Sils-Maria am Silsersee. Die Halbinsel Chastè ist tief verschneit, der gefrorene Silsersee war trotz eisiger Kälte und zügigen Winden seit Jahren unser Ausflugsziel im Winter.
Nahe dem Ufer «entlasse ich Käthi in die Freiheit», gebe die Asche der Erde zurück und verabschiede mich ein letztes Mal von ihr. Nach wenigen Minuten ist ihre Asche in alle Winde zerstreut.
Ein schöner und zugleich sehr trauriger Moment für mich, diesen Tag ohne meine geliebtes Käthi im sonnigen Oberengadin verbringen zu müssen, doch ein ebenso notwendiger Schritt des Loslassens. … Zum Silsersee und dem gewaltige Bergpanorama hatte ich immer eine besondere Beziehung, so wie es ebenso Käthi liebte. Heute ist mir die Gegend fremd – trotz Bilderbuchwetter.
Gartenbahn profitiert vom Corona-Lockdown
Nun holt die Corona-Seuche ebenfalls den Trauernden ein. Der Lockdown bringt viel Zeit für die Gartenbahn. Franz betoniert Pfeiler im Garten, baut Gleisanlangen, montiert Weichen, lötet und schraubt. Der Trauerprozess schreitet voran. Die Tränen fliessen munter weiter.
Am Samstag, 21. März schreibt er ins Tagebuch: … Mit dem Fehlen von Käthi habe ich mich inzwischen gut abgefunden. Erste Gartenarbeiten umgesetzt, Käthis Utensilien geräumt und das Gartenhaus fast vollständig entrümpelt.
Am Dienstag, 31. März 2020, erhält Franz ein Foto von Käthi, geschossen von einer Freundin im vergangenen Herbst. Im Tagebuch heissts: Es ist das letzte Bild von Käthi und von ausdrucksvoller Stärke. Ich breche in eine Giesskannenattacke aus, es berührt mich sehr.
Christina schreibt ein erstes Mail
Es folgen viele Gartenbahntage. Franz räumt auf, entsorgt, liest, interessiert sich für Hunde, genauer gesagt für ein Cocker Spaniel Weibchen und er arbeitet mittlerweile als Bauverwalter mit Zehn-Prozent-Pensum. Er wühlt zu Hause in den Akten, instruiert seine Nachfolgerin, organisiert sein Leben – und er tummelt sich auf Dating-Plattformen.
Am 1. Mai, ein Freitag wars, blättert die Märchenfee eine weitere Seite um. Davon zeugt eine kurze Notiz im Tagebuch: Frühmorgens schreibt mir eine Christina. Sie ist pensioniert, 66 Jahre alt und war in der Geriatrie tätig. Sie sammelt Märchenbücher.
Nun folgen die Mails und SMS in gefühlten Stundentakt. Gefühle explodieren. Im Tagebuch vom 2. Mai steht: Christina schreibt mir bereits um 5:27 Uhr eine Botschaft. Heute werden wir erstmals miteinander telefonieren, ich bin gespannt, die Stimme einer Märchenfee zu hören. Ich habe zum «Schreiberling» gefunden und bin glücklich und zufrieden. … Christinas Stimme und Wesenseigenschaften vernehme ich am Abend. Es wird ein zweistündiges interessantes Telefongespräch mit gegenseitigem akustischem Abtasten. Ich habe den Eindruck, sie schon lange zu kennen; ein schönes Gefühl im Alltag-Alleinsein. Wir spüren Gemeinsamkeiten.
Sonntag, 3. Mai 2020, Tag 160. Obwohl im geistigen Höhenflug, bin ich Realist genug, um zu spüren, dass Christina nach ihrer kürzlichen Trennung nach über 40 Jahren Ehe noch in der Vergangenheit lebt. … Sie schwelgt wohl in ihrer Märchenwelt, ist aber voll in Programmen mit Verwandten und Enkelkindern eingebunden. War mein Entscheid richtig, mich auf eine frisch getrennte Frau einzulassen? Es wird sich zeigen, jedenfalls tue ich etwas, was meine Seele aufheitert und, wer weiss, wieder zu einem Leben in einer Partnerschaft führen könnte.
Das Glück klopft an – ein Märchen wird wahr
Am Donnerstag, 7. Mail 2020, nimmt das Märchen seinen Lauf. Im Tagebuch steht: Christina sendet mir wunderbare Worte, die mich in meiner endlosen Trauer aufhellen. So schreibt sie Gedanken von Antoine de Saint-Exupéry «Und wenn du dich getröstet hast, wirst du froh sein, mich gekannt zu haben.» Am Morgen verspürte ich, abgesoffen in meine Trauer, gar eine grosse Angst, ich könnte nun die wunderbare Christina wieder verstossen. Doch das Pflanzen und das Umtopfen der Orchideen hat meine Lebensfreude wieder zurückgebracht. Nun bin ich überglücklich, morgen «meinem Schatz» mein Zuhause vorstellen zu können.
Freitag, 8. Mai: Die Nervosität steigt schon kurz nach dem Frühstück, um acht Uhr fahre ich zum Beck, um Brot und Schoggi-Mousse-Desserts zu holen. … Wir lernten uns vor einer Woche online kennen und sehen uns heute zum ersten Mal. Es wird eine spontane und herzliche Begrüssung mit heftiger Umarmung. Christina betritt zaghaft das ehemalige Reich von Käthi. Wir geniessen ein erstes Milchkafi auf dem Sitzplatz. Kurz nach Mittag kochen wir zusammen. Sie führt Regie und ich suche die Küchenutensilien. Wir machen einen Auberginen-Auflauf, überbacken mit Käse, unterlegt mit selbstgemachtem Tomaten-Sugo, dazu gibts Risotto, Saltimbocca mit frischen Salbeiblättern und ein Glas Schinznacher Weisswein. Nach dem herrlichen Menü sitzen wir stundenlang am Dorfbach im Halbschatten und diskutieren pausenlos. Gegen Abend will sie heimkehren. Wir fühlen so viele Gemeinsamkeiten und eine grosse Zuneigung …
Christina sucht sich einen Platz in Käthis Reich
Hier schliesse ich das Tagebuch. Ich kürze ab. Franz und Christina sind heute ein Paar. Der Briefkasten in der Wynentaler Gemeinde trägt wieder zwei Namen. Die Märchenerzählerin hat ihre grosse Bibliothek gezügelt und sucht sich nun ihren Platz im Reich, das einst Käthi gehörte. Im Reich, das Franz sich zurückerobert hat. Im Reich, wo Lust und Liebe Einzug gehalten haben. Im Haus, wo nun prächtige Uhren ticken, neue Bilder hängen und die Gartenbahn-Sammlung mit den edlen Loks und den prächtigen Wagen ihre Vitrinen erhalten haben.
Franz hat sein Käthi verloren, kurz nachdem er fast gestorben wäre. Das war der Anfang des Märchens. Wie könnte nun der Schluss lauten? «Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute glücklich und zufrieden im Haus am Bach, wo die Trauerweide Schatten spendet und die Gartenbahn, wie von Zauberhand geführt, ihre Runden dreht.
Text: Martin Schuppli, Fotos: Peter Lauth
Selbsthilfegruppen, die Trauernden beistehen.
Hier finden Sie eine Übersicht