«Ich möchte nicht den Sekundentod sterben»

Iris Frey war neun Jahre lang Palliativpflegefachfrau im Aargauer Spital Menziken. Der Tod war und ist ein ständiger Begleiter der 50-jährigen Birrwilerin. Ein Gespräch über Sterben, Angst und Lebensqualität.

Iris Frey, wie möchten Sie einmal sterben?
Palliativpflegefachfrau Iris Frey:
Ich möchte nicht den Sekundentod sterben, so wie es sich ein Grossteil der Menschen wünscht. Gerne würde ich mich von meinen Liebsten verabschieden wollen. Ich würde gerne etwas Zeit haben, um Dinge in Ordnung zu bringen, die noch nicht geregelt sind.

Was glauben Sie, kommt nach dem Tod?
Meine Vorstellung ist, dass ich geborgen sein werde an einem wunderbaren Ort, frei von Sorgen und Schmerzen, umgeben von liebevollen Wesen.

Warum wurden Sie Palliativpflegefachfrau?
Das Interesse an Menschen mit schweren Krankheiten und deren Begleitung ist eine Herzensangelegenheit von mir. Alle Fragen zum Thema Tod und Sterben, ebenso spirituelle, interessieren mich seit jeher.

Ist es nicht deprimierend, als Palliativpflegefachfrau nur mit dem Tod konfrontiert zu sein?
Nein. Palliative Care bedeutet so viel mehr als Sterbebegleitung. Es ist die Begleitung und Betreuung chronisch kranker Menschen und ihrer Angehörigen, von dem Zeitpunkt an, wo keine Heilung mehr stattfindet, aber dennoch sehr viel getan werden kann. Die Menschen können noch viele Jahre so leben.

Trotzdem endet der Aufenthalt auf einer Palliativabteilung immer mit dem Tod.
Das stimmt nicht ganz. Eine Palliativabteilung ist kein Hospiz. Auf der Palliativabteilung behandeln wir Symptome wie Übelkeit oder Schmerzen. Und dann gehen die Patienten entweder nach Hause oder in eine andere Institution. Aber natürlich stirbt man auch auf der Palliativabteilung.

Iris Frey, Palliativpflegefachfrau
Iris Frey: «Palliative Care bedeutet so viel mehr als Sterbebegleitung. Es ist die Begleitung und Betreuung chronisch kranker Menschen und ihrer Angehörigen, von dem Zeitpunkt an, wo keine Heilung mehr stattfindet.» (Foto: Peter Lauth)

Was kann für unheilbar kranke Patienten getan werden?
Es gibt so viel zu tun, auch wenn es scheinbar nichts mehr zu tun gibt. Man kann den Menschen noch so viel geben, ihnen Lebensqualität bis zum letzten Tag ermöglichen und sie in einen würdigen Tod begleiten. Zu sehen, wie es am Ende fast immer ruhig und friedlich wird, gibt so viel Zuversicht für den eigenen Tod.

Welches Patientenschicksal ging Ihnen besonders nah – ans Herz, sozusagen?
Es gibt nicht «das» Schicksal, es gibt viele. Es sind die Schicksale der Menschen, die eine schwierige Zeit erleben. Von Menschen, die ständig Rückschläge in Kauf nehmen müssen, immer etwas weniger sind und weniger können, die nicht verstehen, wieso sie es sind, die das erleben müssen. So etwas kann mich persönlich treffen.

Sie haben Ihre eigene Schwiegermutter palliativ betreut. Wie schwierig war das für Sie?
Es war vor allem schwierig, diesmal nur in der Rolle der Angehörigen zu sein. Die Begleitung meiner Schwiegermutter war die wertvollste Erfahrung in der Sterbebegleitung überhaupt für mich. Mit ihr konnte ich das Sterben und seine Phasen hautnah miterleben. Es war auf der anderen Seite ebenso sehr die emotionalste Sterbebegleitung. Nie während all den Jahren habe ich so gespürt, hat es mich so mitgenommen.

Was wünschen sich Patienten kurz vor ihrem Tod?
Sie wünschen sich, ohne Schmerzen und Beschwerden ruhig einschlafen zu können. Sie wünschen sich, je nach Krankheit, nicht ersticken zu müssen, einen ruhigen Tod zu sterben. Sie wollen ein würdiges Lebensende haben, wollen gut gepflegt sein und ihre Angehörigen bei sich haben.

Iris Frey, Palliativpflegefachfrau
Iris Frey: «Wenn ich sehe, wie es am Ende fast immer ruhig und friedlich wird, gibt das so viel Zuversicht für den eigenen Tod.» (Foto: Peter Lauth)

Was halten Sie von Sterbehilfe?
Ich verstehe jeden, der den Entscheid fällt, freiwillig aus dem Leben zu gehen. Es gibt gewisse Diagnosen, bei denen man weiss, dass das Ende mit Leiden verbunden sein kann, trotz moderner Medizin. Da würde ich mir diese Gedanken ebenfalls machen. Aber wahrscheinlich würde ich eher mit Sterbefasten aus dem Leben gehen. Dabei verzichtet man bewusst auf Nahrung und nimmt nur noch 50 Milliliter Flüssigkeit pro Tag zu sich und wird so innerhalb von drei Wochen sterben.

Ist es nicht schier unmöglich, das Durstgefühl zu ignorieren?
Beim Sterbefasten trinkt man rund 50 ml Wasser, um Medikamente einzunehmen. Verzichtet jemand freiwillig auf Nahrung und Flüssigkeit, fällt die Ausschüttung von Stresshormonen praktisch weg, im Gegensatz zu Menschen, die verhungern und verdursten. Zu Beginn kann sich Kopfschmerz einstellen, dies bei Menschen, die aus dem vollen Leben ins Sterbefasten gehen. Aber bereits 24 Stunden nach Beginn des Fastens stellt sich der Körper auf den Hungerstoffwechsel ein, das heisst, alle Körperfunktionen verlangsamen sich. Im Verlauf werden vermehrt Endorphine ausgeschüttet, die durch die Verlangsamung des Stoffwechsels länger im Körper verweilen. Bereits in der zweiten Fastenwoche stellt sich Schläfrigkeit ein.

Kann ich das Sterbefasten vorbereiten?
Es wird beschrieben, dass das Durstgefühl praktisch wegbleibt, wenn jemand bereits vor dem Sterbefasten bewusst die Flüssigkeitsmenge auf ein Minimum reduziert. Dies trifft vor allem bei alten oder sehr kranken Menschen zu.

Dann ist Sterbefasten nichts für junge Menschen?
Für junge Menschen eignet sich diese Art des Sterbens aus dem vollen Leben heraus nicht, da sie von quälendem Durstgefühl geplagt würden. Der junge Körper verlangt per se viel mehr Flüssigkeit als der alte. Für die Angehörigen wäre die Belastung unerträglich. Wenn sich ein junger Mensch bei voller Gesundheit dem Sterbefasten zuwenden würde, wäre er sehr schnell in der Psychiatrie. Angehörige, die es trotzdem tolerieren, würden sich strafbar machen.

Sterbefasten braucht demnach einen starken Willen.
Ja. Grundsätzlich ist zu sagen, dass Sterbefasten einen starken Willen braucht und diese Art des Sterbens nicht für alle Menschen geeignet ist.

Sie haben von der Pflege ins Case Management des Spitals Zofingen gewechselt. Warum?
Es gibt verschieden Gründe, sicher waren es nicht die Menschen, die ich betreuen durfte. Es hat mich interessiert, die Spitallandschaft aus einer anderen Sicht zu sehen, mit der Gesetzgebung konfrontiert zu sein, nur noch eine beratende Tätigkeit zu haben. Zugleich habe ich die Möglichkeit, mein Interesse an der Palliative Care weiter auszubauen. Mein Ziel ist es, für die Alters- und Pflegeheime beratend tätig zu sein, aber auch Weiterbildungen zum Thema zu geben.

Text: Larissa Hunziker, Foto: Peter Lauth

Diese Reportage entstand in Zusammenarbeit mit Journalismusstudenten der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW).

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2 Antworten auf „ «Ich möchte nicht den Sekundentod sterben»“

Ina Häuser sagt:

Eine bewundernswerte Frau,klar und deutlich auf den Punkt gebracht … für eine Entscheidung über die kaum jemand spricht-Danke??

DeinAdieu sagt:

Wir sollten unbedingt darüber reden. Und zwar mit dem Bewusstsein: Es ist immer zu früh, bis es zu spät ist.

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