Es war ein Freitag. Ende Mai 2016. Ein prächtiger Tag. In Wolfwil SO stand das Turnfest bevor. Die Mittellandmeisterschaft. Das Team in der Metzgerei von Hans und Iris Friedli in Kappel bei Olten hatte alle Hände voll zu tun. Im Laden bediente Iris Friedli die Kundschaft mit zwei Kolleginnen. In den Metzgereiräumen arbeitete Hans Friedli mit seinen Leuten. Eine davon war Renate, eine langjährige Angestellte und Mieterin in einer Wohnung ob der Metzgerei. Sie machte an diesem Tag Fackelspiessli für den Grill. «Wir kannten uns gut, waren Jahrgänger», sagt Hans Friedli. «Ich machte noch Sprüche, lobte sie. Sagte: ‹Renate, das war gute Arbeit, du hast einmal einen Grabstein aus Spiessli verdient›. Sie lachte. Eine lustige Frau war sie, konnte einem Paroli bieten.»
Iris Friedli nickt, sagt: «Renate war eine Gschaffige. In ihrer Freizeit hütete sie am liebsten Kinder. Es war eine grosse Leidenschaft. Ihre vier Buben waren damals schon erwachsen, der Jüngste 22 Jahre alt. Und sie nähte gerne. Viele Jahre schneiderte sie die Kostüme der Guggenmusik.»
«Niemand machte die Spiessli so exakt wie Renate. Alle waren sie gleich schwer. Perfekt», sagt Hans Friedli. «Sie arbeitete schon Jahre bei uns. Wir hatten sie alle sehr gern. Wir, die Arbeitskolleginnen und die Kundinnen, Kunden.»
400 Spiessli fürs Turnfest in Wolfwil
Die 400 Spiessli mussten um 18 Uhr auf dem Festplatz sein. Renate schaffte das mit links. «Ich lobte sie. Wir lachten, und ich packte die Kiste, stellte sie ins Auto», sagt Hans Friedli.
Renate begann, ihren Arbeitsplatz aufzuräumen. Sie brachte die Küche auf Vordermann, wusch Platten ab und bediente die Geschirrwaschmaschine. Im acht Kilometer entfernten Wolfwil lagen bereits die ersten Spiessli auf dem Grill. Das Verkaufsteam in der Metzg bediente die letzten Kunden. Ein gewöhnlicher Freitagabend im Mai.
«Wir waren am Aufräumen», sagt Iris Friedli, als Renate den Kopf in den Verkaufsraum streckte und rief: «Ich bin dann mal weg, gehe aufs WC.» Ich bin dann mal weg … Im Nachhinein dachte die Metzgersgattin, diese Worte hat Renate noch nie gebraucht. «Etwas später hörte ich, dass der Waschgang des Geschirrs beendigt war. Und nichts passierte. Ungewöhnlich. Renate hätte doch schon längst den Korb gewechselt, den nächsten Waschgang gestartet.» Aber nichts geschah.
Iris Friedli stellte den Wischmop in eine Ecke, zog die Handschuhe aus und öffnete die Tür zur Küche. Rief: «Renate». Nichts. Keine Antwort. Der Lehrling klopfte an die WC-Türe und Iris rief wieder: «Renate». Alles blieb stumm. Nur der Ventilator surrte, die Fliegenfalle summte. «Renate!» «Renate!». Alles blieb ruhig. Kein Lebenszeichen. Und die WC-Tür war verschlossen. Logisch. Von innen.
Renate sass leblos in der Toilette
Iris begann einen Vierkantschlüssel zu suchen. Der Stift griff sich irgendein Werkzeug, drehte das Schloss und probierte die Türe zu öffnen. Das gelang nur teilweise. Renate sass leblos auf der Schüssel. «Ich versuchte sie zu schütteln», sagt Iris Friedli. Fragte: ‹Brauchst du Hilfe? ›». In diesem Moment kehrte Hans Friedli zurück. Er hörte die Aufregung, sah, was geschehen ist. «Mit vereinten Kräften hängten wir die Tür aus und schafften Renate raus, legten sie auf den Boden.» Hans Friedli hält kurz inne. «Wir merkten, dass sie nicht mehr lebt. Ich begann mit einer Herzmassage, mit Mund- und Nasenatmung.» Iris meldete den Vorfall der 144-Alarmzentrale, telefonierte dem Hausarzt. «Der wohnt ganz nahe.»
Vorahnung? Die Wohnung war tipptopp aufgeräumt
«Ich bin dann mal weg», waren Renates letzten Worte. Die Söhne erzählten später, die Wohnung der Mutter sei total aufgeräumt gewesen. «Geputzt hat sie immer», sagt Iris Friedli, «aber es herrschte ein Chaos.» An diesem Freitag im Mai nicht. In der Wohnung stand alles dort, wo es hingehörte. Und noch etwas Erstaunliches berichtet Iris Friedli: «Sie drückte mir am Nachmittag einen Hunderter in die Hand und sagte: ‹Ich will meine Monatsrechnung bezahlen›. Dabei fehlte noch mehr als eine Woche bis zum 31. Sie beharrte darauf, dass ich das Geld nehmen würde.»
Hans Friedlis Bemühungen, Renate zu retten, waren vergeblich. «Als ich pumpte, hatte ich das Gefühl, sie röchle», sagt er. «Es war die Restluft, die aus der Lunge austrat. Ich hoffte, sie kommt wieder. Ich kniete am Boden, die anderen standen da. Wir alle waren hilflos, nervös.» Die Wiederbelebungsversuche der Feuerwehrmannen fruchteten ebenfalls nichts. Der Defibrillator meldete: «Keinen Kontakt».
Renate war dann mal weg. Tot. In Wolfwil landeten derweil die ersten Spiessli auf den Tellern hungriger Festbesucher.
«Ich war überzeugt, wir könnten sie wieder holen»
Der Arzt kam, untersuchte die stillgewordene Frau und schüttelte den Kopf. Sagte: «Aufhören.» Die Rettungssanitäter standen hilflos da, hielten Ausschau nach einem Lebenszeichen. «Sie wollten helfen. Wollten uns helfen», sagt Iris Friedli. «Ich hatte das Gefühl, ich sei gefasst. Es war wie in einem Film. Ich hoffte, es sei gar nicht wahr.» Hans Friedli: «Ich war überzeugt, wir könnten sie wieder holen. Als ich die Nasen-Mund-Beatmung machte, atmete ich einen Geschmack ein, den nie vergessen werde. Es war, wie wenn der Tod aus dem Mund kommt.» Er als Metzger wisse, wie der Tod eines Tieres rieche, sagt er. «Aber das ist etwas anderes.»
Und dann hätte er sich die Frage gestellt, was machten wir falsch? Der Arzt, die Rettungssanitäter beschwichtigen den aufgewühlten Mann und seine Frau. «Euch trifft keine Schuld», sagten die von der Ambulanz. «Ihr habt schnell reagiert. Etwas anderes konntet ihr nicht machen.»
«Konntet ihr das annehmen?», frage ich. «Wir arbeiteten weiter», sagt Iris Friedli. «Renate lag tot da, sie war zugedeckt, wir liefen an ihr vorbei. Der Schock war gross, so gross, dass wir uns abwenden mussten.»
Der Lehrling brach zusammen, weinte und wollte nicht, dass jemand ihm dabei zusieht. Er war es, der die Tote entdeckte. Die erste in seinem Leben. Für den Flüchtling aus Afghanistan, der ebenfalls in der Metzg arbeitete, war sofort klar: Sie ist tot. Hans Friedli: «Er sagte, er habe so viele Tote gesehen, er wisse, wie die aussehen».
Weil ein Oltner Bestatter zur selben Zeit die älteste Bewohnerin in die Aufbahrungshalle des Dorfes fuhr, war er rasch vor Ort. Er sargte Renate ein … und dann, dann war sie weg – für immer. Eine traurige Situation für Hans und Iris Friedli, für die Angestellten. Es war noch keine Stunde her, dass sie mit Renate geredet hatten, gelacht.
«Der Schock machte es möglich, so zu handeln», sagt Hans Friedli. «Erst als alles aufgeräumt war, lief der Film ab und mir, und uns, wurde bewusst, es ist endgültig.»
Am Samstag arbeiteten alle wieder. Die Kundschaft wusste Bescheid. «Wir mussten reden, Antwort geben», sagt Iris Friedli, «und das tat gut. Renate ist immer präsent. Wir reden noch oft über sie.» Eigentlich jeden Samstag. «Regelmässig brachte sie uns noch lauwarme Vogelnäschtli zum Dessert. Davon schwärmen wir noch heute. Sagen, jetzt kommt dann Renate.»
Wurde der Tod seither ein Thema? Hans Friedli: «Der Tod gehört zum Leben. Und er ist endgültig. Ich fürchte mich nicht davor. Vor Schmerzen habe ich keine Angst. Ich meine nicht, ich müsste noch Dinge unbedingt erledigen. Und Todesangst hatte ich noch nie.»
«Du lerntest, Tiere zu töten», sage ich.
«Genau», antwortet Hans Friedli. «Da studiert niemand. Das Töten von Tieren ist ein Prozess, um Fleisch zu gewinnen. Meine Aufgabe war, ein Tier human und respektvoll zu töten», sagt Hans Friedli. «Mir ist klar, heute muss niemand mit Schmerzen sterben. Ich meine, wer schlecht zwäg ist, soll gehen dürfen. Deshalb finde ich Sterbehilfeorganisationen eine Supereinrichtung.»
«Ich bin sicher, die Seele kommt wieder», sagt der Metzger.
«Was geschieht nachher?», frage ich Hans Friedli.
«Manchmal denke ich, ich sei schon einmal hier gewesen.» Er lässt seinen Blick durch den Garten schweifen. Sagt: «Ich weiss nicht, woher das kommt. Ob der Tod endgültig endgültig ist, kann ich nicht sagen. Ich hoffe, nein, ich bin überzeugt, die Seele kommt wieder. Mich dünkt, Renate ist noch präsent in unseren Räumen.» Er schaut seine Frau fragend an. «Iris, denke nur ich das?» Sie zuckt die Schultern. «Ich habe das weniger, denke nicht, sie sei da.» Sie lacht: «Das ist so in deiner Familie.»
Ich frage: «Ist Wiederkehren ein Thema, ist es ein Trost für Menschen, die dran glauben.» Hans lacht und sagt: «Wenn ich wiederkomme, hoffe ich, ich würde in der Schweiz geboren werden, wenns geht als Mensch.» Er findet, die Kirche verbreitete Angst, fordere auf, Busse zu tun, Reue zu zeigen. «Ich sage, wenn wir alle zehn Gebote einhalten würden, dann ginge es uns allen gut.» Was er täte, wenn er wüsste, er müsste bald gehen, will ich wissen: «Ich würde nicht viel ändern in meinen letzten Stunden, obwohl ich nicht alles geregelt habe», sagt er. Seine Frau schaut ihn fragend an. Er lacht. «Die Finanzen schon.»
Was gäbe es dann noch zu regeln, frage ich. «Wenn ich gestorben bin, will ich ein Fest. Ich meine, man muss das Leben leben und nicht den Tod.» Dann sagt er: «Ich habe es wie der verstorbene Glarner Politiker This Jenny. Der sagte kurz vor seinem Tod: Niemand sei so schlecht wie sein Ruf und niemand so gut wie sein Nachruf.» Hans Friedli sagt: «Ich will einmal nicht über den Klee gelobt werden.» Für ihn ist der Tod ein Bestandteil des Lebens. Er findet, «mein Leben soll nicht endlos verlängert werden.»
Das war ebenfalls bei der Mutter von Iris Friedli so. Die alte Dame lebte bis eine Woche vor ihrem Tod in der eigenen Wohnung. Dann musste sie ins Spital. «Die Ärzte konfrontierten uns, sie würde sterben. Wir liessen das zu. Im Bewusstsein, ganz ihrem Willen zu entsprechen», sagt Iris Friedli.
Sie hat ebenso keine Angst vor der letzten Stunde. Sagt: «Die, die ich kannte, starben auf eine schöne Art. Niemand musste lange leiden.» Sie schaut ihren Mann an. «Manchmal denke ich, wir kommen wieder. Manchmal meine ich, dann ist aus. Also dann ist aus die Maus. Als Vater starb, hatte ich zwei kleine Kinder und war der Meinung, er sei da und helfe mir.»
Fotos: Daniela Friedli, Text: Martin Schuppli
5 Antworten auf „«Ich bin dann mal weg», sagte Renate – und starb“
Diese Geschichte ist sehr berührend. Ich kann mir gut vorstellen, dass das Unterbewusstsein eine grosse Rolle spielt im „Merken“ wann der Zeitpunkt zu gehen da ist. Ich besuchte meinen Papa genau 2 Wochen bevor er starb. Gesund und vital war er mit 84 Jahren. Ich traf ihn sonst immer nur im Beisein der ganzen Familie. An jenem Samstag entschied ich aber alleine zu ihm zu fahren. Wir genossen die Zeit zu zweit, er hat so viel erzählt. Beim Tschüss sagen umarmte er mich länger und fester als sonst. „So schön dass du gekommen bist“ sagte er. 10 Tage später erlitt er einen schweren Herzinfakt und durfte 3 Tage später sterben. Wir alle konnten uns von ihm verabschieden. Das war eine schöne Erfahrung. Mein Mann und ich besuchten ihn noch an jenem Samstag im Spital – er wusste dass wir kommen – und 5 Minuten nachdem wir uns verabschiedet hatten ging er. Ich bin sicher, dass er noch auf uns gewartet hat. Danke ❤
Ich danke Ihnen liebe Gaby Berli-Meier für diese schöne Geschichte. Ihnen und Ihrer Familie wünsche ich alles Gute. Herzlich. Martin Schuppli, Autor DeinAdieu.
Ich glaube ja wir spüren es ich glaube sogar wir können erst loslassen und gehen wenn wir das innere JA geben.
Danke Martin für diesen Beitrag.
Danke für diese berührende Geschichte Martin.
Das Leben schreibt doch die schönsten Geschichten.
Bin mir ganz sicher das man spürt wen man geht..