Viele Menschen werden aufs Alter schweigsamer. Die letzte Lebensphase macht sie stiller. Sie ziehen sich eher zurück. Aber gerade in diesen Lebensmomenten ist es wichtig, zu reden. Zu reden über die Wünsche, die jemand noch ans Leben hat. Über Werte. Vorstellungen. Über Ängste.
In einem Gespräch mit DeinAdieu riet der Zürcher Palliativmediziner und Geriater Roland Kunz seinen Arztkollegen und Arztkolleginnen, den Pflegenden in Spitälern, Heimen und Institutionen: «Fragt die Patienten, die Patientinnen: ‹Was ist Ihr Ziel?›».
Kathrin Rauchenstein lächelt, sagt: «Sie wissen, ich und mein Team, wir machen das konsequent. Bereits im Engelhof in Altendorf wusste ich von praktisch allen Bewohnerinnen und Bewohnern, was ihr Ziel ist. Welches ihre Wünsche sind für die Wegstrecke vor der letzten Reise. Heute, im Abegg-Huus, machen wir das genau gleich.»
Kathrin Rauchenstein, jetzt Geschäftsführerin des Alters- und Pflegeheims im Rüschlikon ZH, ist ständig im Gespräch. Wo und wann immer möglich, redet sie mit den Menschen. Hier ein kurzes Wortspiel, dort eine Frage und hüben eine Antwort. Die Bewohner, Bewohnerinnen strahlen.
Frau Rauchenstein: Wie thematisieren Sie und Ihr Team im Heim den Tod und das Sterben? Die letzte Lebensphase?
Kathrin Rauchenstein: Der Tod und die Begleitung in der letzten Lebensphase, das Aushalten von schwierigen Situationen sowie das Loslassen sind immer wieder Themen, die uns im Alltag begegnen und beschäftigen.
Sprechen Sie, spricht Ihr Team die Menschen aktiv an oder warten Sie, bis jemand um Rat oder Hilfe sucht?
Die letzte Lebensphase, der Tod, das Sterben, das Leben retten, pflegen und gepflegt werden, über all diese Themen reden wir beim Eintritt. Dann erfahren wir, ob jemand eine Patientenverfügung hat, einen letzten Willen, ob klare Vorstellungen vorhanden sind.
Für dieses Gespräch braucht es Fingerspitzengefühl. Kathrin Rauchenstein hat es, lebt es ihren Mitarbeitenden, Pflegenden vor.
Mit Frau R. redet die Geschäftsführerin regelmässig über den Tod. Sie weiss, dass die alte Dame ernsthaft über das Lebensende nachdenkt, es selbst bestimmen möchte. «Wir sprechen es an», sagt die Pflegefachfrau mit HF-Abschluss. «Allerdings nur, wenn wir spüren, dass es ein Bedürfnis ist. Allgegenwärtig sind diese Themen nicht.»
Für Kathrin Rauchenstein, die Geschäftsführerin des Abegg-Huus, ist es wichtig, «dass wir, die Gesellschaft, die alten Menschen ernst nehmen. Alt sein heisst nicht, dass wir für sie entscheiden müssen.»
Halten Sie Ihre Bewohnenden an, eine Patientenverfügung zu machen? Beraten Sie sie dabei? Oder machen das Externe? Die Angehörigen?
Wir sind sehr froh, wenn eine Bewohnerin, ein Bewohner bereits eine Patientenverfügung ausgefüllt hat, dies erspart unnötige Diskussionen und/oder ungewollte Einweisungen ins Spital. Wir beraten und klären die Leute auf. Sagen, was möglich ist. Das Ausfüllen der Patientenverfügung ist nicht unsere Aufgabe, sondern die der Angehörigen oder des Beistands, der Beiständin.
Das selbstbestimmte Lebensende wird für ältere Menschen immer wichtiger. Wie lange können Sie Bewohnerinnen, Bewohner im Abegg-Huus behalten, wann müssen sie in ein Pflegeheim?
Bei uns bleiben die Bewohner, Bewohnerinnen bis zum Tod. Wir können fast alle medizinischen Verrichtungen gewährleisten. Somit ist fast nie eine Verlegung aus medizinischer Sicht nötig.
Wie weit können Sie eine palliative Behandlung garantieren? Was ist bei der palliativen Betreuung im Heim besonders wichtig? Erhalten die sterbenden Menschen ein Einzelzimmer?
Wir engagieren uns stark in der Palliative Care, ich habe die Höhere Fachausbildung absolviert. Ebenso verfügen einige Mitarbeitende über eine Ausbildung im Bereich Palliative Care. Wichtig ist die Vertrauensbasis. Bewohner und Angehörige wissen, dass wir uns gut in Palliative Care auskennen. Wenn immer möglich, bekommen sterbende Menschen ein Einzelzimmer.
Wie weit binden Sie Angehörige in die Betreuung Sterbender mit ein? Oder Freiwillige, Begleitende?
Wir machen das so weit, wie es die Angehörigen wünschen. Manchmal muss man den Sterbenden vor übereifriger und gutgemeinter «Rundumbetreuung» schützen. Ein sterbender Mensch braucht seine ruhigen Zeiten, um das Anstehende mit sich selber auszumachen. Wenn nötig und gewünscht, können wir auf ein Netz von Freiwilligen zählen.
Wenn jemand Sterbefasten möchte, also freiwillig verzichtet auf Nahrung und Flüssigkeit, FVNF, wie gehen Sie und Ihr Team dann vor?
Diese Art des Sterbens braucht sehr viel Willenskraft und einen sehr starken Sterbewunsch. Ich habe es bisher nur in einem Fall erlebt. Wenn jemand auf diese Art von der Welt gehen möchte, akzeptieren wir das.
Eine Belastung für das Team?
Sicher, dann gilt es ebenso, das Team gut zu begleiten. Autonomie ist ein Leitgedanke in unserem Haus.
Was ist, wenn jemand den Wunsch äussert, mit Exit zu sterben? Wie reagieren Sie, wie reagiert das Team?
Das hatten wir noch nie im Abegg-Huus. Grundsätzlich ist es möglich, die Bedingungen dafür sind festgelegt. Wenn immer möglich versuchen wir, unsere Bewohnerinnen und Bewohner palliativ zu begleiten. Das hat erste Priorität.
Ist jemand verstorben, informieren Sie andere Bewohnende, Zimmernachbarn und so weiter?
Wenn jemand stirbt, teilen wir dies mit, machen einen Todesanzeige am Anschlagbrett, legen Blumen auf, ein Foto sowie eine Karte zum Unterschreiben.
Würden Sie im Falle eines Suizids etwas darüber sagen?
Ich weiss es nicht … so aus dem Bauch heraus … nein, ich würde das unerwähnt lassen. Wir sagen ja bei «normalen» Todesfällen ebenfalls nicht, was genau die Ursache war.
Brauchen die Pflegenden, die Betreuenden besondere Unterstützung, um mit dem selbstbestimmten Sterben umgehen zu können?
Ja, das denke ich schon. Wir haben eine Beziehung zu unseren Bewohnerinnen, Bewohnern. Wenn sie sterben, uns verlassen, tut das weh. Je nach dem, was passierte, kann der Gedanke des «Versagens» aufkommen. Vielleicht fragt sich eine Pflegende, habe ich den nun Stillgewordenen zu wenig gut betreut, ihn zu wenig aufgeklärt.
Hier sieht Geschäftsleiterin Kathrin Rauchenstein eine ihrer wichtigsten Führungsaufgaben: «Ich muss die Mitarbeitenden aller Abteilungen beobachten, begleiten und wenn nötig das Gespräch suchen. Ihnen helfen, Erlebtes zu verarbeiten».
Anneliese Hotz fühlt sich wohl im Altersheim
Die putzmuntere ältere Dame wurde im Februar 1931 geboren und lebt seit Oktober 2016 im Abegg-Huus.
«Angemeldet habe ich mich bereits 2006», erzählt Anneliese Hotz. «Jetzt fühle ich mich wohl. Hier kenne ich viele Leute, schliesslich lebe ich schon 62 Jahre in Rüschlikon.» Die 86-Jährige ist eine Frühaufsteherin. Heute ist sie seit morgens um fünf Uhr auf den Beinen. Freimütig erzählt sie von ihrem Tagesablauf:
«Zuerst mache ich das Bett. Ohne zu betten, gehe ich nicht aus dem Haus. Vorher absolviere ich meine Turnübungen, dann gehe ich mich waschen, ziehe mich an und verlasse das Haus für einen halbstündigen Spaziergang. Wenn ich dann zurück bin, öffne ich die Rollläden im Speisesaal.
Um viertel vor acht sitze ich am Tisch. Immer in der Ecke, vis-à-vis. einer Mitbewohnerin. Hier im Abegg-Huus haben wir ein super Zmorge-Buffett. Es gibt Käse und Fleisch, Confi und Müesli, Früchte und Joghurt. Alles, was der Bauch begehrt. Am Freitag besuche ich die Andacht. Das gefällt mir, sie ist ökumenisch. Wenn ich kann, helfe ich.
Wenn mich was bedrückt, dann rede ich mit Frau Rauchenstein. Das können wir alle gut mit ihr. Sie nimmt sich Zeit, versteht mich und weiss immer einen Weg. Oft mache ich nach dem Essen einen Power-Nap, also ein Nickerchen. Ich bin zufrieden, wenn ich so weiterleben kann.»
Das Gespräch mit Kathrin Rauchenstein fand im Provisorium des Abegg-Huus am Bahnhof Rüschlikon statt. Der zweistöckige Bau birgt 29 Zimmer, Esssaal, Büros sowie alle nötigen Service- und Technikräume. Derzeit entsteht an der Alten Landstrasse ein neues Alters- und Pflegeheim. «Dort bieten wir dann 54 Plätze an. Alle Zimmer verfügen über mindestens ein Fenster mit Seesicht. Das Haus erhält ein grosszügiges Restaurant. Dort will Geschäftsführerin Rauchenstein ein eigentliches Begegnungszentrum schaffen: «Hier sollen Alt und Jung aufeinandertreffen. Sie sollen im selben Raum essen, Kaffee trinken, Kuchen essen. Lesen und schwatzen.» Das Abegg-Huus hat dann, wenn es 2018 eröffnet wird, 25 Plätze mehr. «Die müssen dann alle belegt sein», sagt die einfühlsame Heimleiterin. Der Autor muss schmunzeln und sagt. «Wenn ich mir hier die zufriedenen Menschen anschaue, die entspannte Stimmung erlebe, dann sind die Plätze weg, bevor das Gebäude eröffnet ist. Wetten?»
Text: Martin Schuppli/Foto: Paolo Foschini
WILLKOMMEN IN DER STIFTUNG ABEGG HUUS
Im Jahr 1975 wurde aus dem Nachlass des Landwirts Jakob Abegg und mit finanzieller Beteiligung der Gemeinde Rüschlikon eine Stiftung gegründet mit dem Zweck, auf dem vermachten Grundstück ein Wohnheim für Betagte zu planen, zu bauen und zu betreiben. 1978 wurde das Abegg-Huus eröffnet.
Stiftung Abegg-Huus
Bahnhofstrasse 56
8803 Rüschlikon
T. +41 44 704 61 71
info@abegghuus.ch | www.abegghuus.ch