Dieses Interview in der Mathilde-Escher-Stiftung beschäftigte mich schon Tage vor dem Termin. Ich weiss, ich treffe den 48-jährigen Marc. Er lebt seit Jahren in der Mathilde Escher Stiftung. Wie geht es ihm, frage ich mich. Wie ist er zwäg? Ist er traurig, gar vom Leben enttäuscht? Ich war verunsichert und wurde subito eines Besseren belehrt.
Mit einem mächtigen Gefährt rollt Marc ins Büro von Lukas Fischer, dem Leiter der Kommunikation und der Grafikwerkstatt in der Stiftung. Marc wendet seinen Elektro-Rollstuhl praktisch an Ort, parkiert neben der Zimmerlinde und lächelt uns an. Ich lächle zurück – hinter der Maske.
Marc trägt verwaschene Jeans und einen blauen Pulli. Am linken Ohr glänzt ein unauffälliger Ring, seine Haare sind silbrig-grau, ebenso sein dünner Bart. Auf meine Fragen gibt er leise Antworten, macht Pausen. Ich bemühe mich, trotz Maske deutlich zu sprechen.
Er wäre sechs Jahre alt gewesen, erzählt er, als seine Eltern mit ihm ins Kantonsspital Aarau gefahren seien, und dort habe er eine Muskelbiopsie über sich ergehen lassen müssen. Danach sei klar gewesen, das Kind litt an einer neuromuskulären Erkrankung. «Diese führen oft zu körperlichen Einschränkungen und verkürzter Lebenserwartung.»
«Früher besuchte ich fast jedes ZSC-Heimspiel»
Die häufigste neuromuskuläre Krankheit bei Kindern ist die Muskeldystrophie Duchenne. Einer von 3500 Knaben ist von dieser Krankheit betroffen. Die Mathilde Escher Stiftung ist seit vielen Jahren auf die Betreuung von Menschen mit Muskeldystrophie Typ Duchenne spezialisiert.
Marc ist einer der ältesten Menschen auf der Welt mit dieser terminalen Muskelerkrankung. Er lebt seit 30 Jahre in der Mathilde-Escher-Stiftung und musste sich schon einige Male von liebgewordenen Kollegen verabschieden.
Was machte das mit dir? «Wenn’s ein guter Kollege war», sagt Marc, «traure ich. Und dann ist es vorbei. Den Schmerz auf die Seite zu schieben, ist nicht gut. Also bin ich eine Zeit lang traurig, dann geht das Leben weiter. Immer weiter.»
Er sagt das leise und bedächtig. Ein Lächeln umspielt seine Lippen. Ich möchte wissen, wie und wo er sich Lebensfreude und Zuversicht holt? Und Marcs Antwort verblüfft mich nicht. «Die Mathilde Escher Stiftung gibt mir die Kraft, um im Leben zu stehen. Und das gibt mir Zuversicht.» Er legt eine Pause ein. Sagt: «Ich mache nicht mehr so viel wie früher, hörte 2003 mit Schaffen auf. Mein Cousin und ich machten die Buchhaltung für Kollegen, die ein Geschäft eröffnet hatten. Einen ‹Lade zum Läbe›. Sie verkauften Bioprodukte und Shishas. Davor arbeitete ich im Bürozentrum der Mathilde Escher Stiftung, erledigte grafische Arbeiten.»
Marc ist ein grosser Hockeyfan. «Es gab Zeiten, da besuchte ich praktisch jedes Heimspiel des ZSC. An Auswärtsspiele fuhr ich ebenfalls mit.» Der Mann strahlt. Begeistert erzählt er, wie der ‹Zett› gegen Zug einmal 0:4 im Rückstand gelegen und schlussendlich noch 6:4 gewonnen habe. «Oder letztes Jahr erlebte ich das erste Spiel ZSC gegen Davos. Wir gewannen 6:2. Das war deftig. Die ganze Villa kam an den Match. Es war eine Riesengaudi.»
Marc spielte in Australien an der Powerchair-Hockey-WM
Der 48-Jährige schwärmt nicht nur fürs Hockey. Nein, er spielte das schnelle Spiel jahrelang mit seinem Elektrorollstuhl. «Die Faszination für diesen Sport packte mich 1988 beim Schnuppern in der Kaserne Zürich, wo die Mathilde Escher Stiftung während eines Umbaus provisorisch untergebracht war. Anfänglich hätten sie mit den normalen Rollstühlen gespielt. Sportrollstühle habe es nicht mal im Ausland gegeben. «Den ersten habe ich in Deutschland gesehen. Da sass eine Frau drin. Und so begannen wir zu basteln. Der Hausmeister machte uns spezielle Schaufeln aus Metall. Dann und wann musste er unsere Rollstühle flicken, weil in harten Zweikämpfen durchaus mal die Fussbretter zersplitterten oder die Scharniere kaputt gingen.»
Die Hockey-Leidenschaft brachte Marc 1991 bis nach Australien, wo er mit der Schweizer Nati teilnahm an der Elektro-Rollstuhl-Hockey-WM in Brisbane. «Wir waren sieben Spieler und gleich viele Betreuungspersonen. Ein super Erlebnis, diese zwei Wochen in Downunder.» Marc strahlt. Nach der Rückkehr sei er glücklich in seinem Bett gelegen und hätte die Tage Revue passieren lassen. «Ich reiste quasi von Goldküste zu Goldküste, sah Schlangen, Koalas und Känguruhs, lernte coole Menschen kennen.» Sportlich wars ebenso ein Erfolg. Die Schweizer platzierten sich auf dem vierten Platz an dieser Powerchair-Hockey-WM. Marc sagt, er sei während der Aktivzeit ein gefürchteter Stürmer gewesen.» Er lacht und sagt, Stürze hätten ebenso zum Geschäft gehört.
«Ich möchte unbedingt einmal auf den Üetliberg»
Unsere Gesprächszeit geht zu Ende. Ich frage Marc, was er sich wünsche, welche Pläne und Projekte er habe. Es ist still im Raum. Der Mann denkt lange nach. «Gesund bleiben möchte ich und einmal auf den Üetliberg fahren. Da war ich noch nie.» Er lacht und sagt, er wünsche sich raschmöglichst eine Impfung gegen das Covid-19-Virus. Dann würde er ein Cüpli trinken oder ein Glas Wein. Auf Joe Biden konnte er ja glücklicherweise bereits anstossen.
Letzte Frage. «Marc, du bist der Älteste hier in der Stiftung, hast du Angst vor dem Tod?» Er sagt: «Manchmal denke ich daran. Denke, es könnte jederzeit vorbei sein.» Dann schweigt er, nickt uns zu.
Wir verabschieden uns. Ich lege meine Hände vor der Brust zusammen und verneige mich leicht. Bedanke mich. Marc startete sein Gefährt, kurvt um den Fotografen, fährt an der Zimmerlinde vorbei hinaus in den Gang. Fröhliche Stimmung herrscht. Zuversicht und Gelassenheit.
Lukas Fischer arbeitet seit 17 Jahren in der Mathilde Escher Stiftung: «Nach wie vor ist es für mich jeden Tag faszinierend, wenn ich sehe, wie die Leute hier am Leben hängen. Wie fröhlich sie sind.» (Foto: Paolo Foschini)
«Die Leute hängen am Leben, das fasziniert mich»
Ich spreche Lukas Fischer auf die heitere Atmosphäre an. Erwartete ich doch beim Betreten des Hauses Leid und Trauer anzutreffen. Das Gegenteil war der Fall. Zuversicht und Lebensfreuden herrscht. Der Leiter Kommunikation in der Mathilde Escher Stiftung lacht mich an: «Vor 17 Jahren schnupperte ich, Quereinsteiger im Sozialbereich, in der Stiftung. Alles war neu. Der Umgang mit Menschen, die via Maske beatmet wurden. Ich spürte, Schläuche und Maschinen spielen keine Rolle, will ich einem Menschen empathisch begegnen. Nach wie vor ist es für mich jeden Tag faszinierend, wenn ich sehe, wie die Leute hier am Leben hängen. Wie fröhlich sie sind. Das packte mich, und ich bin stolz, dabei sein zu können.»
Lukas Fischer ist 55 Jahre alt und hat mit seiner Partnerin zwei Kinder. «Ich lernte die verschiedensten Berufe kennen, wusste lange nicht, was tun. Im Glarner Krauchtal war ich zwei Sommer als Alphirt tätig. Versorgte 150 Kühe, produzierte Ziger. Ich studierte Wirtschaft, arbeitete als Lektor im PR-Bereich bei Konrad Toenz und führte Behindertentransporte durch. Dabei lernte ich Marcs Cousin kennen, den ich öfter aus dem Ausgang zurück in die Mathilde Escher Stiftung brachte. So lag es auf der Hand, dass ich mich für das Sozialarbeits-Studium um einen Ausbildungsplatz in der Stiftung bemühte.»
In der Mathilde Escher Stiftung wohnen, lernen und arbeiten derzeit rund 70 Menschen mit starken körperlichen Einschränkungen. Zwei Drittel davon sind Männer, die an Duchenne leiden. Ihre Krankheit ist terminal. Wie geht Lukas Fischer damit um, wenn Menschen sterben, die von ihm, vom Team betreut worden sind?
Er schaut mich an, sagt: «Es wird nicht einfacher. Mittlerweile sterben Leute, die kenne ich seit 17 Jahren. Das bewegt mich, ich musste auch schon weinen, muss es zu Hause erzählen. Ich erlebe dann einen Trauerprozess, mal intensiver, mal weniger intensiv.»
«Mit Spenden finanzieren wir Freizeitaktivitäten»
Die Endlichkeit ihres Lebens sei bei den Bewohnern, den Bewohnerinnen in der Mathilde Escher Stiftung nicht Dauerthema. Lukas Fischer: «Zuversichtlich sind sie. Wir unterstützen sie in ihren Projekten, unternehmen coole Reisen mit den Leuten, wobei der Impuls von ihnen kommt. Sie benötigen kein Animationsprogramm, es gibt wenige organisierte Freizeitaktivitäten.» Diese sind aber aufwändig. Oft braucht es Eins-zu-eins-Betreuung. Tickets, Unterkunft, Mahlzeiten: Alles kostet doppelt.
Sechs bis zwölf Bewohnerinnen, Bewohner bilden eine Gruppe. Im Durchschnitt ist für drei Personen ein Betreuer oder eine Betreuerin nötig, und das rund um die Uhr. Oft braucht es zwei Betreuende für eine Person, zum Beispiel beim Aufnehmen oder Ins-Bett-Gehen. Ein grosser Aufwand. Wie generiert die Mathilde Escher Stiftung die benötigten Finanzen, möchte ich von Lukas Fischer wissen.
Grundsätzlich zahle die öffentliche Hand, die Kantone, die Schulgemeinden, die IV. Für die Reisen, für Freizeitaktivitäten usw. sind Spenden unerlässlich.
Für den Umgang mit Menschen mit Muskelkranken wünscht er sich von uns, von der Gesellschaft, eine möglichst barrierefreie Welt. Eine Arbeitswelt ohne Hindernisse. «Es reicht nicht, wenn wir sagen, unsere Stellen stehen auch Menschen mit Behinderungen offen.» Der engagierte Sozialpädagoge unterstreicht seine Worte mit klaren Gesten. «Es muss umgekehrt sein», sagt er. «Wir haben Menschen und schaffen für sie Arbeitsplätze. So funktioniert es in geschützten Werkstätten, und so sollte es auch im freien Arbeitsmarkt ermöglicht werden. Schliesslich wollen alle arbeiten gehen. Wollen ihre Fähigkeiten nutzen, das sehe ich jeden Tag. Sie alle können produktiv arbeiten.» Lukas Fischer erinnert ans vorherige Gespräch mit Marc. «Er hatte Glück, dass seine Kollegen im ‹Lade zum Läbe› eine Stelle auf ihn zuschnitten. So konnte er drei Jahre im regulären Arbeitsmarkt arbeiten.»
Zum Schluss des Treffens trinken wir Café im Aufenthaltsraum. Im Gang ertönen fröhliche Stimmen. Elektrorollstühle sausen vorbei. Jugendliche spielen, diskutieren, hören Musik. Eine intakte Welt, die ich hier erlebe. Heiter und positiv. Darauf angesprochen, sagt Lukas Fischer. «Barrieren können von beiden Seiten geöffnet werden. Wir sollten von beiden Seiten neugierig aufeinander zugehen, aufeinander zurollen.»
Wir lachen unter Masken, verabschieden uns mit Ellenbogen-Knuff. Herzlich. Ich bin tief beeindruckt.
Text: Martin Schuppli, Fotos: Paolo Foschini
2 Antworten auf „«Marc, deine Zuversicht gibt mir Kraft fürs Leben»“
Obwohl ich Marc schon lange kenne, hat das Interview mit ihm auch mich tief beeindruckt. Grosses Kompliment an Martin Schuppli für den packenden und treffenden Text und Paolo Foschini für die berührenden Fotos.
Der Dank, lieber Lukas und lieber Marc, gebührt euch. Ich bin beeindruckt, wie Marc sein Leben meistert und wie du lieber Lukas, eine coole emphatische Stimmung verbreitest. Umärmel.