Lieber sterben als nichts fühlen

Als sich die monatelange Traurigkeit in eine innere Leere umwandelte, beschloss Sophia*, sich das Leben zu nehmen. Heute ist sie froh, dass ihr Suizidversuch durch einen Zufall misslang.

Mai 2010: Sophia erwacht aus dem künstlichen Koma. Verwirrt darüber, noch am Leben zu sein, blickt sie in zwei traurige Augen. Es sind die Augen ihrer Mutter. Durch den lang anhaltenden, intensiven Blick kann Sophia deuten, wie sie traurig und hilflos ist – gesagt hat ihre Mutter aber nichts. Über Gefühle zu sprechen, gehört genauso wenig zu ihren Stärken, wie sie zu zeigen.

Neun Jahre nach ihrem Selbstmordversuch sitzt die 24-jährige Sophia auf der Couch in ihrer ersten eigenen Wohnung im Kanton Aargau. Es komme ihr vor, als wäre noch nicht so viel Zeit vergangen seit diesem einen Tag. Sie erinnere sich noch genau an dieses Gefühl der Einsamkeit und an die Leere, die sich in ihrem Kopf, ihrem Herzen und in ihrem Körper befand. Sie war nicht wütend oder traurig, sondern leer. Es sei kein Hilfeschrei gewesen, wie es bei Suizidversuchen öfters der Fall ist. «Ich wollte lieber gehen, als nichts zu sein», sagt Sophia. Zwei Jahre zuvor hat sie um Zuwendung gekämpft, indem sie sich ritzte und ihrer Familie immer wieder sagte, es gehe ihr nicht gut. «Reiss dich zusammen», habe es immer nur geheissen. Solange, bis sie aufgab. Etwa einen Monat vor dem geplanten Suizid hat sie angefangen, allen vorzuspielen, sie fühle sich prima.

Suizidversuch misslungen, Sophia
Es geht aufwärts: «Ich distanziere mich von jedem und allem, was mich runterzieht. Das Leben ist phasenweise immer noch ermüdend für mich. Mittlerweile bin ich aber froh, dass ich noch am Leben bin.» (Foto: Peter Lauth)

Ein Zufall rettete ihr das Leben

Als die damals 15-Jährige eines Nachmittages alleine zu Hause ist, weiss sie, dass sie es tun wird. Sie entschied sich, mit einer Spritze Morphium die unerträgliche Leere zu beenden. Das Medikament hatte sie von ihrer Mutter, die es krankheitsbedingt schon länger genommen hat. Durch ihre begonnene Ausbildung als Fachfrau Gesundheit weiss sie, wie mit der Spritze umzugehen ist. Dass der Versuch missglückte, lag nicht an einer Falschdosierung: «Meine Mutter hat an diesem Tag ihr Portemonnaie zu Hause vergessen, deshalb kehrte sie zurück, und ich bin noch am Leben.»

Als der Krankenwagen kommt, ist sie schon längst ohnmächtig. Ihr Körper ist voll vom stark wirkenden Opiat. Sie muss für eine Woche in ein künstliches Koma versetzt werden, damit sich ihr Körper erholen kann. «Ich habe mir nie überlegt, was passieren würde, wenn es nicht funktioniert», sagt Sophia. Die Zeit danach war alles andere als angenehm. Sie muss ihre Ausbildung abbrechen, wird zwangseingewiesen. «Das Schlimmste war, alle schauten sie mich komisch an», sagt Sophia. Ob die neun Monate in der Psychiatrie ihr geholfen haben, kann sie heute nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantworten. Die Gespräche mit den Therapeuten hätten ihr nicht geholfen. Ebensowenig die Medikamente. Sie wären nur eine Behandlung der Symptome gewesen: «Das Antidepressivum machte mich dick, gefühllos und vergesslich», sagt Sophia. Immerhin haben ihr die Mitklienten gezeigt, sie sei nicht die Einzige, der es schlecht gehe. Auch der strikte Tagesablauf habe ihr gutgetan.

Suizidversuch Sophia mit Michelle Zingg
Sophia: «Ich habe mir nie überlegt, was passieren würde, wenn mein Suizid nicht funktioniert.» (Foto: Peter Lauth)

Leben nach dem Suizidversuch

Die eigentliche Therapie begann erst mit der Entlassung. Ohne Ausbildung und mit sehr viel weniger Kollegen stand sie da. Wie sie ein geregeltes Leben führt, hat ihr niemand gezeigt. Ihre grösste Herausforderung war es, sich selber lieben und respektieren zu lernen. Sie begann eine neue Ausbildung und suchte sich neue Hobbys. Mit Salsa tanzen fand sie einen Weg, wie sie sich glücklich fühlen kann. Bis heute tanzt sie leidenschaftlich und hat dadurch an Selbstbewusstsein gewonnen. Sophia bezeichnet sich erst seit ungefähr einem Jahr als einigermassen stabil. Durch den Auszug aus dem Elternhaus, einer festen Partnerschaft und einen guten Job in der Pharmaindustrie hat sie sich ein Leben erarbeitet, das sie gerne lebt.

«Ich werde nie mehr probieren, mich umzubringen», sagt sie überzeugt. Das sei aber nicht so zu verstehen, dass sie der glücklichste Mensch auf Erden sei. Die Redewendung «Was einen nicht umbringt, macht einen stärker», hält sie für unsinnig. Ihr Selbstmordversuch hat vieles kaputt gemacht, und sie wurde noch sensibler als zuvor. Allerdings hat sie gelernt, mit ihren negativen Gefühlen umzugehen, wenn diese sie wieder einmal einnehmen. Ablenkung sei das beste und natürlich sei ein angemessenes Umfeld ebenfalls von wichtiger Bedeutung. «Ich distanziere mich von jedem und allem, was mich runterzieht. Das Leben ist phasenweise immer noch ermüdend für mich. Ich bin mittlerweile aber froh, dass ich noch am Leben bin.»

Text: Michelle Christen, Fotos: Peter Lauth

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