Passieren kann es jedem, jederzeit. Wohl dem, der in solchen Momenten nicht alleine ist. Der Menschen um sich weiss. Menschen, die sich um die Betroffenen kümmern. Die sich Zeit nehmen. Menschen, die wissen, was zu tun ist. Menschen, die sich in einem Care Team engagieren.
Im Care-Team psychologische Nothilfe leisten
Simone Rüd, 54, ist so eine Frau. Die dipl. Theologin und Spitalseelsorgerin arbeitet mit im Care-Team des Luzerner Kantonsspitals LUKS. Ihre Funktion heisst Fachperson psychologische Nothilfe. Im Gegensatz zum kantonal organisierten Care-Team ist ihre Arbeit und die ihrer Kolleginnen und Kollegen aufs Spital beschränkt.
«Wir sind ebenfalls täglich da; von 18 bis 8 Uhr auf Abruf», sagt Simone Rüd. «Neben der aufsuchenden Seelsorge, in der Patientinnen und Patienten und ihre An- und Zugehörigen unterstützt und begleitet werden, leistet das Seelsorgeteam zusätzlich auch Care-Aufgaben. Dabei geht es um ‹psychologische Nothilfe›.» Solche Hilfe umfasst alle geeigneten Massnahmen, die psychische Gesundheit Betroffener nach potentiell traumatisierenden Ereignissen zu erhalten oder wiederherzustellen. «Betroffene sollen sich sicher fühlen, sollen für sich selbst sorgen können und wieder handlungsfähig werden. Dazu brauchen sie jemanden, der ihnen zuhört, der ihnen Struktur, Informationen und Schutz gibt», sagt Simone Rüd.
Gefragt ist kompetente Unterstützung
Das Care-Team im Spital ist zudem eingebunden ins Dispositiv für besondere Lagen (DBL). Das kann etwa ein grosser Verkehrsunfall sein mit vielen Verletzten oder ähnliche Grossereignisse. «Solche Ernstfälle üben wir regelmässig», sagt Simone Rüd. «Tritt eine dieser aussergewöhnlichen Situationen ein, ist das Care-Team nur ein Rädchen im riesigen Getriebe der Spitalwelt.»
Menschen, die kompetent unterstützt werden, sind fähig, traumatische Krisen zu bewältigen. Entscheidend ist die psychologische Erste Hilfe. Wie solche Hilfe aussehen kann, erläutert Simone Rüd anhand dreier Beispiele.
Fall 1.
«Ein junger Mann stürzte in den Bergen ab und die Rega flog ihn schwer verletzt ins LUKS, wo er auf der Intensivstation starb. Als die Eltern des Unfallopfers im Spital eintrafen, musste ihnen ein Arzt die Todesnachricht überbringen.
In meiner Funktion als Seelsorgerin begleitete ich die Angehörigen beim schweren Gang zum verstorbenen Sohn und Bruder. Ich beantwortete ihnen viele Fragen rund ums Abschiednehmen im Spital, am Arbeitsort und zu Hause. Den Trauernden gab ich meine Visitenkarte, falls sie nochmals Kontakt mit mir aufnehmen wollten.»
Fall 2.
Die Ambulanz lieferte an einem Morgen einen jüngeren Mann ins LUKS ein. Er hatte während der Rasur im Badezimmer um Hilfe gerufen und danach das Bewusstsein verloren. Seine Ehefrau und die zwei schulpflichtigen Kinder trafen kurz nach der Ambulanz ebenfalls im LUKS ein. Eine Pflegefachperson der Notfallstation fragte bei der Seelsorge nach, ob wir diese Angehörigen betreuen können.
In der Folge informierte ich mich näher über die Situation und klärte ab, wann die Angehörigen etwas mehr erfahren könnten. Die Ärzte rechneten mit mindestens zwei Stunden. Zuerst müssten sie die nötige Notoperation durchführen. Dann würde die Ehefrau telefonisch kontaktiert.
Ich bot der Familie einen ruhigen Ort an, wo sie ungestört zusammen sein konnten. Alle weinten immer wieder. Daneben erzählten mir Frau und Kinder mehr und mehr über ihren Ehemann und Vater. Im Verlauf dieser Gespräche erfuhr ich, dass die Mutter ihre Kinder ohne Frühstück ins Spital mitnehmen musste.
Eines der Kinder hatte wirklich grossen Hunger und freute sich über die Sandwiches, die ich im Spitalrestaurant organisierte. Wie abgemacht meldete sich der Arzt später telefonisch. Er sagte, der Patient habe die Operation gut überstanden und werde nun zur weiteren Überwachung auf die Intensivstation gebracht. Später begleitete ich die Familie ans Bett des Verunfallten.
Fall 3.
Ich erhielt einen Anruf von der Intensivstation: Eine junge eritreische Frau sei auf dem Weg zum Operationssaal verstorben. Als ich auf die Intensivstation kam, wurde mir der junge Ehepartner der Verstorbenen vorgestellt. Beide lebten seit wenigen Wochen in einem Durchgangszentrum für Asylsuchende. Der Mann schaute mich mit grossen Augen an. Bevor wir zur Verstorbenen gingen, sagte mir eine Pflegefachfrau, die Frau sei im vierten Monat schwanger gewesen. Eine angeborene Krankheit hätte zu ihrem Tod geführt.
Am Bett weinte der Ehemann herzzerreissend. Er warf sich zu Boden, klagte ununterbrochen. Still blieb ich bei ihm, legte ihm die Hand auf eine Schulter, liess ihn weinen und klagen, er hatte allen Grund dazu.
Nach langer Zeit des Trauerns versuchte ich, mit dem Mann verbal Kontakt aufzunehmen. Ich sprach ihn sanft an. Erfolglos. Später bemerkte ich sein brummendes Handy. Er reagierte nicht. Ich fragte ihn in englischer Sprache, ob ich den Anruf beantworten dürfe. Er schaute auf und nickte.
Es stellte sich heraus, dass sich eine ganze Gruppe eritreischer Männer und Frauen im Spital versammelt hatte, um dem jungen Mann beizustehen. Ich bat zwei der Männer, mit mir auf die Intensivstation zu kommen. Die anderen mussten warten. Diese beiden Männer erklärten ihrem Landsmann, dass er wieder aufstehen und mit ihnen kommen müsse, er könne nicht mehr länger hier trauern.
Später kontaktierte mich die für dieses Paar zuständige Fachperson des Asylzentrums. Gemeinsam klärten wir die nächsten Schritte. Schliesslich konnte die Frau nach Eritrea überführt und dort beigesetzt werden. Eine unendlich traurige Geschichte.
In der Regel arbeiten die Seelsorger des spitaleigenen Care-Teams alleine. Aber es gibt Situationen, wo Simone Rüd einen Kollegen, eine Kollegin um Hilfe bitten muss. «Ich erinnere mich an einen plötzlichen Kindstod: Die Mutter trauerte laut und heftig, der Vater stand wie versteinert neben dem Bett. Da fragte ich bewusst einen Kollegen, ob er zu diesem Mann schauen könne. Manchmal geht es von Mann zu Mann einfach besser oder eben von Frau zu Frau.»
Frau Rüd, wie geht eine Fachfrau mit solchen Erlebnissen um? Wie können Sie das wegstecken? Fahren Sie nach Hause und schalten ab?
Simone Rüd: Solch persönliche Schicksale betreffen mich immer wieder, das muss so sein. Ich habe grössere und kleinere Rituale. Das ist für mich wichtig. Nur so kann ich eine Situation für mich ablegen oder abschliessen.
Was sind das für Rituale?
Ich wasche nach einem Einsatz bewusst die Hände. Vielleicht etwas länger als sonst. Das gehört für mich zum festen Bestandteil des Abschlusses einer besonders schwierigen Situation. Manchmal spaziere ich nach Hause oder lasse mir auf der Heimfahrt mit dem Velo bewusst etwas mehr Zeit. Das hilft ebenfalls. Zeiten des Rückzugs, der Stille und des Gebets sind für mich unabdingbar.
Supervision ist ein Thema?
Ja. Das machen wir regelmässig. So arbeiten wir eine schwierige Situation nochmals durch. Ebenfalls helfen Gespräche mit Seelsorge-Kolleginnen und -Kollegen. Und manchmal sagen mir Träume, dass da etwas noch nicht verarbeitet ist …»
Was geht in Ihnen vor, wenn Sie jemanden im Spital betreuen nach einem missglückten Suizid?
Für einen Patienten, eine Patientin muss es schrecklich sein, sich hier im Spital den bestehenden Problemen erneut, und doch wieder anders, stellen zu müssen.
Da können Sie alleine kaum helfen?
Richtig. In solchen Situationen ist es ausserordentlich wichtig, dass wir hier im Spital gute Teamplayer sind. Zuerst sind und bleiben wir Seelsorgerinnen, Seelsorger. Uns kann eine Patientin, ein Patient etwas anvertrauen, das wir unter dem Seelsorgegeheimnis für uns behalten. Gleichzeitig wissen wir, dass andere Professionen, Psychologinnen, Psychologen, Psychiaterinnen, Psychiater wichtige Fachpersonen in solchen Situationen sind. Und nicht zuletzt brauchen manchmal auch Pflegende unsere Unterstützung, wenn sie eine Patientin, einen Patienten in komplexen medizinischen Situationen pflegen und deren Angehörige gleichzeitig um Hilfe bitten …
Sie sind für alle da im Spital
Ja, wir unterscheiden nicht zwischen Opfer und Täter, zwischen direkt und indirekt Betroffenen. Wir sind für all jene da, die sich nach einem aussergewöhlichen Ereignis in einer schwierigen Situation befinden. Ich erinnere mich an die Begleitung eines Patienten. Er war aus ungeklärten Gründen Verursacher eines grossen Unfalls auf der Autobahn. In der Folge verstarb ein junger Mann. Der Verursacher lag mittelschwer verletzt im Spital und hatte viel Zeit zum Überlegen. Seine Angehörigen lebten im Ausland. Anlässlich meiner regelmässigen Besuche erzählte mir der Patient, was ihn beschäftigte. Einiges konnte nicht einfach geklärt werden, weil die Unfallursache noch nicht ermittelt war. Eines Tages war der Patient ausgetreten, ich habe nie mehr von ihm gehört.
Was sagen Sie, die Theologin, wenn jemand verzweifelt fragt, «warum hat Gott dieses Unglück nicht verhindert?»
Selten stellt jemand diese Fragen in der akuten ersten Phase eines aussergewöhnlichen Ereignisses. Sie treten später auf. Etwa im Rahmen der Vorbereitungen einer kirchlichen Abschiedsfeier. Da ist es dann gut, wenn jemand nicht einfach eine standardisierte Antwort erhält.
Was antworten Sie dann?
Vielleicht sage ich, ich glaube nicht, dass Gott etwas zulässt oder nicht. Gerade in solchen Situationen merke ich, wie wenig wir Gott als der/die ganz Andere begreifen können. Vielleicht kann ich darauf hinweisen, dass vor uns schon viele Menschen mit Gott gehadert haben, ihm sogar Vorwürfe machten. Etwa, dass er nichts unternommen habe, ein Unglück zu verhindern.
Verweisen Sie auf konkrete biblische Personen?
Mit dem Verweis auf die Bibel gehe ich persönlich sehr sorgfältig und zurückhaltend um. Ich kann und will niemanden mit Bibelzitaten, oft aus dem Zusammenhang gerissen, abspeisen. Das würde sich anfühlen wie eine billige Vertröstung.
Bearbeitung: Martin Schuppli/Foto: Peter Lauth
So können Angehörige und Freunde helfen
• Verbringen Sie Zeit mit der betroffenen Person. Bieten Sie ihr Hilfe an und ein offenes Ohr. Machen Sie das auch, wenn Sie nicht um Unterstützung gebeten werden.
• Hören Sie zu, wenn Betroffene erzählen möchten. Manchmal tut es gut, immer wieder über das belastende Ereignis zu sprechen.
• Helfen Sie, die ersten Tage gut zu strukturieren. So bleibt wenig Platz für Grübeleien.
• Lassen Sie der betroffenen Person Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten.
• Nach manchen Ereignissen ist es notwendig, verschiedene Dinge zu organisieren und zu erledigen. Eine praktische Unterstützung kann sehr entlastend wirken. Betroffene sollen möglichst bald wieder den gewohnten Tagesablauf aufnehmen und autonom handeln.
• Lassen Sie Kinder über Gefühle sprechen. Sie sollen sich im Spiel ausdrücken, mit Zeichnungen, in Rollenspielen. Schicken Sie die Kinder bald wieder in die Schule. Vielleicht begleiten Sie sie beim ersten Mal oder bei gewohnten Aktivitäten.
Ausbildung für Fachpersonen Psychologische Nothilfe: Link