Holländer, Holländerinnen mag ich. Ich kenne sie als fröhliche Menschen mit einem weiten Horizont. Kein Wunder, leben sie doch am Meer. Dort, wo der Himmel weit ist und das Land platt.
Karsten Risseeuw ist Holländer. Warmherzig erlebe ich ihn. Neugierig und emphatisch. Der 58-Jährige wohnt seit 33 Jahren in der Schweiz. Zu seinem Lebensmittelpunkt machte er St. Gallen. Aufgewachsen ist der grosse Mann in Den Haag. Er war der Älteste. Seine vier Schwestern kamen nach ihm zur Welt. Und zwei haben sie schon wieder verlassen. Doch davon später.
Der Vater sei Architekt gewesen, hätte den Kindern die visuellen Seiten vermittelte. Die Mutter habe das Musische übernommen. Sie hatte Klavier studiert, und so gab es im Hause Risseeuw regelmässig Konzerte. Zum harmonischen Familienleben trugen ebenfalls die Grosseltern bei. Sie wohnten in der Nähe.
Als Karsten zwölf Jahre alt war, liessen sich die Eltern scheiden. Die Mutter zog aus mit den fünf Kindern. Und für den Buben begann die Reiserei. «Sie sollte mein Leben prägen», sagt er. Mit den Eltern und den Geschwistern pflegt Karsten nach wie vor guten Kontakt. Er lacht, sagt: «2018 feierte Mutter 25 Jahre glücklich verheiratet – in vierter Ehe.» Er lacht schallend. Sagt dann: «Wir sehen uns regelmässig.»
Als der junge Mann zwanzig Jahre alt war, wanderte er aus, für ein Jahr nach Israel. Dort lebte und arbeitete Karsten Risseeuw im Moshav, Nes Ammim. «Das war ein Entwicklungsprojekt von Kirchen in Holland und Deutschland. Gegründet vom holländischen Pfarrer Johan Pilon zusammen mit seiner Frau Stijn. Das Paar wollte mit dieser Siedlung ein Zeichen der Solidarität setzen mit dem 1948 gegründeten Staat Israel.
«Ich erlebte Selbstmordattentate und Krieg»
Damals, 1981, stand das Land kurz vor dem ersten Libanonkrieg. «Die Grenze war nur circa 15 Kilometer entfernt, ich schob Nachtwache, trug eine geladene Waffe.» Und, hättest du geschossen? Hättest du jemanden getötet?, will ich wissen.
Karsten sieht mich entsetzt an. Seine Augen sind weit aufgerissenen. «Logisch hätt’ ich geschossen. Was da abging, und heute noch abgeht, ist Terrorismus. Stell dir diese Terroristen einmal vor. Sie feiern ihre Beerdigung drüben, bevor sie mit Granaten und Waffen behangen über die Grenze kommen.» Er atmet tief durch. Schweigt. Sagt: «Das sind keine Diskussionspartner. Sie sind gekommen, um zu sterben und so viele Menschen wie möglich umzubringen.» Er atmet durch. Sagt dann. «Da geht es um ihn oder um mich. Selbstverständlich hätte ich das Dorf mitverteidigt. Es geht um Leben oder Tod. Ich bin aber froh, dass es nie nötig war.»
Wow. Ich muss ein erstauntes Gesicht gemacht haben. Karsten sagt: «Der Hass, der Konflikt, der Antisemitismus ist tief verwurzelt in der Region. Ich erinnere mich, wie wir im Schwimmbad lagen und unweit davon Katjuscha-Raketen einschlugen. Ich erlebte sowohl die Selbstmordattentate wie den Krieg. An der Front standen die Töchter und Söhne meiner Freunde.»
Ein klares Statement.
In Israel könne er sich besser entspannen, sagt Karsten. Dort seien die Leute warm, locker. Er fliege regelmässig hin. «Dieses Jahr war ich noch nie dort. Das fehlt.»
Krebs. Karsten verlor zwei Schwestern
Als wir uns in den ersten Januartagen 2019 kennenlernten, hatte Karsten eine schwierige Zeit erlebt. Wochen vorher war seine jüngste Schwester an Krebs verstorben. Begleitet von der Familie. Karsten wollte damals nicht über seinen Schmerz reden. Verständlich. Er sagte mir noch, seine älteste Schwester sei vor zehn Jahren verstorben. «Unterschiedlicher hätte ihr Tod nicht sein können.»
Wir schwiegen. Ich recherchierte. Dann schrieb ich Karsten. Dem Fotografen, Autoren, IT-Menschen und Theologen. Ich bat um ein Gespräch. Wollte seine Ansichten erfahren zum Thema Leben und Sterben. Im Internet lese ich, wie sein theologischer Weg verlief.
Meine Familie war traditionell in den Kirchen der Reformation verankert. Als junger Erwachsener habe ich dort dann selbst einen guten Zugang gefunden. Von Holland wanderte ich aus nach Israel, wo ich ein Jahr als Freiwilliger in einem Entwicklungsprojekt reformatorischer Kirchen arbeitete. Diese Zeit hat meine Sicht auf Leben und Glauben wegweisend geprägt. Es folgte eine theologische Ausbildung auf der Schnittstelle traditioneller Kirchen und Freikirchen.
Mein spirituelles Daheim nenne ich jetzt die englischsprachige Gemeinde «All Souls» in St. Gallen. Ein reflektiertes Christsein sowie eine differenzierte Lernkultur sind mir wichtige Anliegen.
Was heisst reflektiertes Christsein, frage ich Karsten Risseeuw. Was ist dein Anliegen als Christ? Wofür setzt du dich ein? Ich erzähle ihm von den Worten, die mir ein über 40-jähriger Pfadfinder gesagt hatte und die mich an die freimaurerische Tradition meiner Erziehung erinnerten. Maurus sagte: «Wir setzen uns mit unserem eigenen Glauben auseinander und akzeptieren jegliche Art der Spiritualität anderer Menschen».
«Alles wirkliche Leben ist Begegnung»
Karsten nickt. Sagt: «Logisch akzeptiere ich jegliche Art der Spiritualität anderer Menschen. Das sowieso. Aber jeder braucht eine eigene Identität. Ich will mich mit Ideen auseinandersetzen, mit Leben und Sterben etwa. Ich möchte über Gott und die Welt reden. Zugegeben, es ist nicht immer ein einfacher Gang durchs Leben. Aber, gerade wenns weniger einfach ist, setze ich mich damit auseinander. Und dazu brauchts Gespräche. So, wie wir es führen.»
Ich gebe ihm recht. Schreiben und unterrichten, reden und sprechen ist immer ein Dialog. Ein Gespräch kann viel bedeuten. Kann helfen. Kann aufklären über den Tod, das Sterben.
Karsten sucht die Auseinandersetzung. Er sagt, wir sollen Dinge erarbeiten, die man wissen könne, und Dinge loslassen, die wir nicht wissen können. «Ich denke, beides gehört dazu», sagt er. Für mich spielt ein Spruch von Martin Buber eine grosse Rolle. Der deutsche Religionsphilosoph sagte: «Alles wirkliche Leben ist Begegnung» (aus: «Ich und Du»).
Schwester Tineke starb eng begleitet von der Familie
Das Leben sei ein Geschenk Gottes, lernte ich in der Sonntagsschule. Wohlan frage ich Karsten: Welche Pflichten geht der gläubige Mensch ein? Welche Rechte hat er? Darf er selbstbestimmt die letzte Lebensphase eingehen? Darf jemand nicht mehr leben wollen? Ich denke an ältere Menschen, an Kranke jeglicher Art.
Karsten nickt. Erzählt mir folgende Geschichte.
«Meine jüngste Schwester, nennen wir sie Tineke, hatte mit Glauben und Religion nichts am Hut. Sie war naturverbunden, liebte Pferde und Schafe sowie ihre Kräutergärten. Sie pflegte den Wald, lebte mit der Erde. Ihre Krebskrankheit, ein Tumor in der Bauchhöhle, wuchs plötzlich. Das sei ein Teil der Natur, sagte sie. Empfand ihre Krankheit als natürlichen Vorgang.
Sie versuchte, aus der Zeit das Maximum herauszuholen, wollte alles kosten, was ihr noch blieb. Das waren vor allem Begegnungen. Sie nutzte die Zeit, nahm Abschied von ihren drei Kindern, von der Familie. Sie sammelte Erfahrungen, gab sie ihren Kindern weiter, den damals 13-jährigen Zwillingen und dem 10-Jährigen. Sie liebte ihre Familie, besuchte mich zweimal in der Schweiz. Ich reiste einige Male nach Holland. Alle waren sie informiert, die Familie lebte nahe bei der Kranken. Sie pflegten enge Kontakte, konnte vieles einfach lösen. Alle halfen einander, sogar der Ex-Mann war engagiert. Er kochte, entlastete die Krebskranke.
Im November 2018 zügelte sie in ein Sterbehospiz. Ihr Ex-Mann zog um zu den Kindern und lebt nun dort. Die Familie spielt eine grosse, eine wichtige Rolle.
Das Hospiz war in einem alten Bauernhof untergebracht, angegliedert ans Spital. Es habe sich als gute Sache entpuppt, sagt Karsten. Rundum sei Natur gewesen, so wie es Tineke geliebt hätte. Der Umzug wäre ein bewusster Schritt gewesen. Sie habe gesagt: Wenn ich ausziehe, kann ich loslassen. Für sie sei das Sterben okay gewesen, aber den Kindern habe sie die Mutter nicht wegnehmen wollen. Karsten: «Sie ass nicht mehr, trank nicht mehr, hing an der Infusion und sagte eines Tages: ‹Ich mag nicht mehr›.»
In Holland ist passive Sterbehilfe erlaubt. Karstens Schwester wollte keine Schmerzen mehr, wollte nicht mehr leben. Sie habe noch eine Stunde mit ihrem Freund geredete und dann das entscheidende Medikament genommen. «Sie schlief schnell ein», sagt Karsten. «Alle lebensverlängernden Massnahmen wurden eingestellt. Schmerzbekämpfung war das Einzige, das blieb.»
Für die Beerdigung eine Kirche gemietet
Karstens Schwester entschloss sich am Sonntagabend zu diesem Schritt. Ihr Freund durfte die Familie erst einen Tag später, am Montag, informieren. Tineke lebte in einer ländlichen Umgebung, sie wurde eingesargt. Eine Freundin hatte bei Ebay einen Sarg ersteigert. «Der stand dann bei meiner Schwester in der Scheune, Kerzen flackerten rundherum», sagt Karsten.
Einige Tage sei Tineke dort aufgebahrt gewesen. Die Beerdigung habe die Familie selber durchgeführt. «Wir mieteten eine Kirche. Es gab keine Predigt, keinen Pfarrer. Ausschliesslich Text- und Musikbeiträge der Familie. Alle miteinander.» Seine Schwester liege nun unweit entfernt begraben auf einem kleinen Friedhof. Einige hundert Leute seien mitgelaufen im Trauerzug. Sie hätten einen weissen Sarg voller Blumen begleitetet. Es sei ein sehr wertvoller Moment gewesen. «Wir hatten sie miteinander von Herzen getragen, und damit eine sehr persönliche Atmosphäre geschaffen.»
In der Kirche seien keine Blumen herumgestanden. Kräuter aus ihrem Garten und Gemüse hätten den sakralen Raum geschmückt. Sehr eindrücklich sei das gewesen, sehr persönlich, so wie Tineke es gewollt habe. «Wir hatten das alles besprochen», sagt Karsten.
Ganz anders war der Umgang mit Leben und Sterben bei der ältesten Schwester. Nennen wir sie Sonja. «Über den Tod sprach sie kaum», sagt Karsten. «Obwohl sie sehr krank war und 14 Tumoren im Kopf hatte.» Jahrelang habe sie gelitten, habe versucht, das Leben mit Medikamenten zu verlängern. «Das letzte Jahr», sagt Karsten, «hätte Sonja streichen können. Sie lag im Spital und siechte dahin. Es war eine sehr unschöne Situation.»
Das Sterben unterschiedlich angehen
«Die jüngste Schwester wollte keine Chemo, keine Lebensverlängerung», sagt Karsten. Dadurch sei die Situation sehr entspannt gewesen. Tineke habe Abschied nehmen können. Im Gegensatz zu Sonja, der älteren Schwester. Die hat den Ernst der Situation ausgeblendet. Das sei schade gewesen, die Gespräche und die Auseinandersetzung hätten gefehlt. Karsten: «Ich redete viel, tauschte mich aus mit ihr. Vor schwierigen Fragen habe ich keine Angst. Also redeten wir offen. Fragte ich direkt, gab sie klare Antworten. Aber es äusserte sich eine starke eigene Sicht der Dinge, einiges wollte sie nicht sehen, drückte es weg. Sie redete – und zwar bis hierhin! – und nicht weiter.»
Karstens älteste Schwester hinterliess fünf unvorbereitete Kinder. «Die nagen und ringen mit diesem Schicksal», sagt Karsten. «Sie waren Teenager, werden erst in diesen Jahren volljährig. Fehlt die Gesprächskultur in der Familie, müssen wohl einige Dinge erst viel später aufgearbeitet werden.»
Die jüngere Schwester, Tineke, redete über alles. «Sie sensibilisierte uns», sagt Karsten. «Ging ganz bewusst mit dem Thema Krebs um, und so blieb uns nichts anderes übrig, als das ebenfalls ganz normal zu sehen.» Sie hätte Anteil genommen an seinem Leben. Sei, obwohl schon dem Tod geweiht, extra in die Schweiz gereist, zur Foto-Ausstellung ihres Bruders. «Eine schöne Begegnung». Karsten lacht. «Wie sagte einst Martin Buber. ‹Alles wirkliche Leben ist Begegnung.›» Er legt eine Pause ein, sagt dann. «Es geht nicht um Dinge, sondern um Menschen und um die Zeit, die ich mit ihnen verbringen kann.»
Zeit verbringen. Karsten sagt, nach dem Tod seiner ersten Schwester, habe er gemerkt, «ich verbrachte zu wenig Zeit mit ihr». Das passierte ihm bei seiner jüngeren Schwester nicht: «Da setzte ich bewusst Zeit ein, und Tineke ebenfalls. Das erfüllt mich mit Dankbarkeit.»
«Am Schluss stehen alle auf demselben Parkplatz»
Nun frage ich ganz direkt, was der Gedanke an die letzte selbstbestimmte Lebensphase mit Karsten machen würde. Frage, machts dir Angst? Fürchtest du dich vor dem Sterben? Der Angesprochene lächelt. «Nein», sagt er bestimmt. «Im Moment gluschtet es mich nicht. Ich lebe gerne, möchte noch einiges erleben. Angst vor dem Tod habe ich nicht. Ich denke, er gehört zum Leben. Ich sehe das pragmatisch. Nicht philosophisch.»
Karsten Risseeuw: Was machts mit dir, wenn ich dir sagte, du würdest heute Nacht still und friedlich einschlafen, sterben. Ohne Ängste, ohne Schmerzen.
Karsten: Ich würde den Nachmittag noch auskosten, aber den geniesse ich ebenfalls ohne deine Mitteilung. Ich will und mache das, soweit es geht. Das im Hier und Jetzt leben.
Wie antwortest du, wenn ich frage: Gibts ein Leben nach dem Sterben?
Nach dem Sterben ist man primär tot. Und nach dem Tod gibt es eine Auferstehung, das ist die biblische Erwartung. Und nach der Auferstehung gibts ein Leben. Daran glaube ich, beweisen kann ich das nicht.» Er lacht. Sagt: «Nach dem Leben ist man tot und dann stehen alle Toten auf demselben Parkplatz.»
Text: Martin Schuppli/Fotos: Eddy Risch
Karsten Risseeuw, Jahrgang 1961. Wanderer zwischen verschiedenen Welten (Niederlande, Schweiz, Israel).
Er betreibt zwei Webseiten. karstenrisseeuw.ch zum Thema Fotografie. Meine Bilder zeigen eine Art der Beziehung. Manche ohne Menschen abzubilden.
Bei der Website zur Theologie kernbeisser.ch geht es viel um Fragen zum Thema Tod und letzte Dinge, und um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Menschsein und Christsein