Hier möchte ich Kind sein. Durch den Garten gurgelt ein munteres Bächlein, in der Wiese steht ein violetter Zirkuswagen und daneben weiden Esel. Der Himmel ist weit. Mein Blick schweift über Wälder, Äcker und Felder, bleibt an prächtigen Berner Bauernhäusern hängen und kehrt zurück zur schmucken Häusergruppe.
In dieser ländlichen Idylle, wo nur jede Stunde ein Postauto ins nahe Hindelbank oder nach Bolligen fährt, leben Franziska und ihr Partner mit den Kindern, nennen wir sie Leo* und Mara*. Die aufgestellte Hebamme empfängt uns zum Gespräch. Wir wollen darüber reden, was es mit einer Mutter macht, wenn sie ihr verstorbenes Kindlein in der 16. Woche still gebären muss.
Franziska Thomet ist Hebamme. Kennt sich aus in der Welt rund um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Wir schwatzen im grossen Wohnraum im oberen Stock. Franziska hält die vier Monate alte Mara im Arm, schaukelt etwas hin und her in der Hängematte. Die Kleine weint, hat wohl Hunger. Kein Problem, Mama hat Verpflegung dabei.
Als Hebamme nahe bei den Menschen sein
Ich beginne unser Gespräch mit der Roger-Schawinski-Frage: Franziska, wer bist du? Die 35-Jährige lacht. «Ich bin Franziska und wuchs sehr ländlich auf mit drei Jahre älteren Zwillingsbrüdern. Wir wohnten in einem 110-Seelen-Dorf.» Der Vater habe als Informatiker gearbeitete, die Mutter hätte sich als Familienfrau in Haus und Garten engagiert, sagt mein fröhliches Gegenüber. «Die ersten drei Lebensjahre verbrachte ich auf dem Bauernhof, immer hielten wir Tiere. Leben und Sterben waren omnipräsent.»
Als 5.-Klass-Schülerin wollte sie die Gymiprüfung machen, später Biologie studieren. Aber der Weg in die höhere Schule wäre zu weit gewesen. «Und überhaupt», sagt Franziska, «die Eltern fanden das zu früh.» So lernte sie nach der Bez. Drogistin. «Wir stellten Naturheilmittel her. Sammelten Blumen und Kräuter, zerstampften und zerquetschen sie im Mörser, machten Auszüge, mischten Salben.» Sie legt eine Pause ein, büschelt die kleine Mara etwas zurecht, zupft am Pulli. Dann sagt sie: «Mir gefiel der Kontakt zu den Kunden, Kundinnen. Ich machte umfassende Beratungen, lernte viel über Homöopathie und Phytotherapie. Da reifte der Wunsch, Hebamme zu lernen, nahe bei den Menschen, den Frauen zu sein, sie zu begleiten und zu betreuen.»
2008, als Franziska 22 Jahre alt war, brach das Reisefieber aus: Ihre Brüder waren nach Australien gereist, die Eltern plagte ebenfalls dann und wann das Fernweh. Und Franziska musste, wollte sie Hebamme werden, die Berufsmatur machen, musste Englisch lernen. Das machte sie in Boston. «Eine tolle Zeit in der ich sehr viele Leute kennen lernte. Ich reiste alleine nach Japan, nach Südkorea und besuchte Leute.»
Leo kam nach problemloser Schwangerschaft zur Welt
Um Spanisch zu lernen, reiste Franziska in die ecuadorianische Hauptstadt Quito, 2850 m ü.M. Sie bereiste Bolivien, Chile und sagt: «Das würde ich heute nicht mehr alleine machen. Damals war ich jung und unbelastet. Ich hatte noch keine Kinder, trug für niemanden Verantwortung.» Sie schweigt kurz, streichelt Mara und sagt dann: «Ich hatte nie Angst und es passierte mir nichts. Gut möglich, dass ich etwas naiv unterwegs war.» Sie lacht. «Und so schnell reisen, würde ich ebenfalls nicht mehr.»
Es sei immer ihr Traum gewesen, in einem Entwicklungsprojekt zu arbeiten. Das hätte sich Franziskas Partner ebenfalls vorstellen können. Am Ende ihrer Ausbildung reisten die beiden für zwei Monate nach Äthiopien, «wo wir Land und Leute kennen lernten», sagt Franziska. «Danach zogen wir zusammen, wollten später eine Familie gründen.»
Leo kam im Januar 2017 zur Welt. «Ich verbrachte eine unbeschwerte Schwangerschaft, die ersten drei Monate gar ohne Schwierigkeiten. Es war meine professionelle Seite, die über die ‹zwölfte Woche› nachdachte. Denn eine meiner Freundinnen verlor ihr Kind in der sechsten Woche», sagt Franziska. «Aber ich spürte mein Bébé, es gab dem Leben einen Rhythmus. Die Geburt erlebten mein Partner und ich als grosses Wunder.»
Der Wunsch nach einem zweiten Kind reifte im Jahr 2019. Franziska wurde Ende Jahr schwanger. Anfänglich lief alles nach Plan. Die werdende Mutter erlebte die ersten Wochen ohne Probleme. «Vielleicht war mir etwas mehr schlecht als bei Leo.» Die erste Kontrolle wäre in der zwölften Woche nötig gewesen, aber der Termin zögerte sich etwas hinaus. «Für mich als Hebamme kein Problem», sagt Franziska.
Riesenschock nach Routineuntersuch
Alleine sei sie in die Praxis zum Frauenarzt gefahren. Unbeschwert. Sie habe gedacht, das sei eine Routine-Untersuchung. Dann der Riesenschock. Auf dem Ultraschallbild konnten Arzt und Hebamme keine Lebenszeichen entdecken. Das Kind im Bauch war tot. Vielleicht schon seit einigen Wochen. Ein Riesenschock. Franziska wusste nicht, wie ihr geschah. «Mein Körper hatte mich ausgetrickst. Mich, die Hebamme. Ich wusste nicht weiter. Mein Gynäkologe sagte, es gäbe zwei Möglichkeiten: Operation oder ‹stille Geburt›.»
Franziska kontaktierte sofort Anne Siegenthaler von der Fachstelle kindsverlust.ch. Sie hätte sie durch die Schwangerschaft begleiten sollen. Die Hebamme riet ihrer Berufskollegin, erstmal nichts zu tun. Sie habe gesagt, du musst nicht aktiv werden. Franziska setzte Naturheilmittel ein, liess sich Akupunkturnadeln stechen, rieb ihren Bauch mit Wehenöl ein und wartete. «Für mich, für uns, war es gut, warten zu können. Ich wusste, jetzt kann ich den nächsten Schritt tun, kann den Zeitpunkt der stillen Geburt festlegen.»
Verdrängen funktioniert nicht
Manchmal habe sie gedacht, ich mache gar nichts. Dann habe sie sich überlegt, was geschehen würde, wenn sie beim Poschte Blutungen bekomme. «Ich fragte mich, was kommt auf mich zu, kann ichs umgehen, und ich wusste, niemand kann es mir abnehmen.»
Sie habe Momente erlebt, wo sie gespürt habe, sie könnte die Gedanken an das verstorbene Kind in ihrem Leib verdrängen. Könnte einfach nicht wahrhaben wollen, dass es tot sei, sagt Franziska und schüttelt den Kopf. «Ich wusste genau, das geht nicht.»
Lovis Himmelstag: Zwei Tage nach Franziskas Geburtstag
Vor der bevorstehenden stillen Geburt wollte Franziska mit einer Kollegin Geburtstag feiern. «Ich kommunizierte, vielleicht kann ich nicht dabei sein.» Zwei Tage nach diesem Fest hat Franziska die Medikamente genommen. Alle seien zu Hause gewesen, sagt sie. Leo hätte im Mittagsschlaf gelegen, als das Bébé gekommen sei.
«Ich wollte das Kind anschauen», sagt Franziska. «Es war nur drei Zentimeter gross. Wir konnten seine Fingerchen sehen, seine Füsschen, sein kleines Gesicht, alles war schon dran.» Wir schweigen betroffen, sehen uns die Fotos an im Album.
«Ich habe das Gefühl, Lovis sei eine weibliche Seele»
Der zweijährige Leo war informiert, wusste, dass sein Geschwisterchen still auf die Welt kommen würde. «Wir redeten darüber, hatten auf Spaziergängen Sächelchen gesucht, die wir dann ins kleine blaue Holzsärgli legten, das der Vater angemalt hatte. So konnte Leo ebenfalls trauern um das Bébé, das wir Lovis tauften.» Ob es ein Bub oder ein Mädchen geworden wäre, weiss niemand. «Ich habe das Gefühl, Lovis sei eine weibliche Seele», sagt Franziska und lächelt.
Sie redete über ihren Verlust und trauerte sehr. «Ich konnte das Kindchen nie stillen, konnte es nie wickeln, nie in den Armen halten, nie in den Schlaf wiegen und nie seine Tränen trocknen.» Damals sei sie sich nicht bewusst gewesen, ob und wann sie nochmals ein Kind wolle. «Es war schwierig. Ich wusste nicht, ob ich mich noch einmal drauf einlassen sollte.»
Franziska Thomet liegt viel daran, zu sagen, wie froh sie gewesen sei, dass sie von Anne so gut betreut wurde. «Viele Frauen, viele Paare stehen eine stille Geburt alleine durch. Ich konnte mir ebenfalls lange nicht vorstellen, dass ich diesen unbeschreiblichen Verlust-Schmerz jemals überwinden werde.»
Nach der Routineuntersuchung waren die Ängste weg
Lovis beerdigte Franziska mit ihrem Partner und mit Leo am errechneten Geburtstermin im August 2019. «Wir fanden im Napfgebiet eine Linde, wo wir es bestatteten. Die Aussicht ist wunderschön, der Platz optimal», sagt Franziska. «Nun waren wir bereit für ein weiteres Kind.»
Im Frühjahr 2020 habe sie geahnt, dass sie wieder schwanger sei. «Nach dem positiven Test beschlich mich die Angst, und es folgten schwierige Wochen.» Dann, an einem wunderschönen Freitag im Mai 2020, wars soweit. Ihr Partner begleitete Franziska zum Gynäkologen, der den Zwölf-Wochen-Schall durchführen sollte. «Wir wollten wissen, ob das Bébé noch lebt. Mehr nicht», sagt Franziska und lacht. «Der Arzt kannte meine Geschichte. Während er den Ultraschall machte, hatte ich megastarkes Herzklopfen. Dann war klar zu sehen: Das Bébé lebt. Es war alles so, wie es gemäss Schwangerschaftswoche sein müsste.»
Erst jetzt hatten die Gedanken Platz an eine Familie zu viert. Alle Ängste seien wie weggeblasen gewesen. Nicht einmal ein Sturz der Hochschwangeren auf den Bauch hatte Folgen.
Lovis stieg wie eine Seifenblase hoch in den Himmel
Mara kam am Sonntag, 15. November, im Spital Burgdorf zur Welt. Anne habe sie betreut vor und nach der Geburt. «Ich war überglücklich, freute mich sehr darauf, die kleine Mara zu halten, sie zu stillen, zu trösten und sie in den Schlaf zu wiegen.»
Für Bébé Lovis haben Franziska und ihr Partner ein Album gemacht. Das verstorbene Geschwisterchen ist für Leo ebenso präsent. Findet er etwas Hübsches auf dem Spaziergang, sagt er, das sei für Lovis. Für Franziska ist klar: «Ich habe drei Kinder – nur sage ich das nicht immer. Denn das stösst teils auf Unverständnis.»
Und, frage ich meine Gesprächspartnerin, wo denkst du, ist Lovis jetzt? «Für Leo ist das Bébé im Himmel, es stieg wie eine Seifenblase hoch hinaus.»
*Namen der Kinder sind geändert
Text Martin Schuppli, Fotos: Ueli Hiltpold