«Nach Evas Tod lag mein zukünftiges Leben in Scherben»

Verlässt jemand freiwillig diese Welt, bleiben Trauernde zurück, Angehörige, Freunde, Bekannte. Sie fragen: «Warum?». Das kann zerstörerische Folgen zeigen. Christian Eggenberger erzählt, wie er nach dem Suizid seiner Frau lernen musste, mit Schwächen und Stärken umzugehen. Wie er lernen musste, sich und diesen Lebensplan zu akzeptieren.

Vorwort. Den Anruf des Freundes nahm ich in Korfu entgegen. Christian war erstaunt, mich so weit weg zu wissen. «Egal», sagte er. «Ich wollte dir sagen, du kannst Evas Geschichte schreiben.» Nun war ich es, der sich setzen musste. Der selbstgewählte Tod seiner Frau beschäftigt mich seit gut zwölf Jahren. Warum jetzt darüber reden, fragte ich. Jetzt, nach 31 Jahren? «Es ist Neugier und Zwang», sagte er. «Selbstauferlegt. Ich möchte wissen, was das Gespräch mit mir macht. Die Zeit ist reif.»

Es ist der Griff einer Verzweifelten. Der Griff zum Kinder-Springseil. An diesem Samstag. Am 10. Oktober 1987. Ein wunderprächtiger Föhntag mit heftigem Wind. «Schmerzhaft schön wars», sagt Christian fast auf den Tag genau 31 Jahre später.

Das späte Morgenessen ist vorbei im Haus auf dem Galgenstutz, einer kleinen Anhöhe mit wenigen Häusern zwischen Tscherlach und Walenstadt. Die Küche ist aufgeräumt, das Geschirr abgewaschen. Die beiden Kinder und Ehemann Christian sind mit Velo und Anhänger bei Freunden am See. Seine Frau Eva, die Mutter der Kinder, bleibt im Haus zurück.

Leise schlagen die Kirchglocken im Städtchen die erste Stunde des Nachmittags. Es ist kurz davor, als die lebensmüde Frau, nennen wir sie Eva, mit dem Springseil ihrer Tochter einen Knoten knüpft und sich auf dem Küchenbalkon das Leben nimmt.

Tage vorher habe sie leer gewirkt, einen stumpfen Blick gehabt. Ihr Ehemann, Christian Eggenberger, sagt: im Nachhinein versuche er Anzeichen für Evas Verzweiflung, für ihre Suizidpläne zu finden. Für ihre Traurigkeit. Ihren Schmerz. Für ihre riesige Wut, die sie perfekt unterdrückte. Es ging ihr nicht gut, trotz regelmässigen Sitzungen bei einem Psychiater. Christian Eggenberger: «Sie fragte auf einer Wanderung am Walenstadtberg, was passierte, wenn sie sich hier in die Tiefe stürzen würde? Einmal wollte sie wissen, was passieren würde, schmisse sie einen Föhn ins Badewasser.» Gegenüber einer Freundin aus Bern soll Eva kurz vor dem Tod gesagt haben, es sei diese Woche, in der sie nur noch auf den Strick warte.

Der Mann schweigt. Er wird oft schweigen an diesem sonnigen Tag im November auf der Schreibterrasse mit Seesicht.

«Wir konnten nicht reden», fährt er fort. «Im Nachhinein mache ich mir ‹Vorwürfe›. Ich bin niemandem gerecht geworden. Weder Eva, den Kindern, ihrer Familie, nicht einmal mir gegenüber wurde ich gerecht. Ich war mit vielem überfordert und beschreibe heute mein damaliges Verhalten als unreif.
Eva und ich hatten ein sehr intensives, erotisches Leben. Aber wir konnten nicht reden, konnten keine Konflikte lösen. Ein Beispiel: Das Knie der sportlichen Eva lotterte. Ich sagte: ‹Lass das machen.› Eine lange Operation und Monate später, lotterte das Knie immer noch. Wer war schuld? Ich. Logisch.»

Diese Episode ereignete sich kurz vor Daniels Geburt, Evas zweitem Kind. Wie gross ihre Freude war, wissen wir nicht. Gross war Evas Leid. «Sie klagte über verlorene Freiheiten und realisierte die drohenden Beschränkungen», sagt Christian Eggenberger. «Nach Daniels Geburt und dem Umzug zurück ins einstige Elternhaus stürzte sie in eine postnatale Depression.»

Christian Eggenberger redet über den Freitod seiner Frau
Der Walensee am Fusse der Churfirsten gilt als Kraftplatz. Für Christian Eggenberger ist das Städtchen zum Ort der Trauer, zum Ort des Schreckens geworden. (Foto: Bruno Torricelli)

«Reden konnten wir nicht so gut»

Eva war die jüngste von sieben Kindern. Intelligent, sprachbegabt, charmant. Eine sehr schöne Frau mit ausdruckstarken Augen. Zur zweitjüngsten Schwester Anna und deren Familie mit drei Mädchen hatte sie ein gutes Verhältnis.

Während vier Jahren arbeitete sie als Stewardess bei der Swissair und zügelte deswegen aus dem Sarganserland nach Effretikon ZH. Die Liebe zu Christian liess Eva 1984 wieder heimkehren nach Walenstadt. Sie hörte auf mit dem Fliegen, nahm in Bad Ragaz einen Job an als Chefsekretärin. «Wir hatten sehr gute Zeiten und sehr schwierige. Reden konnten wir nicht so gut. Es fiel uns schwer, unsere Bedürfnisse so richtig zu artikulieren. Eva konnte unerbittlich streiten, sogar handgreiflich werden. Sie blieb unnachgiebig, brachte einen alten Streit in den neuen ein», sagt Christian Eggenberger.

«Tatsache ist, Eva und ich packten grosse Themen nicht an. Wir waren zu wenig mutig, zu wenig erwachsen, um alles auszusprechen», sagt Christian Eggenberger und schildert dramatisch: «Eva wurde sofort unerwartet und ungeschützt von mir schwanger. Während ich in Cambridge Englisch studierte, trieb sie das Kind ab, ohne mich einzuweihen. Sie habe mir den Entscheid abnehmen wollen, sagte sie. Genauso, wie sie es bereits bei einem früheren Freund getan habe. Ich war schockiert und hilflos, die Beziehung war bereits gewaltig gerissen. Wir waren mundtot, hatten Krach, aber wir redeten nicht.» Geheiratet haben die beiden in der Stadtner Wolfgang-Kapelle. Drei Jahre später, am ersten Oktobersamstag 1984.

«Ich gehörte immer zu den Kleinsten und Jüngsten»

Christian Eggenberger kam an einem Sonntag in Wattwil SG zur Welt. Es schneite an diesem 27. November 1949. Später zügelte die Familie nach St. Gallen. Die Gallus-Stadt sollte ihm bis Ende seines Sekundarlehrerstudiums Heimat bleiben. «Ich bin das dritte von vier Kindern, unser Vater rauchte sich zu Tode. Wir führten ein sparsames Leben im eigenen Haus. Rückblickend wars ein anstrengendes und belastetes Aufwachsen. Ich war etwas mollig, gehörte immer zu den Jüngsten und Kleinsten meiner Klasse. Anerkennung erwarb ich mir durch Leistung, das galt vor allem für die Kanti-Zeit. Ich war ein Schwärmer. Verliebte mich hundertmal. Meist blieb mein zaghaftes Werben aber einseitig.»

So wars wohl ebenfalls während der Beziehung mit Eva. «Ich erlebte im Herbst 81, während unserer ersten Zeit, in der ich aber in England studierte, eine schwärmerische Liaison», sagt Christian Eggenberger. «Schmeichelhaft wars. Mehr nicht.» Aber Eva bekam das später mit. «Sie schlug drein, schmiss Dinge, hatte stärkste Emotionen. Unsere Kräche waren extrem. Wir liebten, und wir hassten uns.»

Christian Eggenberger redet über den Freitod seiner Frau
Christian Eggenberger am Seeufer in Walenstadt. «Nach Evas Tod war ich für viele der Alleinschuldige.» (Foto: Bruno Torricelli)

In Evas Elternhaus gezügelt – auf den Galgenstutz

Es war just an Sandras zweitem Geburtstag, am Mittwoch, 18. März 1987, als die vier Eggenbergers in Evas Elternhaus auf dem Galgenstutz zügelten.

«Wir hatten es umgebaut. Zuunterst gabs eine Einlieger-Wohnung für Evas Mutter», sagt Christian. Ohne innere Türe nach oben. Das hatte Vor- und Nachteile. Die Grossmutter, Mutter, Schwiegermutter wohnte ganz nah. Es entwickelte sich eine starke Belastung für die Hausgemeinschaft, denn Sandra war ein lautes Kind, sie weinte oft, schrie nerven- und herzzerreissend. Das holte die Grossmutter auf den Plan. Sie rief die Treppe hinauf und beschuldigte mich, Übergriffe gemacht zu haben.»

Die angespannte Lage im Elternhaus belastete Eva zusehends. Sie hatte ihre Stelle in Bad Ragaz vor Daniels Geburt aufgegeben und wünschte sich erst recht, wieder zu fliegen. Wollte wieder als umschwärmte Stewardess um die Welt jetten, wollte ihre Freiheit zurückhaben. Aber es geschah das Gegenteil: Im Elternhaus kehrte sie zurück zu ihren Wurzeln, sie fühlte sich eingeengt, für Jahre angebunden. Sie konnte die Anforderungen und Belastungen nicht mehr ertragen. Sie konnte sich nicht einmal abgrenzen im Haus, ihre Mutter war so nah. Zu einer Freundin sagte sie: «Ich kann ihn überall riechen, den Vater.» Der ehemalige Gemeindeammann war nach langer Krankheit zu Hause im Herrenzimmer gestorben. Eva war damals 15 Jahre alt.

Von Evas Freitod erfuhr ich vor ungefähr zwölf Jahren. Mich beschäftigte, an welchem Ort dieser Selbstmord geschehen war. Der Galgenstutz. 1798 vollstreckte hier der Scharfrichter das letzte Todesurteil. Christian Eggenberger sagt: «Galgenstutz empfand ich zunächst als spannenden Namen. Für mich wars ein wunderschöner Ort mit viel Natur, Weinbergen, Blick übers Land und den See.»

Christian Eggenberger redet über den Freitod seiner Frau
Christian Eggenberger spaziert am Ufer des Walensees. «Nach Evas Tod kreisten meine Gedanken immer um die gleichen Themen. Ich lebte in einem Zustand, wo alle meinten, sie müssten mich therapieren.» (Foto: Bruno Torricelli)

«Eva Freitod war der schlimmste Tag meines Lebens»

Kehren wir zurück zu diesem föhnigen Herbsttag, dem 10. Oktober 1987. «Eva schickte uns an den See. ‹Ich komme nach›, rief sie.» Christian Eggenberger packte die beiden Kinder in den Anhänger und fuhr mit dem Velo zu Freunden. Als Eva zur verabredeten Zeit nicht auftauchte, rief er an. Niemand nahm das Telefon ab. «Da fuhr ich zurück, betrat das unverschlossene Haus. Totenstille, trotz Durchzug und schlagender Balkontüre. Ich rief nach Eva und trat hinaus. Da hing sie – an Sandras Springseil. Gestreifte Hosen trug sie und einen Pulli.»

Christian Eggenberger verstummt. Wir blicken beide ins Leere. Schweigen. Dann redet er weiter. Seine Stimme stockt.

«Ich sah alles ganz klar. Sofort. Mein zukünftiges Leben lag in Scherben. Dieser Suizid würde mein Leben bestimmen, das meiner Kinder erst recht. Eva war schneeweiss. Wie ich sie herunter hob und auf den Boden legte, weiss ich nicht mehr. Dann setzte ich mich zu ihr und heulte. Telefonierte meinem Freund unten am See. Ich sagte, ‹Setz dich. Jetzt kommt etwas Schreckliches›. Was dann geschah, weiss ich nicht mehr im Detail. Der gewaltige Schock, die verhüllenden und schützenden Nebel der vergangenen 31 Jahre. Die Polizei kam, der Staatsanwalt, der Arzt. Und just als meine Mutter Stunden später eilig das Haus betrat, trugen sie  Eva hinaus. Sie habe friedlich ausgesehen, erfuhr ich von ihr später.

Die Mutter bekam nichts mit vom Freitod der Tochter

Von all dem Trubel, dem Kommen und Gehen, dem Schmerz, der Trauer soll Evas Mutter einen Stock tiefer nichts mitbekommen haben. Christian brachte es nicht übers Herz, ihr diese Hiobsbotschaft mitzuteilen. Später am Nachmittag habe ihr dann der Pfarrer die schlimme Nachricht überbracht.

Die folgenden Tage verbrachte der Witwer mit den beiden kleinen Kindern wie in Watte verpackt. «Wir verschickten Leidzirkulare, organisierten die Abdankung. Zum Glück waren Herbstferien. Freunde unterstützten mich. Für die Kinder sorgten die beiden Grossmütter. Und ich, ich war einmal mehr abhängig. Ein hartes Los, das mich noch oft bedrücken würde.

Vor der Obduktion musste Christian Eggenberger seine Frau identifizieren: «Ein schrecklicher Moment. Das Würgemal am Hals war knallrot und deutlich zu sehen. Grässlich.»

Die reformierte Kirche war voll bei Evas Abdankung.  Viele Leute kondolierten. Gleichzeitig gaben sie dem verwitweten Mann zu spüren, was sie von ihm hielten. «Für viele war ich der Alleinschuldige. Die Vorwürfe aus der Gerüchteküche waren happig und verletzend», sagt Christian Eggenberger.

Christian Eggenberger (.) redet mit DeinAdieu-Autor Martin Schuppli über den Freitod.
Gespräch unter Freunden. Christian Eggenberger (l.) schonte sich nicht und ging auf alle Fragen von DeinAdieu-Autor Martin Schuppli. (Foto: Bruno Torricelli)

Die Gerüchte im Städtchen verletzten

Er blieb noch 18 Monate im Haus auf dem Galgenstutz. Die beiden Grossmütter kümmerten sich um die Kinder, während er als Lehrer arbeitete. Das Springseil hatte die Polizei mitgenommen. Der Witwer demontierte die Haken der Schaukel auf dem Balkon: «Meine Gedanken kreisten immer um die gleichen Themen. Ich lebte in einem Zustand, wo alle meinten, sie müssten mich therapieren. Ich schlief nur noch schlecht. Hatte oft Nasenbluten. In der Schule war ich zu scheu, um über das Erlebte zu reden. Niemand sprach mich an. Vordergründig waren alle freundlich. Courant normal. Aber es gab Konflikte, ich war dünnhäutig. Verteilte dreimal Ohrfeigen. Überfordert war ich. Einmal erhielt der Sohn eines Lehrerkollegen einen Chlapf. Den drei Gedemütigten schrieb ich gut 20 Jahre später einen Brief. Von Hand, bat um Verzeihung.»

Sechs Wochen nach Evas Tod, im Dezember 87, fand der Trauernde Zugang zu einer Prana-Atemtherapie-Gruppe in Zürich. «Ich war total blockiert und sehr froh, dank der behutsamen Begleitung schrittweise über die Geschehnisse sprechen zu können.»

Es kam, wie es kommen musste. Der alleinerziehende Mann verliebte sich in eine Kursteilnehmerin: Nennen wir sie Monika. Sie wohnte in Steckborn am Bodensee. Im Frühjahr 88 lernten die Kinder sie kennen und mochten sie sofort. «Ich hielt die Beziehung einige Monate vor Evas Familie geheim. Zu gross war die Angst vor ihrer Ablehnung und ihrem Unverständnis, dass ich nicht einmal richtig trauern würde …»

Den Sommer-Herbst 1988 erlebten Vater und Kinder bei Monika am Bodensee. «Eine wahnsinnig schöne Zeit.» Ironischerweise lebten in diesem Haus ebenfalls Mutter und Tochter. In zwei Wohnungen. Christian zog also im Juli 89 an einen anderen See und in ein neues Nest. Das brachte dem Alleinerziehenden aber nicht nur Vorteile. «Wie das Leben so spielt, hatten die beiden Frauen ebenfalls ihre Mutter-Tochter-Differenzen. Diese waren Grund für uns, später auszuziehen.

Monika war ein Geschenk des Himmels

Die Kindergärtnerin und Logopädin wurde den Kindern eine echte liebevolle Mutter. «Sie war sehr lieb, aber ebenso klar.», sagt Christian Eggenberger. «Sandra und Daniel setzte sie Grenzen. Die Kinder lieben sie. Heute noch. Für sie ist Monika ihre Mama.»

Die damals dreijährige Sandra verlangte viel Aufmerksamkeit und Zuwendung. Das erschwerte das Familienleben. Monika war Ersatzmutter – und Therapeutin für Vater und Tochter.» So schaffte es Christian zu wenig, mir ihr auf Augenhöhe zu leben. «Ich war abhängig von ihrem Verständnis, ihrem grossen Einsatz. Von ihrer Betreuung.»

Christian Eggenberger redet über den Freitod seiner Frau
Christian Eggenberger: «Dieses Städtchen war und ist mein Ort der Trauer. Hier werde ich mit meinem Unvermögen konfrontiert. Mit dem härtesten Hick meines Lebens sowie seinen Auswirkungen.» (Foto: Bruno Torricelli)

«Ich musste lernen, anderen in die Augen zu schauen»

Erneut schweigen wir. Blicken hinüber auf die Gipfel, Hügel und Matten der Flumserberge, auf den Sächsmoor und den Mürtschenstock. Ich weiss, wie die Geschichte weitergeht. Für meinen Freund wird das Erzählen nun nicht einfach.

Christian und Monika heirateten 1989 in Steckborn. Ein strahlender Herbsttag wars. Das Glück leider nicht perfekt. «Meine Situation war gar nicht bereinigt. Wieder stand ich in der Schuld von Frauen: bei Monika und ihrer Mutter. Zudem trat ich einen neuen Job an in St. Gallen an der Gewerbeschule. Erneut war ich alleine mit meinen psychischen Schwierigkeiten, meinen Alltagskrämpfen. Oft war ich ausser mir, war jähzornig und unbeherrscht. Sehr viel hatte ich noch nicht verarbeitet, und ich lud viel ab bei Monika. Gleichzeitig besuchte ich regelmässig die wöchentlichen Meetings und halbjährlichen Ausbildungswochen in der Therapiegruppe. Ich lernte sehr viel Neues. Ich musste lernen, mich zu akzeptieren wie ich bin, mich und meine Geschichte. Ich musste lernen, anderen in die Augen zu schauen. Musste lernen, mit andern zu schweigen, etwas auszuhalten. Ich musste lernen, Schwieriges zu formulieren.

Im Januar 1991 glaubte Christian Eggenberger, beruflich das grosse Los gezogen zu haben. Er wurde an die Sekundarschule in Ermatingen TG gewählt. «Das ging voll in die Hosen. Ich war ein Aussenseiter im 12er-Gremium, reagierte selber ungeschickt. Ob sie von meinem Schicksal wussten, war mir nie klar. Nach fünf Wochen begann das Mobbing, nach neun Wochen wurde ich freigestellt. Im Sommer 92 war ich für vier Monate arbeitslos.»

Der Erzählende lässt seine Worte wirken. Atmet tief durch. Sagt dann: «Ich bildete mir ein, für den Lehrerberuf völlig ungeeignet zu sein. Wer musste mich aushalten, mich therapieren, mich abhören? Monika! Ich war unten, sie war stark. Bei mir lag alles im Keller.» Was folgte, war ein zerhacktes Berufsleben. Was blieb, waren Mängel: «Mir fehlte es an Entscheidungsfreude, an Selbstvertrauen, an Selbstbewusstsein. Ein direktes, offenes und mutiges Kommunizieren hatte ich noch zu wenig gelernt», sagt Christian Eggenberger.

Und es war die Abhängigkeit, die den Mann lähmte: «Die Kinder dominierten das Familienleben, Schulprobleme plagten sie, Monika wollte weg von ihrer Mutter. Zusammen mit ihr baute ich erneut ein Haus um. Mitte 1994 zogen wir ein.»

Dann ereignete sich eine folgenschwere Wiederholung. Christian Eggenberger träumte 1995 von Barbara, die er einst in der Therapiegruppe kennengelernt hatte. Er besuchte sie. «Es knallte», sagt er. «Von null auf hundert. Wahnsinn.»

Über elf Monate führte der heimatlose, schwärmerische Mann eine versteckte, unehrliche Dreiecksbeziehung. «Ich schäme mich noch heute, dass ich nicht offenlegte, mich verliebt zu haben.» Am Mittwoch, 11. September 1996 flog alles auf. Monika zog aus, ein halbes Jahr später wurde die knapp siebenjährige Ehe geschieden.

«Wieder einmal redete ich nicht früh genug. Schaffte keine Klarheit, mutete meiner Frau und den Kindern viel zu viel zu. Eine Charakterschwäche», sagt Christian Eggenberger und schaut mich an. «Und so lief ich im 1997 in die gleiche Schei… Daniel war zehn Jahre alt, Sandra zwölf. Und ich alleine mit ihnen. Ich brachte die Kinder zum Hüten zu Verwandten und Bekannten. Grauenhaft, was ich den Menschen aufbürdete, zumutete. Klar plagte mich das schlechte Gewissen. Andererseits war ich ein Verdränger, lebte recht rücksichtslos.»

Eine wertvolle Weichenstellung gelang dank der klaren Haltung von Barbara. Sie drängte Christian, den Kindern die Wahrheit über den Tod ihrer Mutter zu erzählen.

Die Kinder hielten den Kontakt zu Monika, zur zweiten Mama aufrecht. Sie hingen an ihr. Monika hütete sie sogar, brachte sie in die Kita. Und Evas Schwester Anna engagierte sich ebenfalls. Sie, die dem Mann nun bereits zum zweiten Mal beistand.

Mittlerweile sind über 20 Jahre vergangen. Christian Eggenberger und seine Kinder verstehen sich gut, pflegen engen Kontakt.

Christian Eggenberger redet über den Freitod seiner Frau
Christian Eggenberger oberhalb von Evas Elternhaus: «‹Galgenstutz› empfand ich zunächst als spannenden Namen. Für mich wars ein wunderschöner Ort mit viel Natur, Weinbergen, Blick übers Land und den See.» (Foto: Bruno Torricelli)

«Mein Leben machte mich zu dem, was ich heute bin»

Mit Barbara erlebt er nun schon 23 Jahre eine tiefe, tragfähige Beziehung. «Wir wohnen nicht zusammen. Sie investierte unendlich viel in unsere Beziehung. Barbara war da, wenn ich, wenn wir sie brauchten. Sie nahm Anteil an meinem Schicksal, sie kennt alle Betroffenen und vor allem kennt sie meine Stärken und Schwächen. Ein grosser Heilungsprozess. Wir begegnen einander auf Augenhöhe und sind füreinander da.» Er hält kurz inne, fährt sich über die Augen und sagt dann: «Dafür bin ich Barbara unendlich dankbar.»
Lange, lange Jahre musste Christian Eggenberger sich Abwertendes anhören: «Den vielen Menschen, die mir beistanden, gab ich erst im Verlauf der letzten Jahre, wann immer sich die Gelegenheit bot, die späte, aber nötige Wertschätzung. Ich bin dankbar und will es benennen.»

Mit Evas Tod ging viel verloren. Beziehungen etwa. Freundschaften. Christian Eggenberger seufzt. Sagt: «Mein ungewohnter Lebensstil und meine Geschichte sind für viele zu schwierig. Meine Biografie ist von Brüchen und Wechseln geprägt. Von Job- und Berufswechseln mit unterschiedlichen Wohnorten und – verschiedenen Partnerinnen.»

Mit Anna, Evas zwölf Jahre älterer Schwester, pflegt der leidenschaftliche Wanderer, Rhetoriker und Zeichner einen freundschaftlich-losen Kontakt. «Sie redet Klartext mit mir und hat zu jeder meiner Frauen eine gute Beziehung entwickelt», sagt er. Dann steht er auf und zeigt hinunter aufs Städtchen. «Walenstadt gabs nicht mehr. In all den Jahren suchte niemand den Kontakt zu mir. Es schien mir, ich sei hier geächtet. Nun bin ich dieses Jahr bereits zum zweiten Mal hier. Das löst etwas aus. Macht den Ort des Schreckens milder. Dieses Städtchen war und ist mein Ort der Trauer. Hier werde ich mit meinem Unvermögen konfrontiert. Mit dem härtesten Hick meines Lebens sowie seinen Auswirkungen. Konfrontiert werde ich ebenfalls mit der Tatsache, dass ich im Sarganserland praktisch mit niemandem Kontakt habe.»

Der 69-Jährige sagt, eigentlich sei er es heute, der den Kontakt zu den Menschen suche. Er wünschte sich, sie würden ihn mehr suchen. Und so fragt er sich: Bin ich zu dominant, bin ich selbstsüchtig, höre ich zu wenig zu, bin ich zu narzisstisch. Oder bin ich etwa zu unsicher, zu wenig klar, zu wenig bezogen auf die anderen.

Christian Eggenberger (.) redet mit DeinAdieu-Autor Martin Schuppli über den Freitod.
Christian Eggenberger (l.) vertraute DeinAdieu-Autor Martin Schuppli seine sehr persönliche Geschichte an. (Foto: Bruno Torricelli)

«Heute lebe ich die Kür meines Lebens»

Er sagt: «In unserem Gespräch heute überwogen die heiteren Momente sowie der Blick auf meine Schwächen. Diese Fokussierung ist einer meiner Charakterzüge. Seit vier Jahren, seit meiner Pensionierung, lebe ich die Kür meines Berufslebens, ich arbeite weiter, so lange möglich. Ich höre zu, gebe viel von meinen Erfahrungen weiter. Ich zeige meine menschlichen Seiten, verfeinere sie.» Wir lachen. Ich sage: «Auf der zehnteiligen Extrovertiertheits-Skala sind wir beide eine 11.» Er nickt. Lacht. Sagt: «Heute stehe ich hier und präsentiere meine Stärken.» «Stimmt», sage ich. Und er: «Es ist eine Stärke, kann ich heute hier sitzen und im übertragenen Sinn die Hosen runterlassen. Es ist ein Teil der Therapie, ich stelle mich diesem Christian Eggenberger und seiner Geschichte.»

Ich frage: Konntest du um Eva trauern?
Christian Eggenberger: Es waren Wellen. Der eigentliche Trauerprozess zog sich jahrelang hin. Der abrupte Schluss unserer Beziehung war ein unendlicher Bruch, tat höllisch weh. Unsere unerfüllten Hoffnungen spürte ich schmerzlich. Eva fehlte mir körperlich und seelisch.

Und die Kinder?
Ständig fragte ich mich: Was kann ich ihnen geben? Ich bin Vater und Mutter in einem. Ich klagte mich selbst an. Glaubte, ich hätte das Leben der Kinder zu stark dominiert. Ich mutete mich den Kindern so zu, wie ich bin.

Was sagtest du, wenn du wüsstest, du würdest heute Nacht friedlich entschlafen?
Ich hatte ein reiches Leben, hatte viel Glück, erhielt grossartige Unterstützung, bin mit reichen Gaben gesegnet. Wohlan, dann wäre es so. Einige wären sehr traurig, ich ein Stück erleichtert, das Leben so abzuschliessen. Ich würde mich freuen, weil ein Haufen glücklicher Momente Platz hatte in meinem Leben.

Fürchtest du dich, zu sterben?
Nein. Alles habe ich geregelt. Grössten Respekt hätte ich vor langem Leiden und damit vor weiterer Abhängigkeit. Zu oft war ich abhängig. Das macht Angst. Trotzdem: Mit Exit habe ich mich nicht befasst. Ich schiebe das weg.

Er schweigt kurz, springt auf, verwirft die Hände und sagt gestenreich: «Ich will auf die Bühne, will Anerkennung. Ich arbeite dem Tod diametral entgegen.»

Sein Auftritt entlockt mir ein Lächeln. Wir umarmen uns.

Text: Martin Schuppli, Fotos: Bruno Torricelli

Christian Eggenberger als GraphicRecorder.
Christian Eggenberger als Graphic Recorder. «Ich protokolliere grössere und kleinere Anlässe live mit Symbolen, Worten und Bildern.» (Foto: zVg).

 Begnadeter Redner
Seit 2010 ist Christian Eggenberger aktiver Toastmaster im Rhetorikklub Zürich und im Rhetorikclub Winterthur. Eben hat er die höchste Anerkennungsstufe DTM erreicht: «Dazu waren viel Arbeit und Einsatz notwendig, Herzblut und Begeisterung genauso. Ich begleite die Kolleginnen und Kollegen aktiv, unterstütze sie darin, Reden zu halten, biete Workshops für begeisternde Auftritte.» Reden hält der Ostschweizer nicht nur auf Deutsch, sondern ebenfalls auf Englisch. Zudem spricht er Spanisch und Französisch.

www.toastmasters.org
www.rczh.ch
www.rhetorikclubwinterthur.ch

Leidenschaftlich unterstützender Trainer
«Als eidg. dipl. Betriebsausbilder und Erwachsenenbildner leite ich Seminare für ‹Erfolgreich Reden und Präsentieren› und moderiere ‹Train the trainer›. Menschen verschiedener Couleur und Herkunft entwickeln da ihre Soft skills, schärfen ihre Wahrnehmung und ihre kommunikativen Fähigkeiten. So gelingen ihnen selbstbewusstere und attraktivere Auftritte im Beruf und zu Hause.»

Christian Eggenberger
eggenberger.steckborn@bluewin.ch
www.innovation-factory.ch

In der Freizeit gestaltet Christian Eggenberger Skulpturen aus Schwemmholz und töpfert Geschirr. «Und wenn kein Schwemmholz mehr rumliegt in einem Flussbett», sagt er lachend, «dann entspanne ich mich beim Bauen von labilen Steinskulpturen.»

4 Antworten auf „«Nach Evas Tod lag mein zukünftiges Leben in Scherben»“

Christine Kaufmann sagt:

Wow, danke für die Offenheit und das Teilen dieser sehr berührenden Lebensgeschichte. Weiterhin viel Kraft.

Maria Racine sagt:

Das braucht Mut, die eigene Geschichte so zu teilen. Bravo.

Raffael sagt:

Hallo Christian
Wie gut verstehe ich dich.
Es sind 16 Jahre vergangen seit meiner Frau freiwillig aus dem Leben gescheitert ist.

Andrea sagt:

Lieber Christian, egal wie sehr man von anderen verurteilt wird: Niemand hat das Recht dazu, weil keiner weiß um die Hintergründe. Weil es die falsche Entscheidung Ihrer Frau war aus dem Leben zu gehen, nicht die Ihrige. Sie waren Teil dieses Schicksals. Aber wir haben immer noch unseren freien Willen, und Gott hilft jedem Menschen der um Hilfe bittet, und wenn man das nicht vermag, kann man Menschen um Hilfe bitten. Das wichtigste ist, dass man sich in der Vergebung übt, sich selbst gegenüber und den anderen. Was man immer übt, darin wird man Meister mit der Zeit. Sich selbst annehmen wie man ist, und für jeden Tag dankbar sein, weil uns jedes Schicksal auch immer die Gelegenheit gibt, ein Stück zu reifen. Gott segne Sie. Von Herzen.

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