Mattmark. Eine Katastrophe. Eingebrannt ins Gedächtnis des Autors. Montag, 30. August 1965. Kurz nach 17 Uhr lösen sich riesige Eismassen vom Allalin-Gletscher im südlichen Ende des Saastals und begraben die Baustelle für den Mattmark-Staudamm unter sich.
Ich erinnere mich an die Situation vor dem Radio damals. Meine Mutter weinte. Zehn Jahre alt war ich. Tief berührt. Und wohl deshalb erlebte ich die Begegnung mit Christoph Müller auf besondere Art und Weise.
Eines Tages in diesem Herbst klopfte es an der Tür zum Schreib- und Schwatzgeschäft in Walenstadt. Ein stattlicher Herr trat ein, schloss sanft die Türe und fragte mit baseldeutschem Akzent, ob ich Zeit hätte. Ich nickte wohl. Er redete weiter: «Wissen Sie, ich sah den Unfalltod meines Ältesten voraus.» Wir schweigen. Dann sagt er: «Und damals in Mattmark, da blickte ich dem Tod ins Auge.»
«Der Grossvater prägte meinen Lebenslauf»
Wir beschliessen, gleich loszulegen. Ich mach uns zwei Café. Christoph Müller betont mehrfach an diesem Morgen, wie sehr er auf der Sonnenseite des Lebens stehen würde. Rasch stellen wir fest, beide sind wir Wassermänner. Er mit Geburtstag im Februar ist 22 Jahre älter. «Ich erlebte eine glückliche Kindheit mit einer älteren Schwester. Wir wuchsen im Basler Bruderholz-Quartier auf. Meine Eltern waren sehr fürsorglich.» Er sei ein guter Schüler gewesen, sagt mein Gesprächspartner. «Aber die Messlatte war hoch. Mein Grossvater väterlicherseits war Ingenieur und arbeitete einige Jahre am Panamakanal mit. Der Grossvater mütterlicherseits war Rektor an der ETH in Zürich, ein Tunnelbauer. Er prägte mich und meinen Lebensweg.»
Christoph Müller liess sich an der ETH ebenfalls zum Ingenieur ausbilden und wurde Tunnelbauer. Arbeitete unter Tage, war Chef der Mineure. Dann zählt er einige «seiner» Tunnels auf. Darunter Gubrist, Baregg, Vereina. Den Gotthard, das Neat-Jahrhundertbauwerk, begleitete er in der Planungsphase.
Als der junge Mann 27 Jahre alt war, lernte er Alma-Tina kennen. «Es war Liebe auf den ersten Blick», sagt Christoph. Bei einer Fahrt über den Damm von Melide, habe er um ihre Hand angehalten. «Ich sagte ihr, ich will die Antwort wissen, bevor wir in Thusis sind. Sie sagte ‹Ja› und erwähnte später gegenüber einer Nachbarin, ‹den Ingenieur, den lass ich mir doch nicht entgehen›.»
«Ich nehme wahr, was andere nicht sehen können»
Nach der Hochzeit flog das Paar nach Luxemburg. Dort leitete Christoph Müller den Bau einer 300 Meter lange Kaverne mit Schrägschächten. «Eine meiner Spezialitäten», sagt der rüstige Rentner und schmunzelt, wiederholt dann: «Ich hatte ein Superleben.» Wir schweigen. Er nippt an einem Glas Wasser. Sagt dann: «In Luxemburg kam das erste Kind zur Welt, Gian Reto.»
Wieder bricht er seine Erzählung von Gian Retos Geburt ab. «Seinen Tod habe ich vorhergesehen. 1989 also 27 Jahre später. Ich erzählte Alma-Tina, unser Ältester werde sterben und wir würden es nicht verhindern können.» Es muss eine schwere Situation gewesen sein. Der Tod sei ja vorbestimmt, sagt Christoph Müller. Wieso er davon wusste, ist nicht klar. Eine gewisse Hellsichtigkeit habe er zeitlebens verspürt. «Ich wusste, ich weiss, ich kann Dinge wahrnehmen, die andere nicht sehen, nicht hören. Damals war es eine Stimme, die sagte, ‹du wirst ihn nicht mehr sehen›.»
So war es. Gian-Reto verunglückte am Ostersonntag 1989 in den Bergen. Er war mit Freundin und drei Bergkameraden im Berninagebiet unterwegs. Dort traf ihn der Stein. «Ein Heli brachte den Verunglückten ins Spital nach Samaden. Stunden später holte ich ihn mit unserem Bestatter Peter Junginger heim. Dort lag der Sohn aufgebahrt im Sarg. Alma-Tina und ich redeten mit ihm. Gian-Reto sagte, ‹lasst mich gehen›.» Christoph Müller schaut mich an. Fährt dann fort mit seiner Schilderung. «Meine Frau fragte ihn, ‹Wie ist der Tod?› und er habe gesagt, er könne das nicht in unseren Worten erklären. Sie fragte: ‹Kommst du zurück?›. Da habe Gian-Reto gesagt, es gehe nicht, da seien Hindernisse.»
Alma-Tina gebar 1963 einen weiteren Sohn. Christoph arbeitete damals am Mattmark-Staudamm. Das zweite Kind kam auf dem Weg von Saas Grund nach Visp zur Welt. Seine Frau habe gesagt, sie glaube das Fruchtwasser wäre weg». Christoph Müller grinst, sagt: «Ich hielt an, eilte zum nächsten Haus und läutete. Eine Frau öffnete und sagte ‹ich bin die Hebamme›.» Mein Gesprächspartner strahlt übers ganze Gesicht, sagt: «Es stellte sich heraus, sie hatte jemand anders erwartete. Egal. Alma-Tina legte sich hin und das Kind war da. Ein Bub. Christian Fortunat.» Christoph Müller schaut mich an, sagt: «Es war der schönste Moment für mich. Das Baby strampelte und nahm den Daumen in den Mund. Heute lebt Christian Fortunat in Holland und arbeitet als Architekt.»
Wieder Mattmark. Wieder diese Bilder.
Trauerarbeit nach der Mattmark-Katastrophe
Christoph Müller erinnert sich genau: «Wir sahen den Allalingletscher jeden Tag. Er liegt ja quer zum Damm und hatte damals zwei Moränen», erklärt mir der Tunnelbau-Ingenieur. «Weil sich der Gletscher zurückzog, bröckelte vorne Eis ab, der Gletscher kalberte. Ständig bewegte sich die Eismasse», sagt er und gestikuliert mit seinen grossen Händen. Das hatte schlimme Folgen. Am Montag, 30. August 1965 kurz nach 17 Uhr brach der Allalingletscher ab. Eine mächtige Eislawine donnerte ins Tal.
Die Wucht der Eismassen zerschmetterte die Körper der Menschen. Den Rettungskräften präsentierte sich eine schreckliche Szenerie. Abgetrennte Gliedmassen lagen unter dem Eis. Verstümmelte Leichen überall.
Die erschütternde Bilanz: 86 Männer und 2 Frauen starben, 10 Personen wurden schwer verletzt.
Christoph Müller verlor Kollegen, Poliere, Facharbeiter. «Ich sehe ich die Bilder heute noch vor mir. Hätte ich Dienst gehabt, wäre ich wohl tot.» Alle Verstorbenen habe er gekannt. Sei mit ihnen verbunden gewesen. Habe Kontakt gepflegt mit den Familien im Barackendorf. Da war viel Trauerarbeit.»
Wir schweigen. Schauen beide hinaus auf den Lindenplatz. Dann erzählt er weiter: «Später hatte ich wieder Glück – damals unter Tage. Fast wäre ich von einer Felsplatte erschlagen worden.» Er hält nochmals inne. «Der Tod gehört dazu. Also gilt es, demütig zu sein. Ich sehe das Leben mittlerweile in einem grösseren Komplex. Ich denke an das Werden und an das Sein.»
Wie der Tod gehört ebenso die Geburt zum Leben. Im September 1965 gebar Alma-Tina Tochter Maja. Christoph Müller erinnert wiederum strahlend, sagt: «Sie kam in Dietikon zur Welt. Einen Stock über uns wohnte die Hebamme. Also klopfte ich mit dem Besenstiel an die Decke. Die Geburtshelferin eilte dann runter in unsere Wohnung. Da war Maja schon fast da.» Seine Augen glänzen, der Moment bewegt sichtlich. «Meine Frau hatte kaum Mühe zu gebären. Und ich erlebte die Ankunft unserer Tochter hautnah, das war sehr schön.»
«‹Du wirst Ingenieur›, stand auf meiner Wiege»
Der jüngste Sohn, Guido, kam 1969 in Vevey zur Welt. Die Familie Müller war komplett und der gefragte Ingenieur arbeitete viel und oft im Ausland. Er sei ein schlechter Familienvater gewesen. Klar habe er gut gesorgt für die Kinder und für Alma-Tina. «Aneinander klebten wir nicht» sagt er. «Wir verstanden uns sehr gut, ergänzten uns.» Er hält inne. Sagt: «Sie war wohl intelligenter als ich, erledigte alles mit links. Und ich machte es mit Fleiss. Für mich war alles ein Chrampf. Bei mir stand wohl auf der Wiege ‹du wirst Ingenieur, du hast keine andere Wahl›.»
Sein Leben als Tunnelbau-Ingenieur gestaltete sich spannend. Christoph Müller flog in der Welt herum. Sein KnowHow war gefragt. Einmal, als er im Gubristtunnel engagiert war, meldete sich der oberste Elektrowatt-Chef auf der Baustelle. «Er kam in Gummistiefeln und bat mich, in Peru auszuhelfen.» Müller lacht. «Sie zahlten mir sogar den Heim- und Rückflug, damit ich an der Konfirmation von Tochter Maja teilnehmen konnte.» Das Familienleben war dem gefragten Ingenieur wichtig, die Wertschätzung als Berufsmann ebenso.
Anfangs unseres Kontaktes erwähnte Christoph Müller seine Hellsichtigkeit. Ich nehme das Thema erneut auf. Wir reden über Intuition, über spirituelle Erfahrungen. So eine machte der Tunnelbauer 1984 am Euphrat in der Türkei. Müller schildert, wie er jeweils am breiten Strom sass, dem Wasser zuschaute. «Wie einst Hermann Hesses Siddhartha.» Kurz schliesst er die Augen, fährt sich mit der rechten Hand über die Stirn. «Ich sehe dem grossen Strom zu. Sehe, wie er langsam an mir vorbeifliesst. Denke, das Wasser könnte mir etwas erzählen aus der Sicht von Abraham, dem Urvater der Juden.» Er schaut mich an. Schweigt.
Sagt dann: «Mir kam die Wiedergeburt in den Sinn. Das Wasser. Es sprudelt aus der Quelle und wird zum Bach, zum Fluss, zum Strom, ergiesst sich ins Meer. Es verdunstet, der Wind verfrachtet es ans Gebirge und dann fällt Regen. Der ewige Kreislauf. Werden und Sein. Vergehen. Und wieder auferstehen.» Er hält inne. Guckt mich an. Sagt: «Ich glaube an die Wiedergeburt meiner Energien, also meiner Seele.»
Einmal, als er den Fluss betrachtet habe, sei er masslos traurig geworden. Geheult habe er. «Da löste sich etwas in mir. Ich hörte eine sonore Stimme. ‹Hier spricht Neptun der grosse Gott des Wassers›. Ich fragte ihn, ob er etwas sagen könne von der grossen Trauer, die ich spüren würde. Er antwortete nicht, aber meine Seele antwortete. Ich sei vor Zeiten einmal alleine gewesen, sagte sie mir, und das löste diese Trauer aus, diese Einsamkeit und diese grenzenlose Verlassenheit.» Christoph Müller nimmt einen Schluck Kaffee: «Ich hatte ein wunderbares Leben und keine Ahnung, woher die Trauer kam.»
Den sechsten Sinn als Werkzeug eingesetzt
Christoph Müller begann seiner Intuition zu vertrauen. «In Tibet sollte ich auf 4000 m.ü.M. einen Tunnel in einen See reinbauen. Da fragten sie mich in Peking: ‹wie machen wir das?›. Ich sagte, ich wisse es nicht, aber es komme mir schon eine Idee. Dann reiste ich hin, schaute mir die Situation vor Ort an – und Zack, wusste ich wie.» Er klopft sich aufs Knie und sagt: «Heute ist mir klar: Hatte ich eine Idee, funktionierte sie. Meine Lösungen waren einfach. Viele sagten, das hätte ich ebenfalls gekonnt.» Ihm sei das egal gewesen, sagt er. «Ich war immer ein gefragter Berufsmann, konnte meine Ideen realisieren. Gewisse Lösung waren nicht zu erklären, weil kein analytischer Weg dahin führte.» Und so glaubte Müller an seine Begabung, nutzte sie als Werkzeug.
Das Interesse an Dingen, die so nicht zu erklären sind, liess den Ingenieur nicht los. Vielleicht gab ihm gerade diese spirituelle, mystische Ebene einen nötigen Ausgleich zur Arbeit. Zum Leben unter Tage. Zum Leben in dreckigen Gummistiefeln und verschwitzten Kleidern. Christoph Müller lächelt, erzählt, er hätte einmal in Zürich einen Meditationskurs besucht. Sie seien eine Gruppe von acht Leuten gewesen, geführt von einem Psychiater. «Seither ist mir bewusst, durch eine bestimmte Meditationstechnik kann man Abschweben. Und das versuchte ich. Beim ersten Mal schaffte ich es bis zur Galerie der reformierten Kirche.» Er grinst, saugt an der erkalteten Pfeife, wird dann ernst und sagt: «Wille und Denken sind ausgeschaltet, Sehen ist möglich. Fühlen ebenfalls, das Hirn funktioniert. Die Erinnerung bleibt.»
Es sei eine Art Eigenhypnose gewesen, mit der er diese Reise ausgelöst habe. «Wohin sie führt, kann man nicht steuern». Es war Müllers erster und letzter Flug dieser Art.» Ich wollte mich nicht auf Experimente einlassen.» Er hält kurz inne. «Obwohl es schon schaurig schön war, durch einen hellen, sonnigen Tunnel ins Licht zu treten und einen unglaublichen Frieden zu erleben.» Er legt die Finger aufeinander, stützt das Kinn auf und sagt mehr zu sich: «Mir wurde erst nachträglich bewusst, es war eine Astralreise.»
Dann schaut er mich an. «Was willst du noch wissen?» Mich nimmt wunder, ob dir die Gedanken ans Sterben, an den Tod Angst machen? Christoph Müller schüttelt den Kopf: «Angst habe ich keine. Meine Seele sagte mir, ich würde 92 Jahre alt. Damit kann ich leben. Schwerer wiegt, dass ich meinen ältesten Sohn so früh verloren habe.»
«Alma-Tina starb kurz nach meinem 80. Geburtstag»
Christophs Frau Alma-Tina starb mit 71 Jahren an Leukämie. Sie habe gelitten nach einer Fussoperation, die nicht gelungen sei. Habe sich über die Ärzte geärgert. Und diese nervliche Belastung habe ihr zugesetzt. «Das förderte den Krebs», sagt Christoph Müller, «da bin ich sicher.» Er habe in diesen schweren Tagen seinen 80. Geburtstag gefeiert. «Alma-Tina konnte nicht ans Fest kommen, sie war zu schwach. Vier Tage später, am Valentinstag 2013, starb sie im Spital Walenstadt. Ich war noch bei ihr bis um 19 Uhr abends. Sie war nicht mehr ansprechbar.»
Trauer umwölkt Christophs Augen. Sie sei eine Superfrau gewesen, sagt er. Eine fantastische Mutter mit eigener Berufswahlpraxis. Auf den Flumserbergen habe sie, die brevetierte Langlauflehrerin, die Langlaufschule geleitet. Müller lacht unvermittelt. Sagt: «Sie verdiente viel, wie ich – ganz zum Vergnügen der Steuerbeamten.» Er saugt an der Pfeife, bläst eine Rauchwolke in die Stube.
Nach Alma-Tinas Tod begann der Alleingelassene wieder zu schreiben. Ein Hobby, das er schon immer gepflegt habe. Begeistert erzählt er mir, wie er immer gerne geschrieben habe. «Logisch. Als alter Humanist», sagt er. «Dank des Grossvaters mütterlicherseits landete ich in Basel am humanistischen Gymnasium, machte die Griechisch-Matura. An der mündlichen Prüfung musste ich Platon übersetzen.» Christoph Müller sagt, die Griechisch-kenntnisse hätten ihm geholfen, Sprachen zu lernen. «Ich konnte mich einst in sieben Sprachen ver-ständigen. Konnte die Evangelien in den Urtexten lesen.»
Hier unterbrachen wir unser Gespräch. Verabredeten uns auf bald. Daraus wurde vorläufig nichts. Christoph war wie vom Erdboden verschluckt. Dann erfuhr ich, er wäre gestürzt, als er nach dem Zmittag aufs Velo steigen wollte. Oberschenkelhalsbruch. «Seehof»-Wirtin Josy oder jemand aus ihrem Staff habe den Verletzten ins Spital Walenstadt gebracht. «Dort wurde ich bestens betreut.» Das Orthopädie-Team leistete ganze Arbeit. Einzig die Narkose, das glaubt Christoph Müller, habe ihm zugesetzt. Nach erfolgreicher Reha in der Klinik Walenstadtberg konnte er nach Hause. Noch oben auf dem Berg sagte er zu mir: «Vielleicht muss ich ins Altersheim. Die Wundpflege kann ich nicht alleine machen.» Ich sage, da gibts doch Hilfsangebote. Er umarmt mich und flüstert mir zu: «Weisch, i dr Bire wird i immer weicher.»
Text: Martin Schuppli, Fotos Paolo Foschini
Infobox
«Erlebtes Wandern» über die Walserwege,
Christoph Müller
1997, 144 Seiten mit 24 Aquarellen des Autors
Verlag Bündner Monatsblatt
«90 Alpen im Sarganserland»
Christoph Müller
Sarganserländer Verlag, 2015
In seinem zweiten Buch veröffentlichte der Stadtner Wanderberichte über die 90 Sarganserländer Alpen mit Bezug auf die Alpbewirtschaftung. Es waren 60 Wanderungen. «Ich musste die ‹alten Wege› allein erwandern. Alma-Tina war zu krank.»
Christoph Müllers drittes Buch enthält Geschichten über Begegnungen mit Menschen aus fernen Ländern und den verschiedensten Kulturen.