Sie endete versöhnlich, die berührende Geschichte über meinen Freund und langjährigen Arbeitskollegen Ueli Hiltpold. Er sprach mit mir über sein «Leben mit Krebs und ohne Plan B». Zum Schluss sagte er: «Ich nehme es so, wie es kommt. Ohne viele Gedanken, aber mit der grossen Hoffnung auf den Jackpot.» Link zum Beitrag.
Nun, den Jackpot konnte Ueli (noch) nicht abheben. Aber das Leben nehmen, wie es kommt, das muss er. Ein schwieriges Leben. «Ich weiss nun, wie eklig langwierige Hormonbeschwerden sind», sagt mein Freund und verwirft die Hände. «Von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt wechselt meine Stimmung. Die Hochs lösen die Tiefs ab und umgekehrt. Und das täglich. Manchmal folgen gleich mehrere gute Tage aufeinander, manchmal reiht sich Scheisstag an Scheisstag.»
Wir sitzen im Seez-Delta am Walensee, braten St. Galler-Stumpen, trinken Zero-Ice-Tea und essen selbstgebackene Bürli. Der Wind ist verlässlich, er bläst den Rauch brav gen Südost. Drei langjährige Arbeitskollegen sinds, die sich zum Outdoor-Fototermin treffen. Eddy Risch aus dem Ländle schiesst die Bilder. Er schleppte sogar eine Blitzanlage ins Delta. «Und», sagt Ueli, «typisch Sportfotograf hat er einen Klappstuhl dabei sowie das Einbein-Stativ.» Wir lachen herzlich. Ich schlage mein Notizbuch auf.
Er kannte die Konsequenzen der Operation
Ueli, ganz ehrlich, wie geht es dir heute, will ich wissen. Er lacht. Sagt: «Es geht mir gut, obwohl alles unklar ist, und niemand weiss, wie es weitergeht. Damit umzugehen ist nicht immer leicht.» Du fühlst ein Unrecht? «Ja. Klar. Warum habe ich Nebenwirkungen, warum erlebe ich die lästigen Probleme mit den Hormonen?» Er schüttelt den Kopf, verschränkt die Arme. «Warum hat mich das Schicksal nicht wenigstens einmal ausgelassen? Dann verspürte ich die Schmerzen nicht, hätte die Probleme nicht.»
Ueli Hiltpold ist 62 Jahre alt. Vor zwei Jahren entdeckten die Onkologen bei ihm einen Prostatakrebs. Der Patient fackelte nicht lange, folgte dem Rat seines Arztes und liess sich die Vorsteherdrüse Tage später entfernen. Vollständig. Ein Jahr später musste er sich Bestrahlungstherapien unterziehen und wurde gleichzeitig mit Hormonen behandelt.
Ueli hadert mit dem Schicksal
Der Konsequenzen einer Entfernung war sich Ueli bewusst. «Trockener Orgasmus, Erektionsprobleme, drohende Inkontinenz», zählt er auf. Und das ist so eingetreten, frage ich. Er lacht gequält. «Nicht alles, aber das meiste.» Wir schweigen. Ich weiss, Ueli hadert. Aber mit wem? «Mit dem Schicksal», sagt er. «Klar gabs unzählige positive Ereignisse in meinem Leben. Oft sind es aber die schlechten, die einem haften bleiben. So gehts mir.» Er schaut mich an, sagt: «Ich glaube, schlechte Erinnerungen zu verarbeiten, braucht viel mehr Energie. Im Gegensatz zu den guten: Die geben Kraft.»
Gute Erinnerungen geben Kraft
Ueli Hiltpold hadert mit negativen Ereignissen der vergangenen Jahre. Er erwähnt Geschehnisse aus seinem Berufsleben, wir reden über Tiefschläge und Ungerechtigkeiten. «Einige nerven mich noch immer. Viele Dinge habe ich nicht verarbeitet. Etwa den Tod meiner Schwester und die Tatsache, wie meine Familie damit umging, das macht wütend. Oder wie «Fotografen-Kollegen» aus dem Bundeshaus mit mir umgegangen sind.» Er seufzt. «Andrerseits kann ich sogar daraus Positives ziehen.» Er lacht. Diesmal dünkts mich etwas gequält.
«Ich muss mich ständig rechtfertigen»
Was nervt ihn noch, meinen Freund? Ueli: «Ständig muss ich mich rechtfertigen. Ein Beispiel: Da sage ich einem Arzt, mir gehts um Lebensqualität und nicht um Lebenszeit.» Er verwirft die Hände. «Was passiert: Ich muss mich rechtfertigen. Muss betonen: Nein, nein ich bin nicht suizidal. Oder, wenn ich klage über die Auswirkungen des Hormonhammers, muss ich mich rechtfertigen. Und höre, es gäbe Männer, die müssten das Leben lang Hormone schlucken.» Ueli liest einen Stein auf und wirft ihn energisch hinaus in den Sand. «Bahh! Was hat deren Lebensqualität mit meiner Lebensqualität zu tun? Ich muss mich rechtfertigen, wenn ich sage, ich kämpfe nicht gegen den Krebs, ich lebe damit.» Er schaut mich entsetzt an. «Isch doch so.» Wir schweigen. Ueli sagt: «Das braucht so viel Energie.»
Ueli Hiltpold: «Ich bin austherapiert»
Würde er sagen, okay, so kann ich noch drei Jahre leben, wäre alles gut. «Aber nichts ist gut», sagt Ueli Hiltpold. «Ich bin austherapiert und denke vollkommen positiv. Meinen Photographie & Schwatzladen in Belp werde ich mit 65 Jahren noch erleben. Wetten?»
Den Krebs ignoriert Ueli nicht. Allfälligen Nachkontrollen gehe er keinen aus dem Weg. «Im Gegenteil, ich will wissen, was gesundheitlich auf mich zukommt. Lebensqualität bedeutet, ich kann planen, was geschehen soll.» Ich schüttle den Kopf, sage: Nur bedingt. «Da hast du recht. Angenommen bei der nächsten Kontrolle erfahre ich, es kommt schlecht. Da kann ich planen, kann sagen, ich will die verbleibende Zeit noch so oder so nutzen. Da möchte ich entscheiden, ob ich arbeiten will oder Ferien machen. In diesem Sinn bin ich kein Fatalist. Allerdings kann ich nicht beeinflussen, wann ich sterbe. Oder allenfalls kann ich das nur bedingt.»
Ich weiss nicht, ob es die Stimmung ist am Fuss der mit Schneeresten bedeckten Churfirsten, am kristallblauen Wasser, unterm weiten Himmel oder was immer: Wir schweifen ab, reden vom Reisen. Ueli hat heute schon mehrfach die Karibik erwähnt. Möchtest du dorthin in die Ferien, frage ich. «Nicht unbedingt. Wenn ich noch einmal in ein Land könnte, das ich einmal bereiste, wäre das Sri Lanka.»
«Ins All fliegen würde ich gerne»
Ein einmaliges Land sei es, sagt Ueli. Beeindruckt habe ihn der Sigiriya-Monolith mitten im Regenwald, auf dem sich die Ruinen einer historischen Felsenfestung befinden. Ueli war fasziniert von den Teeplantagen in Dimbula, dem ältesten Anbaugebiet Sri Lankas, oder von den Sehenswürdigkeiten in Anuradhapura, einer der ältesten bewohnten Städte der Welt. Uelis Augen leuchten. «Ich würde sofort wieder hinfliegen. Zehn Tage Sri Lanka und zehn Tage auf Makunudu, Mauritius. Dort hatte ich das Gefühl, ich wäre schon einmal vor Ort gewesen. Wir wohnten in einem Bungalow direkt am Meer.»
Vom Reisen zur Seuche. Kein grosser Sprung. Ich frage, wirst du dich impfen lassen? «Klar», sagt Ueli. «Die Covid-Impfung mach ich aus Solidarität und weil ich reisen möchte. Ich stand oft an Grenzen und will nicht draussen bleiben müssen, weil ich nicht geimpft bin.» Dann lacht er, zeigt in den Himmel und sagt: «Ins All fliegen würde ich gerne mal – wenn ich es mir leisten könnte.»
Wir schwärmen von Reisen nach Schottland, Island oder auf die Hebriden. Vom lieblichen Lac de Joux, von magischen Orten im Engadin zuhinterst auf dem Julier. Ups. Wir sind weg vom Thema. Zurück ins Jetzt. Zurück zu Uelis Leben.
«Ich ignoriere keine Nachkontrolle»
Er würde sich für seine Gesundheit interessieren, sagt Ueli. «Schliesslich interessiere ich mich für mich. Gestern etwa verliess ich, todmüde zwar, um 21 Uhr die Wohnung und fotografierte meinen Laden mit der neuen Schaufensterbeleuchtung und den heruntergelassenen Rollos. Perfekt.» Er strahlt. «Solche Erlebnisse sind meine Lebensqualität. Sind meine frohen Momente. Würde ich die Nachkontrollen ignorieren, könnte ich das Leben nicht so geniessen.»
Er werde jetzt kategorisch, sagt Ueli und hebt die Hand. Im Moment würde er weitere Therapien ablehnen. Das sage er jetzt, aber wie es dann wäre, wenn morgen das grosse Wunder passieren könnte, wisse er nicht. «Keine Ahnung, wie ich mich entscheiden täte.» Er glaube nicht mehr, dass eine Therapie grossen negativen Einfluss auf ihn haben könnte. «Gefühlsmässig sage ich: Schlimmer kommts nimmer. Und da rede ich nur von mir.»
Nie würde er sagen, was recht sei und was nicht. «Jeder ist seines Glückes Schmid. Für mein Niveau hat mir der Krebs und seine Behandlung zu viel genommen, was einst Lebensfreude war.» Ueli kommt in Fahrt. Sagt: «Klar, ich geniesse noch viel Lebensfreude. Bräteln am See, füürle, selbstgemachten Zwetschgenkuchen essen. Es gibt tausende solcher Momente.»
«Ich weiss nicht, ob ich ein Es bin»
Ueli schweigt, verschränkt die Arme und senkt den Blick. Er sagt dann: «Das Problem ist, ich kann mich nicht auf mich verlassen. Weder auf meinen Körper noch auf meinen Geist.» Er könne dasselbe machen, aber er würde nicht immer dasselbe empfinden. Er sei ganz unten gewesen, hätte Wochen in der Psychiatrie verbracht. Er dürfe für sich definieren, was für ihn Lebensqualität sei.
«Ich fühle mich nicht immer als Mann. Ich weiss gar nicht, ob ich ein Es bin. Ein geschlechtsloses Wesen. Diese Erkenntnis hat mich grundlegend verändert. Es ist eine Auswirkung der Operation, der Therapien. Insofern beschäftigt mich meine Zukunft schon.» Er schaut mich mit grossen Augen an, verschränkt die Arme. «Was mir Mühe macht, ist der Umgang mit der Sexualität in einer möglichen Partnerschaft. Nicht, dass ich mich über die Sexualität als Mann definiere. Sicher nicht.»
Ueli betont seine Worte mit Gesten. Sagt dann: «Wie kommuniziere ich meine Einschränkungen, wann würde ich darüber reden? Das Nicht-mehr-Können müsste ich doch ansprechen». Er lacht gequält. «Und das kann im falschen oder im richtigen Moment sein. Deswegen habe ich zwar nicht das Gefühl, ich sei wirklich nur noch ein halber Mann. Ein Gespräch mit einer Sexologie, wie vor und nach der Operation, würde mir wohl neue Aspekte eröffnen.»
Schmerzen plagen den schwerfälligen Körper
Ueli schweigt. Sein Blick verdüstert sich. «Das ist die gewaltige Auswirkung auf die Lebensqualität. Wohlverstanden: Ich weiss, das ist ein Mückenschiss in meinem ganzen Rucksack voller Verzichte. Ich kann im Moment nicht mehr Velo fahren, kann nicht mehr tauchen und mir fehlt die Kraft, im Garten zu arbeiten. Ich konnte drei Monate nicht mehr fotografieren. Mich plagen Schmerzen wegen der Hormontherapie, ich fühle mich gefangen in einem schwerfälligen Körper.»
Manchmal mache es ihm Mühe, sich für etwas zu entscheiden, sagt Ueli: «Das alles wirkt sich aus auf mein Leben. Und ich habe grausam zugenommen. Mich dünkt, mein dicker Bauch drücke auf meine Lungen.» Ueli lässt seine Worte wirken. Sagt dann: «Das alles wäre erträglich, wenn mich nicht diese Gefühlsschwankungen plagten. Gut lernte ich in der Psychi, anstrengende Tage durchzustehen. Das gereicht mir jetzt zum Vorteil.»
Corona sei in dieser Beziehung ein Segen gewesen. «Ich musste keine Partys fotografieren, es gab keinen Ausgang, kein Kino, kein Nichts. Rückzug auf mich selbst. Und heute bin ich erstaunt, wie locker ich das nehme.»
«Es gibt keinen Grund sterben zu wollen»
Lebensqualität statt Lebenszeit. Ein Motto, das nicht alle cool annehmen könnten, sagt Ueli, oft müsse er sich erklären. «Denn», sagt er, «qualitativ besser leben kann in meinem Fall heissen, weniger lange zu leben. Und das können Nahstehende nicht einfach so hinnehmen.»
Ueli hadert. Nicht ständig, aber tageweise. Am einen Tag frage er sich, warum er so einen Kack zusammen fotografiert habe, am anderen Tag finde er es cool, könne er im angestammten Beruf tätig sein. «Die vergangenen Jahre sind meine Erfolgstory. Wer hätte vor zwei Jahre gedacht, dass ich ein so tolles Geschäft haben werde. Ein neues Glücksgefühl.» Er lacht schallend. Sagt dann: «Und so kämpfe ich heute gegen den Tag, der morgen kommt.»
Ueli Hiltpold: «Mein Leben ist lebenswert»
«Es gibt keinen Grund», sagt Ueli Hiltpold, «sterben zu wollen. Das war auch schon anders. In gewissen Phasen meines Lebens dachte ich praktisch jeden Morgen: So en Seich, ich bin wieder aufgewacht.» Heute würde ihn dieses Gefühl tageweise plagen. Seit der Hormontherapie könnten sich solche Tage zehn bis fünfzehn Mal wiederholen.
«Es ist so, wie einst in der Depression. Nur depressiv bin ich derzeit nicht. Aber ich erlebte Momente, da dachte ich an Alkohol und bat eine Freundin, sofort zu kommen, wenn ich sie anrufen würde. Solche für mich gefährlichen Gedanken hatte ich seit zwanzig Jahre nicht mehr. «Ich weiss, ich bin in einer Scheisssituation und kann nichts dagegen tun. Was anders ist als in einer Depression: Diese momentane Situation nehme ich vollkommen wahr.»
Ueli legt eine Pause ein. Wir stehen auf, gehen hinunter zum Wasser und versuchen, Steine hüpfen zu lassen. «Schifere», nannten wir das, sagt Ueli und sein flacher roter Stein aus dem Schiltstal flitzt übers Wasser. «Weisst du», sagt er, «Das Leben schön zu finden ist nicht nur einfach. Schliesslich muss ich es einmal loslassen.» Er schweigt, wirft elegant den nächsten Stein. Sagt: «Mein Leben ist lebenswert. Und ich bin mir voll bewusst, dass mein Leben jetzt noch endlicher ist.»
Text: Martin Schuppli, Fotos: Eddy Risch
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