Ilona Schmidt: «Selbstbestimmung heisst für mich, Leben und Leiden dürfen»

Mit spezialisierter ambulanter Palliative Care ermöglicht das Team von Palliavia schwer kranken Menschen das Sterben zu Hause. Geschäftsführerin Ilona Schmidt spricht über die Schwierigkeiten und Chancen ihrer Arbeit.

Zuhause sterben: Ein Wunsch, den viele von uns mit sich tragen. Für drei von zehn Verstorbenen geht er in Erfüllung. Bei Menschen, die von Ilona Schmidt und ihrem ambulanten Palliative-Care-Team betreut wurden, sind es fünf von zehn. Die Bündnerin leitet in Zürich Palliaviva, eine gemeinnützige Stiftung für mobile spezialisierte Palliative Care. Das DeinAdieu-Team besuchte Ilona Schmidt noch vor der Corona-Zeit.

«Die Lebensqualität der Patientinnen, Patienten ist unser Ziel», sagt Ilona Schmidt. «Menschen, die an einer unheilbaren Krankheit leiden, pflegen und begleiten wir in ihrem Zuhause. Wir lindern komplexe Symptome und bieten dem ganzen Umfeld, den Angehörigen mehr Sicherheit. Als ambulantes Palliative-Care-Team richten wir uns ganz nach den individuellen Bedürfnissen und Wünschen unserer Patientinnen und Patienten sowie ihrer Angehörigen.»

Als Ilona Schmidt begann, sich mit Palliative Care zu beschäftigten, war diese Disziplin stark verknüpft mit der Onkologie. «Ich arbeitete damals im Zürcher Lighthouse als Leiterin Pflegedienst», sagt sie. «Mir gefiel die interdisziplinäre Zusammenarbeit, das Umfassende, das Menschliche.» Sie lacht. Sagt: «Das hatte nichts mit Gschpürschmi zu tun.»

Ilona Schmidt, Palliaviva
Ilona Schmidt: «Realisiert jemand, ich werde müde, mein Körper mag nicht mehr mit, ich werde alt, dann tut das weh. Der Frust ist gross.» (Foto: Paolo Foschini)

«Mich fasziniert, wie Menschen in Krisen wachsen»

«Gschpürsch mi» ist nicht Ilona Schmidts Sache. Aufgewachsen ist sie in Chur. Ihre ersten Erfahrungen als Krankenschwester, als Infermiera, sammelte sie im Tessin. «Die Vielfältigkeit dieses Berufs hatte es mir angetan. Ich konnten menschliche Beziehungen pflegen und mein Fachwissen anwenden, das schafft Vertrauen. Die Nähe zu den Menschen und das umfassende medizinische Wissen machen mich zu einer Art Dolmetscherin für Patientinnen, Patienten. Palliative Care war damals noch kein Thema.»

Mich beeindruckt, wie Menschen Krisen bewältigen

Nach der Ausbildung am Spital Chur nahm sie eine Stelle an am Unispital in Zürich. «Auf der Neurologie erlebte ich die Faszination von Krisen.» Ilona Schmidt hält inne. Sagt: «Versteh mich nicht falsch. Mich beeindruckt, wie Menschen mit dem Unveränderlichen umgehen. Etwa der halbseitig gelähmte Familienvater. Freudestrahlend zeigte er mir, wie er nach sechswöchigem Training den Klettverschluss seiner Schuhe schliessen konnte. Mich fasziniert, wie Menschen in Krisen wachsen.» Die Geschäftsleiterin von Palliaviva strahlt. «Schön, wenn ich da was beitragen kann», sagt sie, schaut mich an.

Beim Thema Selbstbestimmung am Lebensende stellt Ilona Schmidt einiges klar. Sie sagt: «Selbstbestimmung zum Lebensende heisst für mich, ich darf leben und leiden. Ich darf zur Last fallen. Und es ist richtig, dass wir als Gesellschaft Lösungen suchen sollen, um arme und kranke Menschen zu umsorgen und zu pflegen, ihnen zustehende Wertigkeit vermitteln.» Sie schweigt. Schaut mich an. «Niemand soll sich wegen fehlender Mittel das Leben nehmen.»

Ilona Schmidt, Palliaviva
Ilona Schmidt zur Hauspflege: «Es ist unglaublich, was Ehefrauen, Ehemänner, Kinder, Nachbarn, Verwandte und Freiwillige leisten. Müssten wir das bezahlen, ging die Schweiz bankrott. Das sollten wir anerkennen. (Foto: Paolo Foschini)

«Zu realisieren, ich werde schwach, ist eine Herausforderung»

Ilona Schmidt entpuppt sich als vehemente Gegnerin der Glorifizierung unserer letzten Lebensphase. «Sie beginnt mit einer grossen Herausforderung. Mit dem Realisations-Prozess. Das ist der Moment, in dem ich merke, mein Körper macht nicht mehr alles mit. Ich werde müde, mag nicht mehr bis zur Migros gehen», sagt sie. Viel Frust würde sie erleben, wenn sie die Leute zu Hause besuche. «Es ist eine anspruchsvolle Zeit für die Begleitung, da stellen sich die Weichen.»

Und die Palliative Care zu Hause beginnt für die Pflegefachfrau nicht erst kurz vor dem Sterben. «Gut ist, wenn man uns früher ruft. Dann, wenn noch Zeit ist, zu reden, zu organisieren. Wir können die nötigen Leute an einen Tisch bringen. Können Aufgaben- und Notfallpläne erstellen. Können die Symptome einer Krankheit lindern und den Angehörigen sowie Patienten ein Sicherheitsgefühl vermitteln.»

Gut sei, wenn Menschen, die jemanden zu Hause pflegen würden, über ein grosses engmaschiges Netzwerk verfügten. «Nachbarschaftshilfe tut not», sagt Ilona Schmidt. «Zudem wünsche ich mir mehr Akzeptanz für die spezialisierte Pflege.» Sie müssten sich zuweilen rechtfertigen, die Gemeinden würden ihnen Steine in den Weg legen, wollten ihre Spitex arbeiten lassen. «Wir konkurrenzieren niemanden. Machen vieles möglich, wenn es darum geht, zu Hause bleiben zu können. Unsere spezialisierte Arbeit ist keine Geldverschwendung. Im Gegenteil: Palliative Care ist Lebensqualität.»

Ilona Schmidt, Palliaviva
«Ich wünsche mir mehr Akzeptanz für die spezialisierte Pflege», sagt Ilona Schmidt, Geschäftsführerin von Palliaviva, eine gemeinnützige Stiftung für mobile spezialisierte Palliative Care in Zürich. (Foto: Paolo Foschini)

Sterben zu Hause: Wer zahlt was?

Angehörigenbetreuung ist ein Punkt, den Ilona Schmidt unbedingt erwähnt haben möchte. «Es ist unglaublich, was, Ehefrauen, Ehemänner, Kinder, Nachbarn, Verwandte und Freiwillige leisten. Müssten wir das bezahlen, ginge die Schweiz bankrott. Das sollten wir anerkennen.» Ilona Schmidt findet, dieses Problem, müssten die Politiker und Politikerinnen angehen. «Für die Gemeinden, die im Kanton Zürich für die Pflege zu Hause zuständig sind, besteht ein Fehlanreiz. Sterben die Menschen im Spital, muss der Kanton ihre Pflegeleistungen bezahlen. Zudem ist die Finanzierung unserer Arbeit nicht kostendeckend geregelt: Trotz Beiträgen der Gemeinden, der Krankenkassen und einem geringen Selbstbehalt des Patienten, der Patientin von acht Franken pro Besuch müssen wir mehr als 30 Prozent unserer Vollkosten mit Spenden und Förderbeiträgen bezahlen. Das hat zum Beispiel damit zu tun, dass wir in Gesprächen nicht auf die Uhr schauen wollen.»

Gutes Verhältnis mit den Spitex-Teams

Als eine Konkurrenz zur Gemeinde-Spitex sieht Ilona Schmidt ihre Palliaviva nicht. «Wir arbeiten zusammen mit 95 der 162 Gemeinden im Kanton Zürich. Die Spitex konkurrenzieren wir nicht. Im Gegenteil: Sie weisen uns Leute zu, wenn sie merken, mit diesen Symptomen kommen wir nicht klar, da stossen wir an Grenzen. Unsere regionalen Teams kennen die Spitex-Leute gut, da sind Gespräche im Türrahmen gut möglich.»

Ilona Schmidt, Palliaviva
Ilona Schmidt sagt DeinAdieu-Autor Martin Schuppli, sie habe keine Angst vor dem Tod: «Angst macht mir die Ungewissheit. Die Ungewissheit vor dem eigentlichen Sterben, vor dem was sein wird.» (Foto: Paolo Foschini)

«Fremde Probleme mache ich nicht zu meinen Problemen»

Mit schweren Momenten kann Ilona Schmidt gut umgehen. «Ich lernte früh, zu erkennen, welches Problem ein Teil von mir ist. Fremde Probleme machte ich noch nie zu meinen Problemen», sagt sie und lacht. «Das hilft. Ich kann eine Beziehung aufbauen, bleibe bei mir. Entwickle fachliches Verständnis. Muss ich tragische Geschichten verdauen, mach ich das in Gesprächen mit Kollegen, Kolleginnen. Ich verfüge über ein gutes Umfeld.»

Wir schweigen, schauen uns an. Ilona Schmidtsagt: «Und im Umgang mit eigenen Problemen realisierte ich, es geht immer weiter.» Wie und warum wisse sie nicht? Keine Ahnung. Eine Lösung gebe es immer. Sie vertraue darauf. «Das hilft», sagt sie. Und dann lacht die fröhliche Frau. Sagt: «Ich war alleinerziehende Mutter, da lernte ich Probleme lösen.»

«Hast du Angst vor dem Tod?», frage ich. «Nein, vor dem Tod nicht. Angst macht mir die Ungewissheit. Die Ungewissheit vor dem eigentlichen Sterben, vor dem, was sein wird.» Wir schweigen.

Ilona Schmidt, Palliaviva
Ilona Schmidt: «Der selbstgewählte Tod am Ende eines Lebens darf auf keinen Fall als einzige Lösung herhalten müssen. Sollte das Finanzielle der Grund zum Sterben sein, lehne ich das ab. Ins Heim gehen soll für niemanden eine Strafe sein.» (Foto: Paolo Foschini)

«Selbstbestimmung heisst Leben und Leiden dürfen»

Unser Gespräch dreht sich um das Älterwerden. Um die Wertigkeit, die wir unseren Alten und Kranken zukommen lassen. Ilona Schmidt wiederholt, was sie am Anfang unseres Gespräches sagte: «Selbstbestimmung zum Lebensende heisst für mich, leben und leiden dürfen. Zur Last fallen dürfen», sagt Ilona Schmidt. «Unsere Gesellschaft soll eine Lösung suchen, wie wir arme und kranke Menschen umsorgen. Wie wir mit ihnen umgehen …» Meine Gesprächspartnerin unterbricht ihren Satz. Atmet tief ein, redet sich etwas in Rage. «Ein selbstbestimmtes würdiges Leben ist mehr als Freitod.» Sie legt eine kurze Pause ein. Sagt: «Wobei: Jeder soll suizidieren dürfen.»

Ilona Schmidt betont ihre Worte mit starken Gesten. Sagt: «Der selbstgewählte Tod am Ende eines Lebens darf auf keinen Fall als einzige Lösung herhalten müssen. Und wenn das Finanzielle der Grund zum Sterben ist, lehne ich das ab. Ins Heim gehen soll für niemanden eine Strafe sein.» Zudem macht Palliaviva die Erfahrung, dass Menschen, die den assistierten Suizid zu Beginn ihrer Krankheit noch in Betracht gezogen hätten, dank guter palliativer Begleitung zum Schluss darauf verzichten. «Selbstbestimmtes Sterben ist ebenso auf natürlichem Weg möglich.»

Ich frage, «verstehst du, wenn ich sage, ich möchte nicht demenzkrank werden?» Ilona Schmidt nickt: «Dann darfst du den Zeitpunkt des begleiteten Suizids nicht verpassen. Das ist eine grosse Herausforderung». «Und wie geht ihr mit ‹Exit› um?», will ich wissen. «Das ist Sache der Patienten», sagt Ilona Schmidt. «Jeder muss selbst telefonieren, muss schlussendlich das Medikament selbst einnehmen.» Sie betont, Suizid machen sei sehr, sehr schwer. Und deshalb wolle sie gewisse Schritte bei den Betroffenen selbst lassen. «Ich bin froh, haben wir in der Schweiz eine gute gesetzliche Regelung zum assistierten Suizid.»

Ilona Schmidt mit Pflegefachfrau Nadja Inderkum (r.)
Kurzes Briefing. Ilona Schmidt mit Pflegefachfrau Nadja Inderkum, 28. (Foto: Paolo Foschini)

Hilfe annehmen ist schwerer als helfen

Ilona Schmidt findet, wir würden zu wenig über Pflegebedürftigkeit reden, über ein Leben im Heim, über das Hilfe annehmen. «Das kann Risse geben im eigenen Wertebild. Hilfe geben ist einfach. Alle wollen helfen. Aber Hilfe annehmen, das ist schwieriger.» «Warum das?», frage ich. Ilona sagt, es sei zwar nur ein Gedanke, aber möglicherweise fühle sich jemand weniger wert, wenn er Hilfe annehmen würde. «Das visualisiert Verletzung, Verletzlichkeit.»

Schlussfragen. «Was geschieht nach dem Tod?», frage ich Ilona. «Wohin gehts?» «Das Leben ist fertig. Aus die Maus. Ende. Schluss», sagt sie. Und wenn du heute sterben würdest? Still und leise einschlafen. Nicht mehr erwachen. Was macht der Gedanke mit dir? Ilona schaut mich an. Sagt: «Nein danke. Es wäre zu früh. In 30, 40 Jahren gerne.» Dann lacht sie.

Nachtrag: Die Corona-Zeit hat bei Palliavia «alles ein bisschen underoppsi gebracht», sagt Ilona Schmidt. «Die Herausforderung war, etwas zu planen im Unplanbaren. Wir wussten ja nicht, was kommt.» Heute, gut zwei Monate nach dem Lockdown, atmet die Geschäftsführerin von Palliaviva hörbar auf. «Ich bin froh, wenn wieder mehr Menschlichkeit herrscht. Denn die Einsamkeit von Patientinnen, Patienten hat uns alle sehr berührt.»

Text: Martin Schuppli, Fotos: Paolo Foschini

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