«Ist das Hirn zerstört, gibts keine Hoffnung mehr»

Ein Gespräch über die Grenzen der Intensivmedizin, über Organspende, über Leben und Hirntod oder das Abstellen der Beatmungsmaschine.

PD Dr. Markus Béchir arbeitet an der Grenze von Leben und Tod – als Intensivmediziner auf der Intensivstation am Schweizer Paraplegikerzentrum Nottwil. Die Herausforderung dieses Berufes ist gross. Der 47-Jährige ist Chefarzt Intensivmedizin, Schmerzmedizin und Operative Medizin. Im Gespräch über Organspende schildert er eine leider alltägliche Situation. «Da liegt ein schwerverletzter Mensch in einem Intensivmedizinbett. Angeschlossen an Messgeräte und an die Beatmungsmaschine. Für mich und mein Team heisst es dann, wir müssen das Problem lösen, wir können es niemandem mehr abgeben, so hart es tönt, es gibt nur zwei Möglichkeiten: entweder stirbt der Patient oder er überlebt. Schwarz oder weiss. Ein Dazwischen gibts nicht. Solche Momente prägen einen. Solchen Momenten müssen wir uns immer wieder stellen. Das macht unsere Leben als Intensivmediziner aus.»

Wann stellt man die Beatmungsmaschine ab

In der Regel entscheidet der Zustand des betroffenen geschädigten Organes, beispielsweise das Herz bei Herzinfarkt, über über leben und sterben. Besonders kritisch sind Verletzungen des Gehirns. «Wenn eine Prognose schlecht ist», sagt Dr. Markus Béchir, «müssen wir mit den Angehörigen, mit einer Vertrauensperson reden, müssen entscheiden, was zu tun ist. Oft ist bei schweren Hirnverletzungen absehbar, dass jemand, wenn er überlebt, schwerstbehindert bleiben wird. Wer entscheidet was? Was hätte der Patient gewünscht? Beatmungsmaschine abstellen, weil es der mutmassliche Wille des Patienten ist, oder weiter arbeiten lassen?» Es sind schwere, belastende Gespräche die Intensivmediziner in solchen Momenten führen müssen.

Markus Béchir schildert ein einschneidendes Erlebnis: «Ich komme am Montagmorgen früh zur Arbeit. In der Nacht wurde ein Familienvater eingeliefert. Er verunfallte bei der Gartenarbeit, wollte vor dem Znacht noch husch-husch was machen, fiel von der Leiter und erlitt schwerste Kopfverletzungen, war quasi bei der Einlieferung schon tot. Sein Hirn schwoll massiv an und wurde komplett zerstört, er ist sogenannt hirntot. Die Frau steht mit drei Kindern auf dem schwach beleuchteten Gang. Ihre Welt geriet aus den Fugen. Sie hoffen aber, ihre Augen sind voller Angst. Die Realität: Der Vater, der Ehemann ist tot, hirntot. Seine Kinder sind fünf, sieben und neun Jahre alt. Zwei Mädchen, ein Knabe», Markus Béchir unterbricht seine Schilderung. Es ist still im kleinen Büro. Dann fährt er fort: «Ich muss ihnen sagen, was Sache ist. Ich darf nicht um den Brei reden, darf niemanden auf die Folter spannen. ‹Das Hirn ist total zerstört, alle Zellen sind untergegangen›, sage ich zur Frau, ‹für Ihren Mann gibts keine Hoffnung mehr, er ist nämlich tot, hirntot.› Solche Momente sind auch für mich eine unendliche Weite in der Unfassbarkeit des Seins.»

Organspende ja oder nein?

Intensivmediziner können viel machen, retten oft ein Leben, und doch sind ihre Möglichkeiten klar begrenzt. «Wir können nur vorhandenes Potenzial aktivieren, können das noch vorhandene Leben stützen und auf Erholung und Regeneration warten», sagt Markus Béchir. « Sind ganze Hirnareale verloren, ist es schwierig zu sagen, wie es weitergeht mit dem Leben.» Tritt der Hirntod ein, dann folgt meist ein schwieriges Thema: die Frage ‹Organspende ja oder nein›. Die Angehörigen befinden sich in einem absoluten Ausnahmezustand. Nun braucht der Arzt, die Ärztin eine Menge Taktgefühl.»
Viele Intensivmediziner waren schon Vorwürfen ausgesetzt. Es hiess: Die wollen nur die Organe, darum lassen sie jemanden sterben. Markus Béchir seufzt tief. «Das stimmt natürlich nicht. Nie und nimmer. Um solche Vorwürfe zu vermeiden, macht es Sinn, wenn jemand anders, ein bisher nicht in die Behandlung involvierter Arzt, Ärztin die Organspende-Frage stellt. Dieses Thema ist schliesslich eine andere Facette der Medizin und des Verlaufs.»

Intensivmediziner kennen keine Patienten auf der Warteliste

Anders als beim obigen Beispiel ist die Situation, wenn ein Schwerstverletzter, eine Schwerstverletzte zwei Wochen auf der Intensivstation lag, da können die Ärzte, die Ärztinnen mit Angehörigen eine tragfähige Beziehung aufbauen. Da bleibt Zeit, das Thema in aller Ruhe zu besprechen. Da bleibt Zeit, herauszufinden, ob jemand seine Organe spenden will. Ob jemand mithelfen will, Leben zu retten. Ob jemand den Menschen auf der Warteliste für ein Spenderherz, für eine Lunge, eine Niere oder eine Leber einen zweiten Geburtstag ermöglichen möchte. Eine Entscheidung von grosser Tragweite. Der Autor kennt verschiedene Menschen, die mit gespendeten Organen leben. Ihre Lebensfreude ist gross, ihre Dankbarkeit tief.

«Organspende hat nichts damit zu tun, dass auf einer Intensivstation mögliche Hilfe unterlassen wird», sagt Markus Béchir. «Erst wenn wir alles gemacht haben, um das Leben zu retten, und der Mensch hirntot ist, erfüllt er die strengen Kriterien für eine Organspende. Falls dies kein Thema oder keine Möglichkeit ist, bleibt nichts anderes mehr zu tun, als das Beatmungsgerät abzustellen.»

Der Arzt erzählt von einem potenziellen Spender, der im Rollstuhl verunfallte. Dabei habe er eine Hirnblutung erlitten. «Er war hirntot, sein Hirn komplett zerstört», sagt der Intensivmediziner. «Die Frau des Verletzten war überfordert, die Frage zu beantworten, ob ihr Mann seine Organe spenden würde. Die Tochter fragte, welche Organe denn in Frage kämen. Die Situation war angespannt. Sehr emotional. Da entschied der Sohn: ‹Vater wird nicht zerschnitten›.»

Die Organspende ist diktatorisch

Markus Béchir weiss aus Erfahrung: «Neun Ja-Stimmen nützen nichts, wenn einer Nein sagt.»

Gehts ums Thema Organspende, kursieren viele Ängste, Unwahrheiten. Markus Béchir hörte schon, dass jemand meinte, in Frage kommende Organe müssten aufwändig getestet werden. Und das belaste die Krankenkassen. Auch der Organhandel betrifft die Leute sehr. Sie meinen, man könne auch bei uns mit Geld ein Herz kaufen, eine neue Leber oder Niere. «Unmöglich», sagt der Intensivmediziner. «Wir haben in der Schweiz eine sehr genaue Regelung, haben Nulltoleranz. Swisstransplant und alle Beteiligten arbeiten sehr seriös innerhalb der ethischen und juristischen Grenzen.»

Auf einer Intensivstation weiss niemand, welcher Patient, welche Patientin auf welches Organ wartet. Niemand kennt die Liste. Niemand weiss, welches Organ für wen passt. «Haben wir ein Organ, wird der Computer mit den möglichen Daten gefüttert, der rechnet und spuckt dann eine wartende Person und ein behandelndes Spital aus.»

Was dann passiert, schilderte Swisstransplant-Direktor Franz Immer im Blog-Beitrag «Eine Transplantation muss perfekt organisiert sein» auf DeinAdieu.
Wird die Beatmungsmaschine abgestellt, ist der Körper von Patienten, deren Hirn schon tot war, innerhalb von drei Minuten ebenfalls tot.

Organspender kann man problemlos aufbahren

Danach wird der Leichnam präpariert. Von der Operation ist am Schluss nur noch eine saubere Naht zu sehen. Der Verstorbene kann also aufgebahrt werden, die Angehörigen haben Zeit, Abschied zu nehmen.
In der Regel fragen Intensivmediziner die Angehörigen auch, ob sie die Hornhaut eines Verstorbenen entnehmen können. Das ist bis 72 Stunden nach dem Tod möglich. Und spenden können alle, in jedem Alter, egal, welche Krankheit jemand hatte. Egal, woran er, woran sie starb.

Zurück auf die Intensivstation. Der Autor fragt, was denn die Situation vereinfachen könne? Ob eine Patientenverfügung helfe? Markus Béchir: «Ja, schon. Aber wer nur eine Patientenverfügung ausgefüllt, aber keine Vertrauensperson mit der Umsetzung seines Willens beauftragt hat, wiegt sich in falscher Sicherheit, da es sehr schwierig ist, das Geschriebene auf jeden erdenklichen Fall anzuwenden.»

Eine Vertrauensperson soll Entscheidungen fällen

Das sagte auch Prof. Dr. iur. Regina Aebi-Müller im Blog-Beitrag «Selbstbestimmung am Lebensende» auf DeinAdieu.ch. Es braucht eine Vertrauensperson, die im Sinn des Betroffenen, der Betroffenen entscheidet. Markus Béchir: «Meiner Meinung nach sind die wichtigsten Grundaussagen folgende: Organspende ja oder nein. Reanimation nach Herzstillstand ja oder nein. Schwerstbehindert überleben ja oder nein.»

Das reicht aber nicht. Der Intensivmediziner weist darauf hin, dass es in den meisten Fällen noch Grautöne zu besprechen gäbe. Denn die Facts seien nicht nur schwarz/weiss.

Die Grenzen des Machbaren sind vorgegeben

Ein aufwühlendes Gespräch im kleinen Büro von Markus Béchir im Paraplegikerzentrum in Nottwil LU. Der Intensivmediziner sagt: «Solche Entscheidungen belasten mich. Berühren mich. Da kann ich nicht nur Profi sein, sonst stumpfte ich ab. Würden mich solche Situationen nicht berühren, müsste ich anderen Job suchen. Andererseits sind wir alle auch nur Menschen. Die Grenzen des Machbaren sind uns vorgegeben. Wir können sie vielleicht etwas verschieben. Also muss ich auch eine Portion gesunden Fatalismus mitbringen, darf mich nicht zu wichtig nehmen. Schlussendlich bin ich ein Katalysator von Möglichkeiten. Und die gilt es in Einklang zu bringen mit dem Bestmöglichen für die Patienten.»

Aber an der Realität kommt auch ein Intensivmediziner nicht vorbei. Das sieht Markus Béchir ganz nüchtern. «Fakten geben uns den Takt an. Auch wir müssen die Endlichkeit erkennen.»

Text: Martin Schuppli/Foto: Markus Béchir

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