Geburt und Tod gehören unweigerlich zusammen. Das weiss Sandra Curschellas, Assistenzärztin Geriatrie und Palliative Care am Spital Affoltern am Albis. Die grossgewachsene Frau mit den blonden, adrett zusammengebunden Haaren brachte einige Erfahrung mit, als sie vor einem Jahr die Stelle im Säuliamt antrat. Lebenserfahrung. Erfahrung als Mutter, als Ärztin.
Bereits in ihrer Kindheit wurde sie mit dem Sterben und Tod konfrontiert, musste früh Verantwortung übernehmen, helfen. Ein möglicher Grund, warum sie sich für den Arztberuf und nun für die Arbeit auf einer Palliativstation entschieden hat. «Noch heute helfe ich lieber, als dass ich mir helfen lasse».
In der Palliativ-Care-Arbeit ist Erfahrung gefragt
Helfen steht heute in der Villa Sonnenberg immer noch im Vordergrund. Die Arbeit auf der Palliativstation macht Sandra Curschellas Freude. «Hier bringe ich mehr ein als mein medizinisches Fachwissen, meine langjährige Erfahrung als Ärztin – hier bin ich zudem als Mensch gefordert. In der Villa ist Intuition, Einfühlungsvermögen gefragt, Flexibilität, Organisationstalent. Hier höre ich, wenn immer möglich, gut zu, versuche mich einzufühlen in die Sorgen, Nöte und Wünsche von schwerstkranken, mitunter sterbenden Menschen. Hier nehme ich Anteil an der Trauer von Angehörigen.»
Gute Teamarbeit, grosse Hilfsbereitschaft
Auf der Palliativstation sind die Arbeitstage lang und selten genau planbar. Der Tod kommt nicht immer angemeldet, Schmerz und Leid sind nicht in jedem Fall absehbar. Es gibt Situationen, da gerät das Team an seine Grenzen. «Wir helfen einander, wo immer es möglich ist», sagt die Assistenzärztin. Etwas verloren schweift ihr Blick über die Fenster, in der sich die gleissende Nachmittagssonne spiegelt. «Die Stimmung im Team ist so gut, wie ich es noch nie erlebt habe. Die Hilfsbereitschaft ist aussergewöhnlich, die Atmosphäre herzlich. Wir können zusammen lachen und weinen. Wir können zusammen fröhlich und traurig sein.»
Wer glaubt, in einer Palliativstation drehe sich alles nur ums Sterben, der irrt. «Wir sind bemüht, unseren Patientinnen, Patienten ein möglichst gutes Leben zu ermöglichen. Wir bekämpfen Symptome, suchen nach Lösungen für eine möglichst beschwerdefreie, selbstbestimmte Zeit», sagt Sandra Curschellas.
Diese Lösungen kann die Ärztin nicht alleine präsentieren. Dafür brauchts eine interdisziplinäre Zusammenarbeit. «Unsere Patientinnen, Patienten sind in der Regel schwer krank, haben ihre letzte Lebensphase begonnen, deren Ende absehbar ist.
Wenn sie zu uns kommen, versuchen wir, ihre Wünsche und Bedürfnisse herauszufinden. Zuerst gilt es meist, Symptome zu lindern. Im weiteren Verlauf zeigen wir ihnen Unterstützungsmöglichkeiten auf, um eine allfällige Rückkehr nach Hause zu ermöglichen – und dies mit der Sicherheit, dass sie jederzeit eine Ansprechperson haben. Und falls jemand zu Hause sterben möchte, versuchen wir, dies zu ermöglichen.
Gespräche am runden Tisch brauchen Einfühlungsvermögen
Damit eine Rückkehr nach Hause oder das Sterben zu Hause möglich ist, gilt es die Bedürfnisse eines jeden Patienten, einer jeden Patientin abzuklären, einen Notfallplan auszuarbeiten und die Beteiligten zu informieren, zu instruieren sowie Anschlusslösungen zu evaluieren. Sandra Curschellas: «Dies geschieht in der Regel bei einem Gespräch am runden Tisch. Mit dabei sind involvierte Angehörige, Pflegefachleute, idealerweise jemand aus dem Spitexteam und/oder Leute von der Onko-Spitex sowie der Hausarzt des Patienten, der Patientin resp. die Hausärztin. Geleitet wird das Gespräch vom verantwortlichen Arzt, der verantwortlichen Ärztin.»
Dort sterben, wo man es sich wünscht
So ein Gespräch braucht eine Menge Einfühlungsvermögen sowie die grösstmögliche Flexibilität aller Beteiligten. «Grundsätzlich unternehmen wir alles, damit jemand seinen letzten Lebensabschnitt dort verbringen kann, wo er möchte. Dass jemand dort sterben kann, wo er es sich wünscht», sagt Sandra Curschellas.
Statistisch gesehen ist dies für drei Viertel aller Befragten zu Hause, im Kreise der Angehörigen. Dort möchten sie friedlich einschlafen können.
Die Statistik sagte fürs Jahr 2012: … dass heute nur etwa zehn Prozent der Menschen, die jährlich in der Schweiz sterben, plötzlich und unerwartet aus dem Leben scheiden. Die Mehrheit stirbt nach einer, über längere Zeit, langsam zunehmenden Pflegebedürftigkeit – und zwar im Alters- oder Pflegeheim.
Bundesamt für Statistik
Wie erlebt die Ärztin die Menschen, wenn der «Tod anklopft»? Sandra Curschellas schweigt kurz, blinzelt in die Sonne und sucht nach passenden Worten. «Ich erlebe das ganz verschieden. Die einen Menschen sind bereit, haben sich intensiv damit auseinandergesetzt. Andere stehen ganz am Anfang. Mich dünkt, dass es sehr auf die Persönlichkeit und die eigene Erfahrung mit dem Thema Sterben und Tod ankommt, ob man sich diesen Fragen stellen will oder ob man sich diesen Fragen bereits gestellt hat.»
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit ist äusserst wichtig, findet die Ärztin. «Wir alle müssen uns täglich bewusst sein, dass der Tod eine Realität des Lebens ist.» Wieder legt sie eine Pause ein. Sagt dann:
«Emotional schwierig wird es für mich, wenn ein Mensch vom Sterbeprozess überrumpelt wird. Wenn ich merke, dass zu wenig Zeit bleibt, um die Sachen zu regeln, eventuelle Konflikte zu lösen und Abschied zu nehmen. Oder wenn Menschen betroffen sind, die noch mitten im Leben stehen.»
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In der letzten Lebensphase muss bei uns niemand Schmerzen, Ängste, Beschwerden ertragen
Und was denken Sie, passiert beim Sterben? «Eine schwierige Frage. Die Antwort ist kaum in Worte zu fassen», sagt Sandra Curschellas. «Viele merken, wenn der Sterbeprozess beginnt. Die einen werden schwächer, andere unruhiger. Ich erlebe, dass jemand nicht mehr essen mag, nicht mehr trinken, sich kaum mehr bewegt, Ruhe möchte.» Diesen Prozess kann die Palliativmedizin unterstützen: «Niemand muss Schmerzen, Beschwerden oder Ängste ertragen, wir können etwas unternehmen. Heutige Medikamente sind sehr wirksam, und wir wissen genau, wie wir sie einsetzen können.»
Das erlebte der Autor beim Tod seines Vaters Peter im Spital Affoltern am Albis. Der 89-Jährige war nach einem Sturz zwar unverletzt, aber des Lebens satt. Die Aussicht, ins Pflegeheim zu müssen, war ihm unerträglich. Er hörte auf zu reden, wollte nicht mehr essen, nicht mehr trinken. Der alte Mann zog sich zurück in die eigene Welt. Er bereitete sich vor, heimzugehen in den «ewigen Osten», wie er zeitlebens zu sagen pflegte. Dank fachgerechter Sedierung nahm er wahr, wenn Besuch kam. Die restliche Zeit schlief er. Nach zehn Tagen schloss er abends, als er allein war, für immer die Augen. Wir waren traurig und dankbar.
«Mein Mutter im Himmel beschützt mich»
Das Gespräch mit Sandra Curschellas nimmt eine erneute Wendung. Auf die Frage, wohin denn unsere letzte Reise führen würde, antwortet die Ärztin: «Als Kind stellte ich mir immer vor, meine Mutter sei im Himmel und würde mich beschützen, würde schauen, dass ich keinen ‹Seich› mache.» Sie lacht kurz, sagt dann: «Auf diese Frage muss jeder seine eigene Antwort finden. Ich bin demütig und dankbar, für alles was ich habe. Meinen Beruf empfinde ich als Privileg. Menschen auf dem letzten Teil ihres Lebensweges zu begleiten, ihnen beizustehen, ist eine wunderschöne Aufgabe.»
Hat Sandra Curschellas denn vor etwas Angst? «Eigentlich nicht. Weder vor dem Tod noch vor dem Sterben. Angst macht mir höchstens die Vorstellung, dass ich sterben müsste, bevor meine Kinder erwachsen sind. Überhaupt möchte ich keinen plötzlichen Tod. Wenn nötig, möchte ich noch letzte Konflikte lösen. Adieu sagen können. Das wäre mir sehr wichtig.»
Text: Martin Schuppli, Fotos: Paolo Foschini
Infobox
Auf der eigens dafür ausgerichteten (Palliativ-)Station des Akutspitals werden schwer kranke und sterbende Patientinnen und Patienten betreut und begleitet.
Palliativstation des Spitals Affoltern am Albis
Villa Sonnenberg
Sonnenbergstrasse 27
8910 Affoltern am Albis
Tel. 044 714 38 01
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