Kommt ein Kind auf die Welt, liegen Leben und Sterben nahe beieinander. Egal ob in einer hypermodernen Entbindungsklinik, einem Geburtenhaus, einem Schlafzimmer, einer Wellblechbaracke oder wo immer Kinder zur Welt kommen. Monique Ruckstuhl-Créteur* arbeitete über 35 Jahre als Hebamme: «In Marokko und in der Schweiz half ich mit, mehr als 3500 Kindern zur Welt zu bringen. Natürlich überlebten die meisten Babys, kamen gesund und munter zur Welt. Ihre Mütter überstanden sowohl die Schwangerschaft wie auch die Geburt. Die Entstehung menschlichen Lebens ist schliesslich das Normalste auf der Welt.»
In Marokko das Handwerk gelernt
Kindern auf die Welt zu helfen, Müttern die Geburt zu erleichtern, faszinierte Monique Ruckstuhl schon als junge Frau. Deshalb lernte sie dieses uralte Handwerk. Allerdings war ihr dann das «gemütliche» Klinikleben im Limmatalspital in Schlieren als junge Hebamme fast es «bitzeli» zu wenig interessant. Sie bewarb sich für einen Job als Geburtshelferin in Casablanca, Marokko. «Am dortigen Universitätsspital sahen pro Tag gegen 50 Kinder das Licht der Welt. Ich half auch bei Hausgeburten im Armenviertel. Dabei erlebte ich Situationen, die wir hier nur aus dem Schulbuch kennen. In Marokko sammelte ich viele Erfahrungen, verfeinerte das eigentliche Handwerk der Geburtshilfe. In Casablance brachte ich als 36jährige gegen Ende der Schicht in der Klinik des Electriciens, meine Tochter zur Welt. Kurz darauf begann ich wieder zu arbeiten.»
Die Hebamme erlebte, wie wichtig im Maghreb die Familie für eine Gebärende ist. Irgendjemand in ihrem Clan hat bestimmt schon Kinder geboren, Kinder gesäugt, gepflegt und auch beklagt. «Bei uns holt sich eine Frau Hilfe bei der Hebamme, bei der Mütterberatung, beim Kinderarzt oder im Spital. In den Maghreb-Staaten ist dieses Wissen in den Familien verankert. Und es wird laufend weitergegeben.»
Kindstod: In der Schweiz starben 2014 pro 1000 Geburten knapp vier Kinder
So wie die Geburt etwas ganz Natürliches ist, so natürlich ist auch der Tod. «Starb bei der Geburt ein Kind oder gar die Mutter, wurde das beklagt, gleichzeitig aber wars ein Segen für die Familie. Denn der Prophet sagt: ‹Eine Frau, die durch das Kind in ihrem Bauch getötet wird, erhält das Märtyrertum und ihr Kind wird sie an seiner Nabelschnur zum Paradies ziehen.› Weil ich da Zweifel äusserte, bezeichneten mich die Kolleginnen als Heidin.»
Nach zwei Jahren verliess Monique Ruckstuhl das nordafrikanische Land wieder. Sie bewarb sich für eine Stelle am Bezirksspital Affoltern am Albis, wo sie dann 28 Jahre lang bis zur Pensionierung arbeitete.
Auch wenn es selten vorkommt, manchmal wird es totenstill nach einer Geburt. Denn wo krähendes Lebend erwacht, stirbt dann und wann auch leise ein Kind. Monique Ruckstuhl hat das einige Male erlebt. «Vor 40 Jahren hatten Kinder unter 1000 Gramm keine Überlebenschance. Waren sie schwerer, legten wir sie in den Brutkasten.»
Ab welcher Woche ist ein Kind ein Kind?
Und wenn es einen natürlichen Abort gibt, eine Frau ihr Kind verliert, ab wann, ab welcher Woche ist ein Kind, überhaupt ein Kind? Monique Ruckstuhls Gesicht umwölkt eine gewisse Traurigkeit. «So nach zwölf Wochen erkennt man das Menschlein, ab der 16. Woche sind die Organe voll ausgebildet.»
Für den Gesetzgeber ist die 22. Schwangerschaftswoche entscheidend:
Ein Kind, das nach der 22. Schwangerschaftswoche tot zur Welt kommt, ist nach Schweizer Gesetz meldepflichtig. Das heisst, seine Geburt und sein Tod werden auf dem Zivilstandsamt registriert. Diese Meldung machen in der Regel die Spitäler direkt. Ein meldepflichtiges Kind hat Anrecht auf eine Bestattung.
Kommt ein Kind vor der 22. Schwangerschaftswoche zur Welt, spricht man von einer Fehlgeburt und das Kind ist nach Gesetz nicht meldepflichtig. Vielen Eltern ist es ein grosses Anliegen, dass ihr so früh geborenes und verstorbenes Kind trotzdem im Familienbüchlein eingetragen wird. Einige Zivilstandsämter handhaben das sehr unbürokratisch und gehen auf diesen Wunsch der Eltern ein. Ein nicht meldepflichtiges Kind hat laut Gesetz kein Anrecht auf eine Bestattung. Auf vielen Schweizer Friedhöfen gibt es jedoch inzwischen Grabfelder für nicht meldepflichtige Kinder, so dass Eltern auch ihre ganz kleinen Babys würdevoll bestatten können.
Stirbt ein Kind bei der Geburt, hinterlässt es eine grosse Leere. Monique Ruckstuhl: «Wir hinterfragten dann alles. Das sind schwierige Momente. Oft, oder meistens, findet man keine Ursachen. Selten erlebte ich Schuldzuweisungen oder gar einen Angriff auf meine Person.»
Kindstod: «Warum gerade unser Kind?»
Monique Ruckstuhl wurde in solchen Momenten natürlich auch mit der Frage konfrontiert: «Warum gerade unser Kind?». Die pensionierte Hebamme seufzt: «Darauf weiss niemand eine Antwort. Mir blieb oft nichts andres übrig, als mit den Eltern zu weinen, eine Mutter, einen Vater in den Arm zu nehmen. Und wenn die Eltern es wünschten, sie danach in ihrer Trauer zu begleiten.»
Schwierig ist es, wenn ein Kind im Leib der Mutter stirbt, und sie es zur Welt bringen muss. «In solchen Fällen ist die Gebärmutter zu klein, um das Kind operativ zu entnehmen. Die Frau muss das Kind vaginal gebären. Wir können ihr soviel Schmerzmittel geben wie nötig, die Gebärende muss aber bei Bewusstsein bleiben.»
«Ein totes Kind zu gebären ist wichtig, um die Trauer zu verarbeiten»
Ist das nicht grausam? Monique Ruckstuhl nickt, sagt: «Sie trägt dieses tote Kindlein in sich, deshalb muss sie es bewusst abgeben. Und damit dieser Tod kein Loch hinterlässt in ihrem Leben, finde ich es wichtig, dass die Eltern so ein totes Kind anschauen, es berühren. Meiner Meinung nach ist nur dann ein endgültiger Abschied möglich.»
In solchen Momenten soll niemand Schuldgefühle entwickeln, soll niemand Schuldzuweisungen machen. Oft findet man die Ursachen so eines Schicksalsschlages nicht. «In jedem Fall sind Gespräche wichtig, Betroffene sollten viel reden miteinander, die Trauer gemeinsam bewältigen.»
Wie gehen Aussenstehende mit dem Wissen um, diese Frau hat ein Kind verloren. «Egal, ob sie es vor der Geburt, oder nach der Geburt verloren hat, rate ich, diesen Verlust anzusprechen, Anteil zu nehmen, Trost zu spenden. Und dieses Anteilnehmen soll kein mitleiden sein, sondern ein mitfühlen. Das hilft Betroffenen.»
Monique Ruckstuhl war viele Jahre am Bezirksspital Affoltern am Albis angestellt. «Dort erarbeiteten wir ein Konzept, wie umgehen mit dem Sterben? Wie umgehen mit Hiobsbotschaften? Hiobsbotschaften, die bei Voruntersuchungen zu Tage treten.»
Eltern müssen wissen, was tun, wenn ein Kind behindert ist
«Natürlich sind gerade Ultraschalluntersuchungen wichtig und heute Goldstandard. Das ist ja gut und recht, so lange alles im Bauch der Mutter normal ist», sagt Monique Ruckstuhl. «Aber was ist, wenn ein Kind behindert ist? Das sind Tabuthemen. Dabei sollten sich Eltern im Klaren sein, was sie in solchen Momenten unternehmen wollen. Soll die Mutter ein behindertes Kind austragen oder soll sie es abtreiben lassen? Diese und ähnliche Fragen sollten Gynäkologinnen und Eltern unbedingt vor den Tests besprechen.»
Und wieder einmal ist der Autor bei einem Gespräch über Leben und Sterben an einem entscheidenden Punkt angelangt: Wir müssen Reden. Müssen über den Tod, über eine mögliche Behinderung sprechen. Nur so verliert das Sterben den Schrecken. Nur so wird der Tod zu einer Realität, die zum Leben gehört.
Text: Martin Schuppli/Foto: Regula Zellweger
*Warum DeinAdieu Monique Ruckstuhl-Créteur zu diesem Gespräch bat, hat folgenden Grund. «Schwester Monique» half entscheidend mit, dass im November 1984 die Zwillingstöchter des Autors im Spital Affoltern a/A durch eine natürliche Geburt auf die Welt kamen. Gesund und munter. «Es war ein wunderschöner Moment», sagten wir 31 Jahre später zueinander.
2 Antworten auf „«Eine Geburt ist das Normalste auf der Welt»“
Vor vier Jahren muss es ungefähr gewesen sein. Monique Ruckstuhl-Créteur feierte im Spital Affoltern am Albis ihren Ausstand. Zufällig hörte ich davon und liess mich überreden, ebenfalls mit Monique anzustossen. Als ich den Speisesaal betrat dreht sich Monique um und rief erfreut: «Da kommt mein Lieblingsvater». Ich schwörs, wir hatten uns bestimmt 26 Jahre nicht gesehen und bei der Zwillingsgeburt fiel ich auch nicht in Ohnmacht. Darum: «Monique, du bist meine Lieblingshebamme. Danke für alles.»