Er kam in Japan zur Welt der Heinz Waser aus Seengen AG. An einem Sonntag. Genau am 2. Juni 1929 in Fukushima. Viele, viele Jahre vor der Nuklearkatastrophe. Sein Vater, ein Schweizer Jurist, unterrichtete an der dortigen Universität Deutsch und heiratete eine japanische Witwe. Sie brachte die vierjährige Tochter Emiko mit in die Ehe. Dieses Kind, die Halbschwester von Heinz, starb 18-jährig, in der Schweiz an Tuberkulose. Damals war Heinz Waser 14 Jahre alt. Zwei Jahre vorher erkrankte der Bub an einer Hirnhaut-Entzündung. «Ich verlor das Gedächtnis, sollte ins Gymnasium. Mit Hilfe eines Göttis, der Chefarzt im Zürcher Kinderspital war, pflegte man mich gesund.»
Heinz Waser sagt von sich: «Als Mensch wurde ich erzogen in zwei unterschiedlichen Religionen. Mit vier Jahren im Westen angekommen und geschult, machte ich meine Jugenderfahrung als so genannter ‹Heide›, als Halbblut. Halb Europäer, halb Japaner.» Heinz Waser sieht man die japanische Mutter an. Seine Augen sind weniger rund, als die des Autors. Wasers Haare sind dicht, seine Stirn hoch, der Scheitel gerade.
Als Buddhist erzogen, als Protestant getauft
«Als Bub habe ich besonders gelitten unter den Lehren der Religion. Meine Mutter als reine Buddhistin und Ikebana-Meisterin, damals galten noch die alten Klassierungen, wurde hier in der Schweiz lediglich als Exotin akzeptiert. Als wahre Buddhistin konnte sie jede Denkrichtung akzeptieren, denn der Buddhismus kennt keine Mission. Selbstverständlich musste ich getauft werden. Und zwar als Protestant. Ich gehöre noch heute der reformierten Kirche an, allerdings nur als Steuerzahler, denn die Kirche tut sehr viel Gutes. Gutes tun ist immer noch ein Fundament aller Lehren.»
Wasers Lebensschule begann mit 16 Jahren. «Nach der Scheidung meiner Eltern, 1945, musste ich auf Weisung des zürcherischen Sozialamtes den Unterhalt unsere Familie übernehmen, primär für meine Mutter. Da ich mich unschuldig fühlte, empfand ich diesen Beschluss als fundamentale Ungerechtigkeit. Mein Leben schien zerstört.»
Leben endet mit Tod – nicht durch Enttäuschung
Ein befreundeter Arzt aus der Schule des Urwald-Doktors Albert Schweitzer öffnete dem jungen Mann die Augen. Er sagte: «Wenn man nicht einmal den Allernächsten lieben kann in seiner Not, wie will man dann überhaupt etwas ausser sich selbst lieben?» Für Heinz Waser war das Leben nicht beendet, nur weil es schwieriger wurde. Heute sagt er: «Jede Schwierigkeit ist eine neue Schulung, weiterbestehen zu können. So wird man lebensfähig, denn das Leben ist und bleibt ein Kampf gegen seinen Untergang, aber es endet mit dem Tod und nicht durch Enttäuschung.»
Im Lebenslauf finden Interessierte folgende Zeilen: Auf harten Umwegen wurde ich Architekt. Feierte internationale Erfolge. In eindrücklichen Worten erklärt Waser, was er an diesem Beruf so spannend fand: «Mich faszinierte vor allem das Imaginieren, das sich vorstellen, in Zeit, Raum und Technik. Zudem interessierte mich die Malerei schon als Kind. Malen ist das Imaginieren in Form, Farbe und Fläche. Später kam noch das philosophische Denken dazu. Philosophie ist das Imaginieren wie alles war, wie alles ist und alles sein könnte.
Für den Architekten, Kunstmaler und Philosophen ist dieses Denken unweigerlich mit Religion verbunden, mit dem Imaginieren, der Vorstellung wie unser Verhältnis zum vorgegebenen Gott der jeweiligen Lehre ist und sein sollte. Heinz Waser sagt: «Mit jedem Denken fängt jedoch eine Veränderung an, je länger, je fundierter. Schon die Geschichte der Philosophie beweist eine stete Veränderung des Denkens und damit eine Evolution der Erkenntnisse.»
Im Universum geht nichts verloren
So geschah es mit Heinz Waser. Er schrieb einen längeren Bericht an Autor Martin Schuppli. Ein Auszug:
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«Veränderung ist eben ein wenig Sterben und ein wenig Geburt. Unser Leben verläuft nach diesem Schema der Natur, auch wenn der Mensch behauptet, die rohe Natur beherrschen zu können. Beim Sterben nützt jedes Wissen und jede Intelligenz nichts, alles Lebendige muss es erleiden. Der finale Trost kann nur sein, dass im Universum nichts verloren geht, sich alles aber stetig verändert. Die europäische Erziehung zur autonomen Person als ein eigenständiges Ego ist leider wenig hilfreich.
Je länger je mehr ist mir die Diskrepanz aufgefallen zwischen dem starren Denken jeder Lehre zu den Erkenntnissen der modernen Physik und der Evolutionstheorien. Basierend auf Schriften oder gar Büchern wird jede Lehre unflexibel und behauptet ihre Thesen aus sich selber heraus. Zudem wird «sein» Gott, ein nur in «seiner» Lehre absoluter Gott. Gott als unbeschreiblicher Begriff der Allmacht wird zum einfältigen Politikum degradiert. Aus diesem Anspruch heraus ergeben Streitereien bis hin zu Kriegen.
Im Buddhismus gibt es keinen Sündenfall
Der Buddhismus kennt keinen personifizierten Gott, sondern nur Ursprung, Gegenwart und Zukunft als Erscheinung einer göttlichen Kraft. Im Shintoismus finden sich die «Götter» in Erscheinungen der Natur analog unseren Heiligen. Für westliches religiöses Denken sind das Götzen. Sie werden als Helfer angebetet. Die Allmacht als göttliche Quelle kann auf keine Weise zur persönlichen Hilfe angegangen werden, wie es in den monotheistischen Religionen der Fall ist. Also in den Religionen bzw. philosophischen Lehren, die einen allumfassenden Gott als Schöpfer, Vater und Richter kennen und anerkennen. Im Buddhismus gibt es keinen Sündenfall, keine Sünde und schon gar keine Erbsünde.
Fundament jeder Religion ist eine heilige Schrift, also eine geschriebene Grundlage basierend auf dem Wort und auf einer zeitgemässen Sprache. Darin wird den Gläubigen vorgeschrieben, was als Grundlage ihres Denkens und Handelns vorgegeben ist. Doch eine linear logische Sprache genügt als Denkgrundlage heute kaum mehr. Das bewies der deutsche Philosophen Ludwig Wittgenstein. Er beschränkte die Aussagekraft eines Wortes auf dessen Gebrauch in der Sprache, angewendet als Beschreibung und nicht als Erklärung. Damit ist der Ansatz: «Am Anfang war das Wort» ungenügend. Für mich ist er gar falsch.
Am Anfang steht die Wahrnehmung
In diesen Unendlichkeiten von Raum und Zeit steht am Anfang nicht das Wort, sondern die Wahrnehmung. Denn gemäss Quantenphysik wird ein Teilchen erst existent, wenn man hinsieht. Dieses Teilchen kann aber ebenso irgendwo anders sein. Als Zwillingsteilchen anderswo, doch analog reagierend. Das ist die so genannten Verschränkung. Ihre Position und den Impuls gleichzeitig exakt zu bestimmen, ist unmöglich. Es bleibt immer eine «Unschärfe», die so genannte Unschärfenrelation.
Unsere Wahrnehmung in Worte gefasst, ist daher ebenso wenig exakt. Das Wort am Anfang ist ungenau, mehrdeutig. Je nach Zeit und Sprache, nach ausgelegter Tatsachen zur Verständigung unter Menschen kann der Sinn sich verändern; mit dem Duden beispielsweise wird der zeitgemässe Sinn eines Wortes vereinbart. Dazu kommt noch das rein persönliche Verständnis eines Wortes gemäss eigener Erfahrung. Nur was man wahrgenommen hat, ist existent.
Die Umwelt formt die eigene Wahrnehmung
Da jeder Mensch sein eigenes Weltbild aus eigener Erfahrung, aus eigener Wahrnehmung in sich trägt, versucht er sich durch die Sprache zu positionieren. Dabei wird über Erziehung, Sitte, Lehre und Erfahrung ein aktueller so genannter «Mainstream» massgebend. Die eigene Wahrnehmung wird laufend durch die Umwelt geformt. So wie sich Fauna und Flora anpassen, so passt sich der Mensch der sich ständig verändernden Welt an. Die Lehren der Zeit zu verstehen, basiert auf Erfahrung, denn nichts formt den Menschen stärker als eine böse Erfahrung. Nichts deprimiert ihn mehr als Hoffnungslosigkeit auf Verbesserung. Wahrnehmung und Erfahrung sind Kompasse unseres Verhaltens durch Wissen. Ein Trost, dass das alles nach dem Tod nicht mehr zählt. Laotse sagte: Der Tod ist die Rückkehr zu seinen Wurzeln, die Rückkehr bedeutet Stille/Ruhe und Frieden.
Stille bedeutet ebenso Leere. Leere wird aber nicht als Nichts definiert, sondern als Wert.
Die Parabel vom Wert eines Kruges illustriert dies anschaulich: ein Krug ist nicht wertvoll, weil er aus Gold ist oder von einem berühmten Künstler gefertigt wurde. Nein, ein Krug ist wertvoll, weil er leer ist. Leere wiederum kann man füllen oder leeren. Leere ist also aktives Nichts.
Gott ist das Unaussprechliche
Es gibt den Spruch: wenn Gott alles erschaffen hat, dann hat er auch den Teufel erschaffen.
Dieses Prinzip vom Gegenteil einer Urkraft, dieses Grundprinzip von zwei Polen als Gegensatz ist ebenso im fernöstlichen Denken verankert. Gut und Böse. Mann und Frau. Yin und Yang. Damit etwas geboren wird, benötigt man zwei Kräfte/Ursprünge. Teilchen und Welle, Raum und Zeit, Hell und Dunkel. Es sind natürliche Kräfte, die das erschaffen, erhalten oder zerstören. Aber ganz wesentlich ist dabei, dass es im fernöstliche Glauben und Denken keinen personifizierten Gott gibt; Gott ist das Unaussprechliche oder mit Wittgenstein: «was man nicht sagen kann, darüber soll man schweigen».
Somit gibt es kein seeliges Pendant zur Erde als ein allzeit glückliches Paradies, es gibt demnach keine Vertreibung und keine Erbsünde. Den Begriff einer Schuld durch Sünde ist ebenso unbekannt; Schuld hat jemand durch Verstoss gegen die Gesetze, gegen die Regeln von Moral und Ethik.
Buddha hat seine gesellschaftliche Position aufgegeben, um in Armut zu leben. Sein Anliegen war nie, eine Glaubensgemeinschaft zu gründen. Das wollte übrigens auch der Jude Jesus nicht. Buddha wollte Lehrer sein und betonte stets, «jeder Mensch ist Buddha».
Der Weg ist das Ziel
Buddhas fundamentale Regel heisst, «das Leben ist Leiden und aus diesem Leiden kann man sich nur durch sein Verhalten befreien. Daher ist sein gewählter Weg das Ziel ohne Vorgabe eines Zieles. Im so genannten «Kōan» lernt der Schüler die logisch unlösbaren Gegensätze zu akzeptieren. Denn es gibt Ereignisse, die logischerweise unerklärlich bleiben für uns Menschen (siehe «Verschränkung»).
Der Buddhismus hat sich aufgeteilt in eine südliche und eine nördliche Schule. Die südliche Schule hat die «politische» Hierarchie eingeführt, etwa den Dalaiismus. Diese Hierarchie hat Buddha abgelehnt. Die nördliche Schule betrifft China, Korea und Japan. In China hat sich der Buddhismus wesentlich entwickelt zu einer neuen Denkweise; in Japan war es die Schule des Zen.
Starken Einfluss auf die weitere Entwicklung des nördlichen Buddhismus haben verschiedene Denker von Format wie Han Fe Dsi (230 v. Chr.), Si- Ma Tsiens (✝120) und vor allem Tschuangtse (4. Jh). Im Buch der Wandlungen, bekannt als I-Ging, waren bereits grundlegende Erweiterungen im Denken festgehalten.
Tao wird zum fundamentalen Begriff des Denkens
Aufbauend auf dieser Grundlage hat der bedeutendste Denker Lao-tse seine Schrift Tao-te-king abgefasst. Fachleute gehen davon aus, dass er im 7. Jh. v. Chr. lebte. Der Begriff des Tao wird zu einem fundamentalen Ausgangspunkt des Denkens.
Durch die Ungenauigkeit des Wortes kann das chinesische Wort Tao sowohl Weg bedeuten, wie auch Sinn. In der chinesischen Sprache kann Tao sowohl Weg bedeuten oder Sinn. Die verbale Bedeutung heisst beispielsweise reden, sagen und leiten. Das aus verschiedenen Schriftzeichen zusammensetzbaren chinesischen Schriftzeichen ermöglichen das Festhalten eines Begriffes durch eine Art algebraisches Symbol zur Präzisierung der Sprache.
Bei Goethes Faust war am Anfang der Sinn
Richard Wilhelm, Pionier der Buddhismus-Forschung, übersetzt Tao mit «Sinn». Damit nimm er Bezug auf Goethes Faust. Dort heisst es: «Am Anfang war der Sinn». Dies als Übersetzung der Anfangsworte zum Johannes-Evangelium. Bei Tao-te-king heisst es «Das Buch vom Sinn und Leben».
Dieses Denken hat den japanischen Zen-Buddhismus stark geprägt. Auch mein Denken findet hier Analogien zu den Erkenntnissen der modernen Quantenphysik, weit mehr als im starren Weltbild geltender Religionen. Trotzdem bin ich kein Zen Meister und will es nicht werden, denn die fernöstlichen Lehren sind ebenfalls aus einer anderen Zeit und bedürfen meiner Meinung nach der Anpassung.»
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Mit diesem ausführlichen Schreiben, wollte es Heinz Waser dem Autor ermöglichen, gezielte Fragen zu stellen.
Der Autor lässt diese Fragen offen. Die spannende Abhandlung zum Buddhismus, zu den Religionen bedarf meiner Meinung nach keiner weiteren Fragen. Es sei denn, Sie liebe Leserin, lieber Leser möchten sie Heinz Waser stellen. Schreiben Sie ihm. support@deinadieu.ch
Text: Heinz Waser, Bearbeitung: Martin Schuppli, Foto: Daniela Friedli
Heinz Waser malte zeitlebens
Heinz Waser kann gut Geschichten erzählen und er schaffte es ebenfalls, seine Geschichten zu malen. Das Malen begleitet den heute 88-jährigen ein ganzes Leben. In der Funktion des jungen Architekten profilierte er sich als Schnellzeichner. Als Kunstmaler schuf er Panta-Rhei-Bilder (fliessende Werke), Tuschzeichnungen, Linolschnitte und so genannte Shoji-Bilder.
Diese Art Bilder zieren in Japan die Schiebetüren von Palästen und Tempeln. Die Geschichten sind auf goldenen Grund der Schiebeelemente mit Tusch gemalt. «Diese Idee faszinierte mich», sagt Heinz Waser. «So unterteilte ich einige Bilder mit einem goldenen Streifen und erzählte darauf eine Geschichte. Oft handelt sie von sich und seiner Familie oder von den Gegensätzen zwischen Ost und West. Bäume spielen ebenfalls eine grosse Rolle. Vor seiner letzten grossen Ausstellung im November 2013 sagte er zur Aargauer-Zeitung: «Für mich ist der Baum ein Lebenssymbol. Ich selber sehe mich jetzt als ein alter Baum, dessen Kraft langsam schwindet.»
3 Antworten auf „Heinz Waser: Halbblut zwischen den Kulturen“
Danke lieber Heinz Waser. Und Grizzlybärendrücker zum Geburtstag.
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag
Hallo,
weiss jemand ob Heinz uns verlassen hat oder noch lebt?
Danke.
Christiane aus Luxemburg