Da ist die frühere Marathonläuferin, Deborah Balz, die jahrelang als psychisch krank abgestempelt wird. Deren Muskeln sich immer mehr versteifen, während ihr die Ärzte sagen, sie könne schon, wenn sie wolle. Ihre Gangstörung – nichts als ein psychisches Problem.
Da ist der junge Mann, Max Merker, der seit Geburt Wunden am Hinterkopf hat, dem die Brustwarzen fehlen und dessen Ohren entstellt sind. Als Kind wird er immer wieder ohnmächtig, hat unerklärbare Kopfschmerzen und erhöhte Nierenwerte. Auch bei ihm probieren die Ärzte verschiedene Medikamente aus. Einige raten ihm, mehr Wasser zu trinken. Erst im Rahmen seiner Maturaarbeit bekommt er von der Stiftung für Menschen mit seltenen Krankheiten die Möglichkeit, eine molekulargenetische Untersuchung zu machen. Dabei kommt heraus: Er hat – bekanntlich als einziger in der Schweiz – das sogenannte SEN-Syndrom (Scalp-Ear-Nipple Syndrome). Endlich erhält er eine Therapie, die hilft, sowie die Möglichkeit, eine Familienplanung vorzunehmen mit Nachkommen, die von der Krankheit nicht betroffen sind. Auch die frühere Marathonläuferin erhält Hilfe beim Genetikzentrum der Stiftung für Menschen mit seltenen Krankheiten.
Dort findet man den Grund für ihre Muskelschwäche: Deborah Balz hat eine genetisch bedingte Muskelkrankheit namens Myotonia congenita. «Für viele Leute ist die Diagnose eine grosse Erleichterung – selbst wenn für ihre Krankheit (noch) keine Behandlung existiert. Die richtige Diagnose ist die Voraussetzung», sagt Caroline Henggeler, stellvertretende Leiterin des Genetikzentrums und Stiftungsrätin. Hinzu kommt: Eine gesicherte Diagnose ist wichtig für den Anspruch auf eine allfällige IV-Leistung.
Ins Genetikzentrum der Stiftung nach Schlieren kommen Patienten, die nicht mehr ertragen, nicht zu wissen, was mit ihnen los ist. Die, wie die beiden oben erwähnten Personen, jahrelange «Diagnose-Odysseen» hinter sich haben, von Arzt zu Arzt gereicht wurden.
Suche nach der Nadel im Heuhaufen
Das Genetikzentrum der Stiftung nimmt laut Henggeler eine Pionierrolle ein: Es ist schweizweit das erste und einzige Zentrum, welches auf die molekulare Gendiagnostik und die Erforschung genetisch bedingter seltener Krankheiten, insbesondere Aortenkrankheiten, spezialisiert ist. Seit 2015 führt dieses die sogenannte Ganzgenomsequenzierung durch: Hierbei wird die komplette DNA eines Patienten sequenziert und die Daten mit einem sogenannten Referenzgenom verglichen. Pro Individuum ergeben sich dabei rund vier Millionen Sequenzvarianten – «unser genetischer Fingerabdruck», sagt Henggeler – aus denen dann jene Variante herausgefiltert werden muss, welche tatsächlich für die beim Patienten vorliegende Krankheit ursächlich ist. Es ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen, welche mehrere Mitarbeiter des Zentrums meist über Monate beschäftigt.
Caroline Henggeler, Spezialistin für medizinische Genetik, erklärt es auch so: «Der Zellkern ist wie eine grosse Bibliothek, bestehend aus rund 25’000 Büchern. Bei genetisch bedingten seltenen Krankheiten gibt es in einem dieser Bücher einen Tippfehler, der die Bedeutung eines ganzen Buches komplett entstellt. Diesen Fehler müssen wir finden.»
Das menschliche Erbgut besteht also aus rund 25’000 Genen. «Aber erst bei der Hälfte dieser Gene wissen wir zum heutigen Zeitpunkt Bescheid darüber, welche Funktion sie haben», sagt Henggeler. Das bedeute, dass mit dem derzeit verfügbaren Wissen nur bei rund der Hälfte der Fälle der sogenannte «diagnostische Endpunkt» erreicht werden könne.
Die meisten Patienten werden dem Team um Henggeler und Gabor Matyas, Spezialist für medizinische Genetik und Leiter der Stiftung und des Genetikzentrums, von Kardiologen, Herzchirurgen und Hausärzten zugewiesen. Manchmal ist jemand in der Familie bereits früh an einer Aortenruptur verstorben. So sind die Abklärungen beim Genetikzentrum nicht nur für eine rechtzeitige Intervention und Therapie von Betroffenen, sondern auch für deren Familienmitglieder wichtig, die von derselben Krankheit betroffen sein könnten, sagt Henggeler.
In der Schweiz ist rund eine halbe Million Menschen von einer seltenen Krankheit betroffen. Pro Jahr kann das Genetikzentrum aufgrund der beschränkten Ressourcen rund 150 neue Fälle annehmen. Mindestens sechs bis zwölf Monate dauert die genetische Untersuchung. Die Suche nach der krankheitsverursachenden Mutation kann aber je nach Wissenstand auch Jahre dauern.
Nur in den wenigsten Fällen gibt es eine Therapie
Ist diese einmal entdeckt, gibt es aber nur in den wenigsten Fällen eine Therapie dafür. Henggeler erinnert sich an den Fall eines damals 12-jährigen Kindes, das seit Geburt unter zu engen Gefässen und einer zu engen Speise- und Luftröhre leidet. «Nach jeder Operation gab es Komplikationen. Kein Arzt wollte das Kind noch weiter behandeln. Wir konnten den Fall innerhalb von drei Monaten lösen», sagt Henggeler. Das Mädchen leidet unter dem Myhre-Syndrom. Auch für diese Krankheit gibt es zurzeit keine Therapie. «Genetische Krankheiten lassen sich noch nicht heilen. Jede einzelne Zelle im Körper hat diesen Defekt.» Aufgrund der richtigen Diagnose habe man aber gewusst, was bei diesem Mädchen nun vermieden werden müsse, und sie konnte in eine bereits laufende klinische Studie mit Myhre-Patienten integriert werden.
Viele der Patientinnen und Patienten betreut das Genetikzentrum langfristig. «Das Gesundheitssystem ist mit diesen komplexen Fällen überfordert. Mit unseren schweizweit einzigartigen Tätigkeiten schliessen wir eine Lücke», sagt Henggeler. Auch übernimmt die Stiftung teils die Kosten, welche von der Krankenkasse nicht übernommen werden. Der Pflichtteil für eine genetische Untersuchung belaufe sich auf rund 5500 Franken, wobei die Krankenkassen diese Leistung nicht oder nur nach administrativem Aufwand übernehme. So muss die Stiftung teilweise den Rechtsweg beschreiten, um den Patientinnen und Patienten zu deren Recht zu verhelfen. «Wir versuchen, uns auf allen Ebenen für unsere Patienten einzusetzen.»
So ist das Genetikzentrum der gemeinnützigen Stiftung für Menschen mit seltenen Krankheiten auf Spenden und Legate angewiesen.
«Genetik ist die Zukunft der Medizin»
Dass sie für ihre Arbeit stets auch Geld eintreiben müssten, zehre an ihnen. So schreiben die Spezialisten für medizinische Genetik in ihrer Freizeit Gönnerstiftungen an, um die benötigte Unterstützung zu erhalten. Sie beantworten auch E-mails und Briefe von Betroffenen und Ratsuchenden.
Für Henggeler ist klar: «Genetik ist die Zukunft der Medizin.» Aber noch sei das Gesundheitssystem nicht parat dafür. Henggeler kritisiert auch die Pharmaindustrie, die auf dem Rücken von Patienten Profit schlägt aus Medikamenten, die von sehr wenigen Menschen dringend gebraucht würden, wie etwa Zolgensma von Novartis, mit zwei Millionen Franken das teuerste Medikament der Welt.
Trotz aller Widrigkeiten gibt Henggeler nicht auf. «Die Leidenschaft für die Arbeit und das Wissen, Leuten helfen zu können, treibt uns an», sagt die medizinische Genetikerin.