Und plötzlich war alles anders.
Herbert Müller, 63, wohnt seit 28 Jahren in London. Wir wuchsen im selben Dorf auf, besuchten zusammen die Schulen. Später sahen wir uns nur noch sporadisch. Mitte November 2018 schrieb er: ((…)) Mir wurde im Mai 2017 ein Nierenversagen diagnostiziert. Seither hänge ich jede Nacht an der Dialyse-Maschine. Es bedeutet, ich gehe früh ins Bett, damit ich morgens einigermassen zeitig aufstehen kann. Die Dialyse dauert acht bis neun Stunden. Zusätzlich brauche ich eine Stunde Vorbereitung sowie rund eine Stunde zum «abnabeln» und aufräumen. ((…))
Wow. Ich muss wohl leer geschluckt haben. Mir wurde sofort klar, mein Freund braucht früher oder später eine neue Niere. Er ist also auf ein Spenderorgan angewiesen. Es waren gemischte Gefühle, die mich auf der Reise zu ihm nach London begleiteten.
Lange hatten wir uns nicht gesehen. Herberts Haare waren einst blond. Heute sind sie weiss. Das schelmische Lachen ist ihm geblieben. Und so erzählt er mir in entspannter Atmosphäre, wie ihm geschah.
«Es war im Mai 2017. Wir lebten in einem fünfstöckigen Haus, nahe der City of London. Ich bemerkte damals, wie mir die Luft ausging, wenn ich die Treppen hochstieg. Das gefiel meiner Partnerin nicht, und so liess ich beim Arzt einen Bluttest machen. Nachts um eins schellte das Telefon. Ein Laborangestellter sagte, ich sei ein Notfall. Mehr nicht. Und so schlief ich weiter. Nach einem gemütlichen Frühstück bestieg ich den Bus und fuhr zum University College London Hospital UCLH. Dort meldete ich mich in der Notfallabteilung. Ich wusste, etwas stimmt nicht. Mir fehlte die Luft, obwohl ich sehr tief einatmen konnte.»
30 Jahre unverheiratetes Zusammenleben im Spital gefeiert
Was nicht stimmte, war die Leistung von Herberts Nieren. Mein Freund klärte mich auf: «Die Nieren produzieren EPO, und das wiederum stimuliert die Produktion roter Blutkörperchen. Davon hatte ich 76 Einheiten. 120 bis 160 wären normal.» Er lacht und sagt: «Unter 80 wirds lebensgefährlich. Darum wurde dann aus ambulant stationär. Mir wiesen sie ein Bett zu in einem Viererschlag der Notfallabteilung. Meine Zimmerkollegen: Alkis, Randständige, Drögeler. Einer wollte Zigis von mir.»
Statt 30 Jahre unverheiratetes Zusammensein zu feiern, brachte Caroline ihrem Schatz Kleider, Toilettenartikel und anderes ins Spital. «Ich nahm doch keinen Koffer mit in den Bus. Hätte nie gedacht, gleich drei Wochen bleiben zu müssen.»
Wieder musste der Kranke einige Bluttests über sich ergehen lassen. «Gegen fünf Wochen lag ich in zwei verschiedenen Spitälern», sagt mein Freund. «Im Royal Free Hospital, einer Spezialklinik für Patienten wie mich, drehte sich alles um meine Nieren. Chefarzt, Dr. Gareth Jones erklärte mir, warum er eine Biopsie benötige. Tage später kehrte er zurück. Alleine, ohne Entourage. Er zog den Vorhang, sagte, es sei dramatischer, als er gedachte habe. Meine Nieren würden noch zu fünf Prozent funktionieren. Ich fluchte. Echt schweizerisch. Derb. Laut. Und entschuldigte mich sofort. Der Arzt lachte. Sagte: ‹Kein Problem›. Dann erklärte mir der Chefarzt die verschiedenen Dialysesysteme. Sagte mir, dass ich mit nächtlicher Dialyse auch ohne Transplantation noch circa fünf bis zehn Jahre leben könne.»
Einige Tage später starteten Arzt und Patient das Projekt Peritonealdialyse. Bei der so genannten Bauchfelldialyse wird regelmässig Dialysat, eine Spülflüssigkeit, via Katheter in die Bauchhöhle eingebracht. Das Ablassen des Dialysats entzieht dem Körper Flüssigkeit und entfernt Giftstoffe.
Peritonealdialyse-Training für Nierenpatienten
«Damit diese Methode funktioniert, brauchts einen Port im Bauch. Und um den setzen zu können, macht der Chirurg ein Loch ich die Bauchdecke und ‹steckt› einen Schlauch von circa sechs Milimeter Durchmesser rein. Sechs Wochen dauerte dann das Abheilen. Leider lief etwas schief. Grausame Schmerzen plagten mich. Ich biss auf die Zähne. Das System funktionierte nicht. Ich litt nächtelang. Erst ein Röntgenbild zeigte auf, wie sich alles verschoben hatte. Die neue Operation verlief erfolgreich. Schmerzen verspürte ich immer noch.
Bis alle Wunden verheilt waren, lag Nierenpatient Herbert fünf Wochen im Spital. «Ich war dure und fühlte mich ständig müde. Mir waren notfallmässig zwei Katheter gelegt worden, vom Schlüsselbein direkt ins Herz. Weil die erwähnten Vorbereitungen für die Peritonale Dialyse zuerst nicht funktionierten und sich die Blutwerte rapide verschlechterten, musste eben diese Notmassnahme eingesetzt werden.»
Der Nierenpatient setzt alle 14 Tage 250 Kilo Material um
Nach dem Spitalaufenthalt war Training angesagt. Eine Woche verbrachte mein Freund beim Lieferanten seiner Anlage. «Ich musste so agieren, wie wenn die Maschine da wäre. Musste die Abläufe lernen, die korrekte Handhabung.» Mittrainieren muss ebenfalls Caroline. «Ohne Partner, respektive ohne Partnerin, ist es nahezu unmöglich, die Peritonealdialyse zu Hause durchzuführen.»
Ich stelle mir vor, mit welchem Aufwand Herbert die konsequente Entgiftung seines Körpers durchführen muss. Mein Freund nickt. «Reisen ist praktisch unmöglich. Nicht wegen der Maschine. Nein. Wegen der Tatsache, dass ich für jede Nacht mindestens 15 Kilo Flüssigkeit bereitstellen muss. Das heisst, ich erhalte alle 14 Tage gegen 250 Kilo Material angeliefert – auf einer Palette.»
Essen mit wenig Salz sowie ohne Phosphat und Kalium
Ebenfalls einschneidend ist die konsequente Diät. Herbert und Caroline essen zu Hause praktisch salzlos. «Mein Kaliumspiegel muss tief bleiben, und Phosphat sollte ich so wenig wie möglich zu mir nehmen. Drum muss ich während des Essens Pillen schlucken, um das Phosphat zu binden und auszuscheiden. Überhaupt, ich werfe eine Menge Pillen ein.»
Geändert hat sich ebenso der Lebensrhythmus des ehemaligen Bankers und heutigen Möbelschreiners. «Ich muss acht bis neun Stunden an der Kiste hängen. Die Vorbereitungen der nächtlichen Dialyse dauern zudem noch 30 bis 45 Minuten. Dann lege ich Schläuche, stecke sie zusammen. Nachts tickt die Maschine vor sich hin. Gibt saugende Geräusche von sich. Meist sinke ich erst in den tiefen, erholsamen Schlaf, wenn sich die Maschine abgestellt hat.»
Das Leiden meines Freundes ist lebensbedrohlich. Ich frage: «Wie gehst du, wie geht dein Umfeld, wie gehen deine Partnerin, deine Freunde damit um? Was sind die Prognosen?» Wir schauen uns an. Herbert lächelt: «Ich mache kein Drama draus. Rede darüber, wenn es sein soll.» Er macht eine kurze Pause. «Carolines Grosskinder weinten, sie sind vier und sechs Jahre alt. Dann wurden sie neugierig. Sie wollten den Schlauch berühren und das Loch im Bauch sehen. Manchmal fragen sie mich, wie es dem Bauch gehe.»
Das Nierenleiden sei Teil seines Lebens. «Ob es nun Leiden oder Krankheit genannt wird, ist wohl eine Definitionsfrage», sagt Herbert.
Erste Transplantation klappte nicht
Einen Platz auf der Warteliste für Organempfänger erhielt mein Freund sehr schnell. «Vor knapp einem Jahr, Anfangs Januar 2018, wurde ich gegen Mitternacht vom Spital aufgeboten, eine potentieller Spender sei verfügbar.» Dann passierte etwas, das nicht passieren sollte. Jemand stellte beim hirntoten Geber die Maschine ab.
Der «Doner» starb umgehend. Somit war die Transplantation unmöglich. «Caroline war sackhässig, mich berührte das nicht», sagt Herbert. «Was sollte ich tun? Was nützt mir ein hoher Blutdruck, wenn ich mich ärgere. Der Arzt entschuldigte sich, obwohl nicht er es war, dem das Missgeschick passierte.»
Wir reden über Organspenden. Herbert versteht nicht, warum Menschen aus ethischen oder religiösen Gründen kein Organ spenden wollen. Er schüttelt den Kopf: «Die meisten mir bekannten Argumente sind meiner Ansicht nach fadenscheinig. Aber wenn jemand selbst kein Organ will, dann ist diese Art von Verweigerung für mich ok».»
«Seelenwanderung? Für mich ein Ammenmärchen»
Ich frage: «Hast du Angst vor dem Tod, vor dem sterben?» Mein Freund schüttelt den Kopf, «Ich bilde mir ein, ich hätte keine.» Sagts und lächelt mich an. «Ich hatte viel Zeit im Spital, um darüber nachzudenken.»
Für ein Ammenmärchen hält der Nierenkranke Aussagen wie, die Seele komme wieder. «Die Menschen müssen wohl an eine Art Zukunft glauben können, sonst halten sie die Angst, die Unsicherheit nicht aus.»
Auf die Frage: «Was machts mit dir, wenn du wüsstest, du würdest heute Nacht still, friedlich, ohne Schmerzen und Angst sterben?» Herbert Müller nickt: «Ich wollte noch einige Dinge machen, etwa mich von den Grosskindern verabschieden.»
Hat der 63-Jährige eine Ahnung, wohin unsere letzte Reise dereinst gehen wird? Fast fällt er mir ins Wort. Sagt. «Nichts da. Aus die Maus. Fertig. Alles andere wäre traumhaft, aber mir fehlts in diesem Bereich an Fantasie.»
Ich bedanke mich für das Gespräch. Frage, «was ist der Grund für deine Offenheit?» Er sagt: «Ich möchte ein Beispiel sein. Trotz Krankheit habe ich immer noch eine Lebensqualität, bin gerne in meiner Werkstatt. Geplant war, ich baute unsere Küche aus.» Er grinst: «Aber das will Caroline nicht. Sie sagt, ‹Was ist, wenns dich mitten im Projekt abtischt?›».
Text: Martin Schuppli, Fotos: Caroline Forbes
DeinAdieu berichtete mit verschiedenen Blogs über das Thema Organspende.
Bietet Informationen für Nierenkranke:
http://www.nierenpatienten.ch/
Organisiert in der Schweiz die Organspenden:
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Eine Antwort auf „Herbert Müller: «Nur fünf Prozent meiner Nieren funktionieren»“
Lieber Martin, das Bild, dass Du von mir zeichnest ist sehr positiv, was an einem guten Tag auch stimmt. Ehrlich gesagt, bin ich mir oft selber nicht ganz klar, was ich eigentlich fühle.
Zurzeit muss ich mich oft nachts übergeben, was zwar unangenehm, aber jedes Mal eine grosse Erleichterung ist. Danach schlafe ich jeweils sofort ein, eher seltsam, das Ganze. Andrerseits steht auf dem Beipackzettel der meisten meiner Medikamente: kann Übelkeit verursachen … En guete Rutsch mit Umärmel aus London. Herbert